Kolonialismus und Holocaust – ein kompliziertes Verhältnis
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In der Debatte um Antisemitismusvorwürfe gegen den Historiker Achille Mbembe spricht sich der Politologe Claus Leggewie für eine Versachlichung aus. Von Zensur und Hexenjagd könne nicht die Rede sein.
Achille Mbembe, anerkannter Historiker aus Kamerun, ist mit seinen Thesen, Texten und Vorträgen weltweit unterwegs und steht seit Wochen im Zentrum einer erhitzten Diskussion. Anlässlich der Einladung an den Historiker, die inzwischen abgesagte Ruhrtriennale mit einem Vortrag zu eröffnen, war es zu scharfer Kritik an seinen Thesen zum Verhältnis von Kolonialismus, Israels Besatzungspolitik, Südafrikas einstiger Rassentrennung und dem Holocaust gekommen. Unter anderem hat sich der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, eingeschaltet. Mbembes Verteidiger sprechen von aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten und wittern Zensur. Worum es da geht, hat unser Redakteur Andreas Baum zusammengefasst:
Es sind vor allem drei Vorwürfe, mit denen Achille Mbembe sich auseinandersetzen muss. Er habe das Existenzrecht Israels bestritten, in seinen Schriften den Holocaust verharmlost und er unterstütze die antizionistische und teilweise antisemitische Kampagne BDS. Letzteres hat Mbembe in unserem Programm bestritten und für sich in Anspruch genommen, in keiner Verbindung zu BDS zu stehen.
Kritik an Mbembes Schriften
Als Relativierung des Holocaust verstehen seine Kritiker vor allem eine Passage in einem knapp zehn Jahre alten Text des Philosophen, in der er die Politik des deutschen NS-Regimes und des Apartheidregimes in Südafrika untersucht. Beide Diktaturen, schreibt er, hätten bestimmte Menschen von anderen getrennt, um sie auszugrenzen oder – im Holocaust – zu ermorden. Allerdings, das stellt Mbembe klar, in ganz anderer Größenordnung und in anderem Kontext.
Weiterhin wird Mbembe die Äußerung zugeschrieben, Israels Politik in den besetzten Gebieten sei eine koloniale Besatzung und schlimmer als die Apartheid in Südafrika. Seine Verteidiger machen geltend, dass ein Vergleich keine Gleichsetzung bedeute. Unter ihnen ist der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik. Er hält Mbembe ausdrücklich nicht für einen Antisemiten und hat ihm mit anderen Wissenschaftlern in einem offenen Brief seine Solidarität ausgesprochen.
Liane von Billerbeck: Zugeschaltet ist jetzt Professor Claus Leggewie, Politikwissenschaftler an der Universität Gießen, Autor zahlreicher Bücher über Europa, die Globalisierung und Protestbewegungen, und mit ihm wollen wir über die laufende Debatte reden und vor allem wissen, warum sie so konfrontativ verläuft. Die Antisemitismusdebatte um Achille Mbembe geht schon seit einigen Wochen. Sie haben sich bislang noch nicht eingeschaltet – was halten Sie denn von Mbembes Thesen und der Kritik daran?
Leggewie: Ich glaube, wir sollten mal ein Gedankenexperiment machen, um die Situation etwas zu entspannen. Der eine Protagonist ist nicht aus Afrika, und der andere Protagonist ist aus Israel und jüdischen Glaubens, sie vertreten aber die genau umgekehrten Positionen. Dann würden wir nicht, wie wir es im Moment tun, den Interpreten mit der Interpretation gleichsetzen, sondern wir könnten über die Sache reden. Das wäre schon mal der erste Schritt.
Es ist immer ganz furchtbar, wenn in der Wissenschaft, in der öffentlichen Debatte, unter Intellektuellen alte Positionen dann einer Person oder einer Gruppe, einem Kollektiv zugerechnet werden, wenn dann auch noch Täter und Opfer miteinander aufgerechnet werden. Das heißt, es geht hier um den Zusammenhang: Wie kompliziert ist der Zusammenhang zwischen Kolonialismus und dem Holocaust?
Einige Passagen bei Mbembe "problematisch"
von Billerbeck: Am Montag haben nun 377 WissenschaftlerInnen und KünstlerInnen aus 30 Ländern ein Schreiben veröffentlicht, in dem sie sich gegen politische Einmischung wehren, die darauf abziele, BefürworterInnen der völkerrechtlich garantierten Rechte von Palästinensern zum Schweigen zu bringen. Ist es in Deutschland denn tatsächlich unmöglich, Israels Palästinenserpolitik zu kritisieren?
Leggewie: Nein, das passiert doch ständig. Das ist ganz furchtbar, wenn jetzt gesagt wird, hier geht es gegen Zensur, hier wird Hexenjagd betrieben. Es gibt einige Passagen in dem Werk von Mbembe, die tatsächlich problematisch sind, darüber muss man reden. Aber so weitgehend, wie er jetzt in diesen Erklärungen und in den Unterschriftenlisten als verfolgt gilt, ist es nun wahrlich nicht.
Wir befinden uns in einer Diskussion, und wir sollten die Sache diskutieren und dabei vermeiden, zwischen den Opfern eines kolonialen Genozids und den Opfern des Holocaust so etwas auftreten zu lassen wie eine Opferhierarchie oder eine Opferkonkurrenz gar anzustacheln.
Ich vertrete das Fach "Vergleichende Politikwissenschaft", und der Vergleich heißt niemals gleichsetzen. Der Vergleich ist im Gegenteil ein richtiges Säurebad gegen Vereinfachungen, und in diesem Säurebad lösen sich dann sehr schnell oft ideologisch begründete, weltanschaulich begründete Gleichsetzungen auf. Deswegen ist das auch ein Königsweg als Methode. Sehr häufig zerfallen dann solche markanten Positionen, wie sie jetzt vertreten werden.
Rückfall in alte Zeiten
von Billerbeck: Aber solche markanten Positionen, die hört man gerade in dieser Debatte ganz oft. Der Afrikawissenschaftler Andreas Eckert hat Anzeichen einer Hexenjagd gegen Mbembe ausgemacht, der Antisemitismusbeauftragte Felix Klein wird auch nicht gerade zimperlich kritisiert. Es gibt auch Forderungen an die Bundesregierung, ihn abzuberufen. Herr Leggewie, warum haben beide Seiten da so viel Schaum vor dem Mund? Warum scheint es da keine Grautöne in dieser Debatte zu geben?
Leggewie: Ja, weil sie politische Anliegen verfolgen. Es ist in der Tat problematisch, wenn für Thesen eines Wissenschaftlers gewissermaßen das Gütesiegel einer Regierung, in diesem Fall eines Antisemitismusbeauftragten, sozusagen notwendig ist, um das gut oder richtig oder falsch zu finden und widerlegbar. Trotz alledem hat Herr Klein ja bestimmte Punkte herausgehoben, die tatsächlich problematisch sind. Und ich fände es gut, wenn wir eine Debatte führen würden, wo A und B teilnehmen und dann tatsächlich die Substanz der Aussagen miteinander abgeglichen werden kann.
Ich möchte noch mal sagen, wir haben es im Moment in der Bundesrepublik und in Europa mit einer Debatte zu tun, erstens über den Kolonialismus, an dem das Deutsche Reich maßgeblich beteiligt war, und auch über postkoloniale Verhältnisse in der Welt. Und wir haben eine Debatte über die Holocaust-Aufarbeitung sozusagen unter neuen Bedingungen heute.
Das führt uns zurück in die 50er-, 60er-Jahre, als dieser Streit bereits aufkam. Bereits damals waren die Dekolonisation Afrikas und die Bewusstwerdung dessen, was die Nationalsozialisten für Verbrechen angerichtet haben – das lief damals schon parallel. Und es gab schon damals einen arabischen Nationalismus, der reklamiert hat, man solle nicht so viel über Israel reden, man solle doch lieber über den Holocaust reden, man solle doch lieber über die Politik Israels reden, und eine Fraktion der Tiersmondisten, der Befürworter der Unabhängigkeit in der Dritten Welt, die gesagt haben, der Holocaust darf nicht so weit in den Vordergrund geschoben werden, wir haben jetzt ganz andere Probleme. Man muss hier trennen.
Übereinstimmungen und Unterschiede
Die Kritik am Kolonialismus ist genauso berechtigt wie die Kritik am Rassismus und am Antisemitismus der Nationalsozialisten. Hier muss man nicht gleichsetzen, sondern hier muss man sehr scharf die Übereinstimmungen oder die Unterschiede herausarbeiten. Das hat übrigens, wenn ich das kurz sagen darf, das hat mit Hannah Arendt bereits in den 50er-Jahren in ihrem Buch über Ursprünge totalitärer Herrschaft begonnen. Auch sie spricht im ersten Kapitel von Imperialismus, von der Burenherrschaft, von Konzentrationslagern.
Das ist das Argument, an das Mbembe eigentlich dann angesetzt hat. Er hat eben auch gesagt, die vollkommene Rechtlosigkeit der Opfer, das ist im Grunde genommen eine Übereinstimmung zwischen dem Kolonialismus auf der einen Seite und dem Antisemitismus auf der anderen Seite.
von Billerbeck: Mbembes Verteidiger sagen auch, es gehe seinen Kritikern darum, ihn als antikoloniale Stimme auszuschalten – so stand es zum Beispiel bei Dominic Johnson in der "taz". Sehen Sie da einen Zusammenhang oder zumindest Reflexe, die sich gegen Mbembe richten, weil eben er es ist, der das ausspricht?
Leggewie: Das mag sein, das mag bei einzelnen Personen, in deren Kopf ich nicht vordringen kann und auch nicht möchte, tatsächlich auch ein Vorurteil beigemischt sein. Aber im Großen und Ganzen ist die Diskussion zu versachlichen. Das heißt, es geht genau nicht um die Person Mbembes, sondern es geht um sein Argument.
Die Postkolonialen, die Vertreter einer postkolonialen Theorie zeichnen sich ähnlich wie die Vertreter des BDS bei Diskussionen ihrerseits nicht dadurch aus, dass sie das Argument der anderen Seite mal gelten lassen, abwägen, miteinander in Beziehung setzen, sondern dass sie strikt ideologische Positionen vertreten.
Hier interferiert sehr stark eine politische Weltanschauung, ein politisches Ziel – beispielsweise dessen, was da mit Israel-Kritik bezeichnet wird – mit Positionen aus der Geschichtswissenschaft, mit wissenschaftlichen Positionen ganz allgemein. Das halte ich für sehr problematisch. Auch die Formulierung Hexenjagd oder man möchte jemanden zensieren, halte ich in dem Fall Mbembe für völlig überzogen. Man übernimmt sozusagen damit den Standpunkt der Opfer, die man angeblich zu verteidigen sucht, und das ist ein bisschen übertrieben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.