Clemens Böckmann: „Was du kriegen kannst“
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Spionage-Sex für die Stasi
05:46 Minuten
Clemens Böckmann
Was du kriegen kannstHanser-Verlag, München 2024416 Seiten
24,00 Euro
Autor und Filmemacher Clemens Böckmann bohrt sich in seinem Romandebüt „Was du kriegen kannst“ tief in das Leben der DDR und in die Machtmechanismen der Stasi. Er erzählt die wahre Geschichte von Uta, die als Sexarbeiterin auf Männer angesetzt wurde.
Nahaufnahmen aus dem Inner-circle des DDR-Systems gibt es bereits. Vor einem Jahr legte Felix Stephan die Familiengeschichte eines hochrangigen Stasi-Generals vor und fokussierte seinen Erzählblick auf die Staatstreuen und Angepassten, die orientierungslos durchs Nachwende-Niemandsland stolperten.
Nun bohrt sich der vielschichtige Roman von Clemens Böckmann noch einmal tiefer in das Leben der DDR, konkret in die Machtmechanismen der Stasi. Und das auf erschütternd anrührende Weise mit der ungewöhnlichen Geschichte einer Sexarbeiterin.
Eigentlich nur etwas Spaß und buchstäblich Lust will sie der sozialistischen Muffigkeit abtrotzen, ihr Glück zumindest auf diese Weise am Schopfe packen - was die Stasi auf perfide Weise auszunutzen weiß.
Männerbekanntschaften gegen Langeweile
In seinem Debüt „Was du kriegen kannst“ erzählt der Leipziger Autor und Filmemacher Clemens Böckmann die Lebensgeschichte der jungen Möbelverkäuferin Uta Lothner aus Zwickau, die sich in den 1970er-Jahren mit ihren Freundinnen die langen, vor allem langweiligen Provinznächte in der Astro-Bar mit wechselnden Männerbekanntschaften vertreibt.
Es dürfen gerne Männer mit Stil sein, wenn es gut läuft, sind auch durchreisende Ingenieure aus dem Ausland dabei, die Parfüm, Nylonstrumpfhosen oder mal eine Perlenkette dalassen. „Geschenke-Sex“ hieß das in der DDR.
Prostitution als Spionagemittel
Bald darauf protokolliert das Ministerium für Staatssicherheit diese umtriebigen Vorgänge und registriert die Frauen als „männertoll“ - und will Uta als Informantin rund um die Leipziger Herbstmesse gewinnen. Dort soll sie internationale Gäste und unzuverlässige DDR-Funktionäre ausspionieren: „Nimm, was du kriegen kannst“ lautet die Aufforderung ihres Stasi-Offiziers. Prostitution, in der DDR offiziell verboten, und Spionage einvernehmlich auf Tuchfühlung miteinander.
„Was du kriegen kannst“ ist, wenn es das Genre überhaupt gäbe, ein Rechercheroman, immer der ambivalenten Heldin Uta auf der Spur, mal im Erzähl- dann im Protokollstil festgehalten, und das aus vielen Perspektiven: Zum einen die Gegenwart, in der sich der Ich-Erzähler von der inzwischen gealterten, alkoholkranken Ex-Agentin ihre Lebensgeschichte erzählen lässt, wiedergegeben in ihrem eigenen Tonfall, mal reflektiert, mal schnoddrig naiv.
Gebrochen wird dieser Erzählstrang immer wieder durch die von ihr selbst verfassten Stasi-Protokolle – und wiederum durch die Protokolle ihrer Offiziere, die über IM „Anna“ berichten; in der sperrigen Sprache des MfS, hölzern, schwarze Balken dort, wo man Namen vermutet, wahrlich keine flüssige Lektüre.
Zwischen Protokollen und Lebensberichten
Aber in dieser Aneinanderreihung von Protokollen, Lebensberichten, auch Quittungen und Vereinbarungen montiert Clemens Böckmann nicht nur das erschütternde Lebensalbum einer Frau auf ihrer verzweifelten Suche nach ein bisschen Glück. Zugleich führt er uns wie durch ein Kaleidoskop in allen Grautönen die DDR-Wirklichkeit vor Augen - mit allem Mief und Spieß und immer präsenten Zigarettenqualm.
Mit Utas Protokollen taucht man in die Hotelzimmer und Wohnungen vermeintlicher Staatsfeinde. Das Interieur hält sie in ihren Berichten genaustens fest: Schrankwände, Gardinen, Vasen, aber auch die ungedämmten Wände, die im Winter die Spülung einfrieren lassen.
In dem Böckmann all das übergenau zeigt, dokumentiert er die erdrückende Realität eines Systems, in dem sich die Schlinge durch Überwachung und Kontrolle immer enger zieht. Uta handelt am Anfang aus Überzeugung, später unter Zwang. Auch ihre Wohnung wird schließlich von der Stasi durchwanzt und überwacht.
Ist Uta Opfer oder Täterin?
Schon früh fragt sich der Erzähler in Clemens Böckmanns Roman: „Was, wenn vieles von dem, was sie erzählt, widerlegt wird?“ Im Laufe der rund 400 Seiten werden die Widersprüche zwischen dem, was seine Heldin Uta ihm erzählt und was in ihren Akten steht, immer deutlicher. Eine Frage wird in seinem Roman immer lauter: Ist Uta Opfer oder Täterin? Diese Frau, von der Stasi zerrieben, die auch nach der Wende nicht mehr Fuß fassen kann, scheint zwischen den Zeilen mehr und mehr zu zerrinnen.
Nicht nur Uta erscheint als unzuverlässige Erzählerin. „Wie viele Geschichten, wie viele Märchen entstehen dadurch, dass man das wirkliche Ende nicht kennt?“ fragt der Erzähler am Ende. Die DDR war alles andere als ein Märchen, aber davon ist in seinem verstörend guten Roman zwischen Wahn und Wirklichkeit der DDR nur am Ende die Rede.