Rostocks Oberbürgermeister ist Däne
13:54 Minuten
In Rostocks Rathaus regiert ein gebürtiger Kopenhagener: Seit September ist Claus Ruhe Madsen der erste ausländische Bürgermeister einer deutschen Großstadt. Zuvor war er IHK-Präsident. Nun geht der Neupolitiker betont auf Distanz zur Wirtschaft.
Ein Dienstagmorgen im Rostocker Rathaus. Oberbürgermeister Madsen tritt mit einem fröhlichen "Moin!" ins geräumige Vorzimmer seines Büros und erkundigt sich erst einmal bei seinen beiden Assistentinnen nach der Qualität ihrer Nachtruhe. Er klärt Rücksprachewünsche der Finanz- und Sozialsenatoren, erkundigt sich nach dem Stand seine digitalen Dienstkalenders und bestätigt das kurzerhand über Instagram eingefädelte Treffen mit einem Rostocker Zehntklässler, der ihn am Nachmittag für ein Schulprojekt interviewen darf. Schließlich registriert der ehemalige Möbelhausunternehmer die bereitgelegten Mappen mit den unterschriftsreifen Vorlagen. Claus Ruhe Madsen lächelt verschmitzt.
Stapelweise Akten
"Am stärksten hat mich tatsächlich überrascht die Menge an Papier", sagt Claus Ruhe Madsen. "Auch jede Akte ist hier in einer Mappe. Also das heißt, wir haben unfassbar viele Mappen. Deswegen schleppe ich auch jeden Tag einen Sack Unterlagen mit nach Hause. Zwei, drei Stunden ist nicht ungewöhnlich, aber das ist trotzdem gut für meine Familie, wenn ich dann da bin. Dann sitze ich da an meinem Tisch und das kennen die nicht anders."
Reporterin: "Gelten Sie eher als Aktenfresser?"
"Also ganz sicher nicht als Aktenfresser, aber man kommt nicht drum herum. Allein unser Haushalt hat dreieinhalbtausend Seiten. Unser Medienregelungskonzept hat 120 Seiten. Neulich habe ich eine Info-Vorlage zur e-Akte für den Bürgermeister; die hatte 96 Seiten. Ich unterschreibe auch nichts, was ich nicht gelesen habe. Aber ich bin auch nicht so detailverliebt, dass ich allherrschend alles wissen muss. Im Gegenteil: Ich habe Menschen um mich herum, denen muss ich vertrauen und die müssen gut arbeiten."
Derweil läuft im Vorzimmer die Kaffeemaschine. Ihr Chef – ein Koffeinjunkie?
"Es geht", sagt eine Mitarbeiterin. "Es können schon mal fünf Tassen werden. Aber eigentlich versucht er sich da ein bisschen zurückzuhalten. Er trinkt viel Wasser."
Sagt´s und lässt den zweiten Kaffee laufen – für Pressesprecher und Büroleiter bei der Morgenbesprechung.
Unbeliebter Umzug
Die Themen heute: aktuelle Presseanfragen, Überseehafen, Bundesgartenschau, die künftige Verwaltung der über 100 öffentlichen Sportstätten in Rostock. Dann legt ihm sein Büroleiter ein Schreiben aus dem Hauptamt vor, und der stets locker und humorvoll wirkende Oberbürgermeister? Gar nicht amüsiert.
Es geht um den Stand eines seit langem geplanten Umzuges von rund 70 Angestellten der Stadtverwaltung in ein angemietetes, möbliertes Objekt am Stadtrand. In der Vorlage steht etwas Merkwürdiges über die Möblierung. Aber was der Rathauschef vor allem herausliest, ist eine neue Variante von "Niemand will umziehen, und deshalb mag keiner entscheiden, wen es treffen soll."
"Das ist ein Drama um einen Umzug innerhalb von Rostock! Gestern hat man mir erzählt, das Schlimmste, was man meinen Mitarbeitern in der Verwaltung antun kann, ist ein Umzug."
"Das ist ein Drama um einen Umzug innerhalb von Rostock! Gestern hat man mir erzählt, das Schlimmste, was man meinen Mitarbeitern in der Verwaltung antun kann, ist ein Umzug."
Möbelhaus-Unternehmer im Rathaus
Claus Ruhe Madsen gilt nicht als konfliktscheu, aber er neigt nicht zum Mikromanagen. Er sehe sich als Führungspersönlichkeit, die motiviert, anleitet und über die großen Linien entscheidet. Die Leute, die für die Detailfragen in der Umsetzung zuständig sind, sollen, ja müssen diese dann auch entscheiden, sagt er. In diesem Fall: "Heute noch!"
Zeigt sich hier der hemdsärmelige Möbelhaus-Unternehmer aus Dänemark, der sich in ein kommunales Spitzenamt in Ostdeutschland wählen ließ ohne Gespür für die Menschen und die Abläufe in einem staatlichen Verwaltungsapparat zu haben? Der gebürtige Kopenhagener schüttelt seinen mit modernem Seitenscheitel frisierten Kopf:
"Also ich lebe schon seit über 20 Jahren hier, war sechs Jahre IHK-Präsident. Ich hatte immer viel mit der Stadt und der Verwaltung zu tun. Aber jeder, der nicht in der Verwaltung arbeitet, hat natürlich einen Blick von draußen."
Vertrauen in die Verwaltung
Doch wenn interne Entscheidungsprozesse nur deshalb nicht vorankommen, weil Mitarbeiter sie aus Eigeninteresse blockieren, dann müsse irgendwann der Verwaltungschef auf Problemlösung drängen, sagt Claus Ruhe Madsen. Unbedingt in Schutz nehme er die Kollegen hingegen gegen das weitverbreitete Etikett der "faulen Bürokraten".
"Das eine oder andere Mal hat man vielleicht den Eindruck gehabt: ‚Wieso dauert mein Bauantrag etwas länger?‘ Aber dafür ist das, was umgesetzt wird, dann auch richtig. Es ist geprüft, es ist ordentlich. Es sitzen sehr, sehr viele Experten in den verschiedenen Ämtern. Also es ist nicht so, dass die morgens aufstehen und denken: ‚So, heute ärgern wir mal Bürger!‘ Die stehen schon auf und denken: ‚Heute tu’ ich mein Bestes, damit möglichst viel vom Tisch kommt.‘ Allein in dem Bereich der Stadtplaner liegen heute über 50 B-Pläne (gemeint: Bebauungspläne) in Bearbeitung. Also man hat erstmal von außen das Gefühl, der eigenen B-Plan rutscht nicht nach vorne. Aber man kann auch nicht wissen, wie viele Pläne gerade aktuell bearbeitet werden."
Auf Distanz zur Rostocker Wirtschaft
Manch’ Rostocker – übrigens auch innerhalb der 2.300 Mitarbeiter starken Kernverwaltung – hoffte mit Claus Ruhe Madsen einen neuen Besen mit entsprechend gutem Kehr-Charakter an der Rathausspitze zu haben. Doch bislang fegt der neue Oberbürgermeister eher zögerlich durch. Die gemeine Arbeitsgruppe ist auch bei ihm das bevorzugte Mittel der Wahl, um Veränderungen anzuschieben.
"Okay, dann laufen wir am besten", sagt Claus Ruhe Madsen erfreut, denn jetzt gehen wir erst einmal sieben Minuten straffen Schrittes zum nächsten Außentermin – vorbei am Sitz der Rostocker Industrie- und Handelskammer. Hier fungierte der Däne bis 2019 als IHK-Präsident. Hat die Rostocker Wirtschaft nun über ihn einen besonders kurzen Draht ins Rathaus, wo auch viele wirtschaftsrelevante Fragen entschieden werden?
"Ja, in der Tat habe ich eher die Distanzvariante am Anfang gewählt, weil ich das auch wichtig finde gegenüber den Bürgern, dass sie auch verstehen, dass da eine Distanz ist. Das hat natürlich die IHK am Anfang ein bisschen dazu gebracht zu sagen: ‚Naja, jetzt hätten wir aber erwartet ...‘ und so weiter. Aber ich glaube, alle müssen sich zurechtrütteln. Alle müssen miteinander klarkommen, und die IHK muss verstehen, dass sie nur ein Teil von der Gesamtgesellschaft ist wie alle anderen auch. Und trotzdem haben sie natürlich auch einen kurzen Draht. Das haben aber die meisten. Ich bin sehr bürgernah. Verwaltung, die Firmen, die Bürgerinnen, die Vereine – ich bin für jeden da. Ich arbeite so 12 bis 15 Stunden Arbeit am Tag; mehr geht nicht."
"Welpenschutz" im Stadtparlament
Der 49-Jährige, der konsequent jeden Gesprächspartner duzt, widmet viel Zeit der Arbeit mit dem Stadtparlament. Was seinen parteilosen Vorgänger Methling betrifft, so bestand ein geradezu legendär vergiftetes Verhältnis zwischen dem eigenwilligen Rathauschef und der notorisch zerstrittenen Bürgerschaft. Der ebenfalls parteilose, aber von CDU und FDP unterstützte Claus Ruhe Madsen hingegen genießt nach eigener Empfindung noch "Welpenschutz" im gesamten rot-rot-grünen Stadtparlament, in dem insgesamt 11 Parteien und Bündnisse vertreten sind. Eva-Maria Kröger, Die Linke, über OB Madsen:
"Rostock hat so viele Großbaustellen, über die wir reden müssen. Deswegen wäre es, glaube ich, zu früh für irgendeine Art von Urteil. Wir arbeiten bisher gut zusammen und ich wünsche mir, dass das auch so bleibt."
Daniel Peters von der CDU:
"Er hat auch, und das war uns besonders wichtig, eine Atmosphäre hineingebracht, die eher das Miteinander betont als das Gegeneinander."
Jobs für Langzeitarbeitslose
Angekommen im Konferenzraum des Hanse-Jobscenters. Claus Ruhe Madsen nimmt den angebotenen Kaffee an – schwarz, ohne Zucker. Sein fünfter oder sechster - um 11 Uhr. "Zwei Liter muss ich irgendwie schaffen", sagt er.
Während der Begrüßung schaut sich Oberbürgermeister Madsen zufrieden um. Er hatte sich diesen Termin gewünscht, und tatsächlich sind die Vertreter aller größeren Kommunalunternehmen der Hansestadt Rostock gekommen – vom Klinikum Südstadt über den Warnow-Wasser- und Abwasserverband bis zur Rostocker Straßenbahn AG. Dazu die Kolleginnen der Jobcenter-Abteilung KOALA. Sie sind darauf spezialisiert, langzeitarbeitslose Menschen für eine reguläre Arbeit fit zu machen. Geschäftsführerin Anke Dietrich:
"Vor zehn Jahren hatten wir in der Hansestadt eine Arbeitslosenquote von insgesamt 12,9 Prozent. Im Dezember vergangenen Jahres hatten wir für die Hansestadt noch 6,3 Prozent Arbeitslosenquote. Also das heißt: In den letzten zehn Jahren in Rostock eine Halbierung der Zahl der Arbeitslosen. Betrachtet man allerdings die Zahl der Langzeitarbeitslosen, ist die auch gesunken. Aber nur um 38 Prozent."
Bleiben also immer noch 2008 erwerbsfähige Rostocker, die länger als ein Jahr arbeitslos und deshalb in Hartz IV sind, sagt OB Madsen.
"Das ist etwas, was den Menschen Perspektivlosigkeit gibt. Das prägt, dass vielleicht auch die ganze Familie und das Umfeld davon betroffen ist. Ich war ja selbst Unternehmer und ich weiß um die Beschwerlichkeiten, wenn man mit Menschen zu tun hat, die lange nicht arbeiten waren. Man muss unglaublich viel Geduld aufbringen. Also war mein Gedanke, da ich ja auch IHK-Präsident war und gute Netzwerke in der Wirtschaft habe, ich spreche mal die Wirtschaft an zu sagen ‚Ich kümmere mich mal je nach Betriebsgröße um ein, zwei, vier, fünf Langzeitarbeitslose.‘ Dann wäre das richtig großartig."
Die Stadt als Arbeitgeber
Nun dringt er freundlich, aber bestimmt darauf, dass sich auch die städtischen Betriebe noch stärker als bisher ins Zeug legen, denn:
"Also wenn wir als kommunale Gesellschaften das nicht hinbekommen, brauchen wir auf niemanden zu zeigen. Die anderen können das, die motivieren wir. Aber wir müssen. Alles andere wäre ja wirklich hanebüchen. Ich hab’s selber mal erlebt mit unserem ehemaligen Ministerpräsidenten, Herrn Sellering. Der sagte – da war ich IHK-Präsident: ‚Herr Madsen, die Betriebe müssen mehr schwierige Jugendliche nehmen in der Ausbildung! Wir haben jedes Jahr 2000 Jugendliche in der Sonderschule – das kann nicht sein!‘ Ich sage: ‚Da stimme ich Ihnen zu. Wie viele sind denn eigentlich bei Ihnen in der Landesverwaltung?‘ Sellering: ‚Äh, das geht nicht!‘ Also das ist natürlich der Moment, wo man sich denkt: ‚Was? Da geht’s nicht und wir sollen das machen?‘ Also, das dürfen wir uns nicht vorwerfen lassen."
Madsens Doppelgänger am Volkstheater
An Ralph Reichel soll’s nicht scheitern: Der Intendant des Volkstheaters Rostock sucht dringend Schneider und Gewandmeister, findet aber niemanden. Auch die Hoffnung auf junge arabische Männer, die doch angeblich gut schneidern könnten, sei längst zerstoben. Die Jungs hätten "keinen Bock", so Reichel. Insofern meint er über Madsens Initiative: Gut, dass wir mal drüber gesprochen haben.
Und sonst? Über Madsens Theaterpolitik gebe es nach einem knappen halben Jahr Amtszeit noch nicht viel zusagen, meint der Theaterchef, der auf der Straße häufig mit OB Madsen verwechselt wird – gleicher Bart, gleiche Brille.
"Sehr schön war das kurz nach der Wahl. Da war ich beim Sommerfest des Landtages in Schwerin, und es wurde mir deutlich häufiger zur Wahl zum OB gratuliert als zum Intendantenposten."
Sonstige Berührungspunkte? Bislang nur zum geplanten Theaterneubau, sagt Ralph Reichel:
"Da war er mit in der Jury und wir haben einen gemeinsamen Favoriten. Also lustigerweise alle Mitglieder der Jury haben einen gemeinsamen Platz 1. Bisher steht er eindeutig dazu. Das kann ich natürlich nur gut finden. Ansonsten gab es noch keine großen Entscheidungen, wo ich sagen könnte, das hat er gut oder falsch entschieden. Wir haben sicherlich ein paar Tarifentscheidungen vor uns, wo er als Gesellschaftervertreter sich mit positioniert. Aber letztlich sind das immer Mehrheitsentscheidungen der Bürgerschaft."
Den deutschen Pass will Madsen nicht
Und wie finden es die Rostocker, dass ihr dänischer Oberbürgermeister mit finnischer Ehefrau sich partout keinen deutschen Pass holen will, sondern sich als europäischer Rostocker bezeichnet und somit weiterhin der erste und bislang einzige ausländische Bürgermeister einer deutschen Großstadt ist?
"Dass er Däne ist, ist kein Thema. Ab und zu ein charmanter Witz, wenn es um irgendein Möbel geht. Aber ob er jetzt sozusagen Rostocker oder Däne ist oder was auch immer, das ist gar kein Thema."
Sehr zum Bedauern des gebürtigen Kopenhageners übrigens. Rostock könnte viel mehr positive Aufmerksamkeit auf sich ziehen, wenn die regionalen Medien diesen Aspekt mehr betonen würden, sagt Claus Ruhe Madsen nach der Rückkehr in sein Büro, wo er zunächst wieder Akten studiert, Glückwünsche für die ältesten Rostocker Geburtstagskinder und Ehejubilare unterzeichnet und den Leiter der Rostocker Stasi-Unterlagenbehörde empfängt. Auch der bekommt sie zu sehen – die zwei kleinen Flaggen in Madsens Büro: eine dänische. Und noch eine dänische. Eine kleine Provokation in einem deutschen Rathaus? Claus Ruhe Madsen lacht.
"Also ich habe nicht nur eine dänische Fahne auf dem Tisch und auch eine kleine dänische Fahne auf der Anrichte. Ich habe auch ’ne Rostock-Fahne in meinem Schrank liegen. Die ist deswegen im Schrank, weil sie gefaltet ist. Weil sie ziemlich groß ist, die Rostocker Fahne. Die hat natürlich auch die richtigen Farben mit Rot, Weiß, Blau."