Clemens J. Setz: "Die Bienen und das Unsichtbare"
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020
416 Seiten, 24 Euro
Der leidenschaftliche Schöpfergeist der Sprachenerfinder
05:28 Minuten
"Die Bienen und das Unsichtbare" ist ein fantastisches, alle Gattungsgrenzen sprengendes Buch. Clemens J. Setz, der ästhetisch wagemutigste Schriftsteller der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, nimmt sich darin der Utopie der Plansprachen an.
Es ist ein alter Traum romantischer Poesie, mit einer eigenen "Wunderschrift" (Novalis) den Zugang zu den Erscheinungen der Natur zu finden. Aus der poetischen Utopie wurde bald ein Projekt der Welterlösung. Bereits Ende des 17. Jahrhunderts versuchte der Naturphilosoph John Wilkins, für die Ordnung der Dinge eine neue Universalsprache zu entwerfen, bestehend aus einem neuen System von Wortbildungen und Klassifikationen.
Intellektuelle Außenseiter wie der französische Kaufmann Leon Bollack oder der badische Pfarrer Johann Martin Schleyer erfanden ab Ende des 19. Jahrhunderts im Alleingang eigene Plansprachen, um ein neues Zeichensystem zu erschaffen, das als völkerübergreifende Weltsprache tauglich sein sollte.
Was als völkerverbindende Aktion gedacht war, erwies sich in den meisten Fällen als Fall akuter Sprachvereinsamung. Die Propheten der neuen Sprachen Volapük, Blissymbolics, Lojban oder der Langue bleue blieben bei ihrer Missionsarbeit allein auf weiter Flur, nur das Esperanto konnte auf eine nachhaltige Wirkungsgeschichte verweisen.
Welcher Reichtum in diesen Privatsprachen steckt, haben bislang nur einige passionierte Sprachkünstler erkannt, wörterbesessene Virtuosen wie H. C. Artmann oder Oskar Pastior. Vor einigen Jahren ersann die Dichterin Dagmara Kraus dann noch eine "kleine grammaturgie", die ihre Dynamik aus der Verschmelzung der Plansprachen Myrana und Langue bleue zu einem neuartigen Urkreol bezog.
Eine verstörende Erkenntnisreise
Nun hat sich der ästhetisch wagemutigste Schriftsteller der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, der Österreicher Clemens J. Setz, dieser Utopie der Wunderschriften und Plansprachen angenommen. Das Ergebnis liegt nun in einem fantastischen, alle Gattungsgrenzen sprengenden Buch vor.
In sieben großen Kapiteln mit jeweils weit ausschweifenden Einzeldossiers betreibt Setz nicht nur kulturhistorische Tiefbohrungen im inneren Getriebe dieser oft hermetischen Sprachsysteme, sondern erkundet auch die versehrten Seelenlandschaften der Sprachenerfinder. Fast wie nebenbei eröffnet der Ich-Erzähler all dieser scheiternden Lebensläufe im zentralen Volapük-Kapitel auch das eigene Diarium seiner existenziellen Abgründe.
In diesem "Tagebuch" protokolliert das Ich seine "entsetzliche Krise" und macht sich selbst zum Bestandteil des "autistisch eingekapselten Wahnsinns", den er einigen seiner Helden attestiert. Für den Mai 2015 werden schwerste Symptome registriert – und auch das Antidot vermerkt: "Tote Plansprachen erlernen leuchtet mir innere Höhlen aus, die ich kaum kenne. Abends kompletter Zusammenbruch."
In all diesen "inneren Höhlen" verwundeter Menschenseelen bewegt sich Clemens Setz mit einer unglaublichen Wissbegier, die an die verstörenden Erkenntnisreisen des Schriftstellers W. G. Sebald erinnert. Zumal Setz auch die Methode Sebalds adaptiert, die zwischen Erzählung, Essay und Tagebuchnotiz changierende Prosa mit Piktogrammen, verwischten Fotografien oder grafischen Symbolen anzureichern.
Den Titel seines von leidenschaftlichem Schöpfergeist funkelnden Prosawerks hat Setz einem Brief Rainer Maria Rilkes an seinen Übersetzer Witold Hulewicz entnommen: "Wir sind die Bienen des Unsichtbaren." Setz erkennt darin eine Formel für die Leistung aller Sprachenerfinder: "Sie bringen Ertrag und Nährstoffe von einer Quelle, die sonst kaum jemand sehen kann."
In der Sackgasse des Verstummens
Dieses großartige Buch versammelt in jedem seiner Kapitel eine dicht geflochtene Folge unerhörter Begebenheiten, von denen die oft tragischen Biografien der Sprach-Architekten geprägt sind. Dabei führten die Obsessionen all der Sprachpioniere, die sich von ihren Zeichensystemen eine "Heilung der Menschheit" versprachen, meist in die Sackgasse des Verstummens oder der völligen Isolation.
Besonders fesselnd ist die Geschichte des jüdischen Emigranten Karl Kasiel Blitz, der dem Vernichtungsfeldzug der Nazis knapp entkam und später unter dem Namen Charles Bliss eine Sprache aus grafischen Symbolen erfand, die dann bei der Kommunikation mit schwerbehinderten, an Zerebralparese erkrankten Kindern ihre Tauglichkeit bewies. Gegen Ende seines Lebens kämpfte Bliss aber verbissen gegen alle Anwendungsversuche seiner Blissymbolics, die von seiner Dogmatik abwichen, und torpedierte damit seine eigene Erfindung.
Clemens Setz hat ein aufwühlendes Buch geschrieben, das uns in die Grenzbereiche der Plan- und Kunstsprachen führt und dort zahlreiche unbekannte Kontinente entdeckt. "Das Herz aller Poesie", so schreibt er am Ende, "ist die Abweichung". Es ist diese Kraft ästhetischer Dissidenz, die Clemens Setz´ Prosa zum Leuchten bringt.