Clemens Meyer: "Die Projektoren"
© Fischer Verlag
Alles Western
Clemens Meyer
Die ProjektorenFischer, Frankfurt 20241040 Seiten
36,00 Euro
Es ist wohl der umfangreichste Roman auf der Longlist des Deutschen Buchpreises: 1040 Seiten. Seit acht Jahren soll Clemens Meyer daran gearbeitet haben. Ob dieses Epos es nun zum Roman des Jahres schaffen wird?
Acht Jahre hat Clemens Meyer an diesem umfangreichen Epos gearbeitet und man kann gleich vorausschicken: Es wäre zwar sicher vermessen, diesen als das literarische Werk des Jahrhunderts zu bezeichnen, aber es ist ein Werk über fast ein Jahrhundert. „Die Projektoren“ sind in der Zeit zwischen dem Zweiten Weltkrieg und unserer Gegenwart angesiedelt. Dabei spielt der Roman sozusagen überall gleichzeitig.
Dem Schicksal ausgeliefert
Ja, man könnte meinen, Clemens Meyer hätte wie wild eine Kamera geschwenkt zwischen den Zeitebenen, zwischen den Orten, zwischen den Menschen. Dabei reißt er uns mit in diesen rauschhaften Strudel aus Geschichten, Gedanken, Erinnerungen, Szenen, Beschreibungen, Dialogen – zwischen einer psychiatrischen Anstalt, dem kroatischen Velebitgebirge, Belgrad, Novi Sad, Leipzig, dem Irak.
Es geht um Gewalt, um Kriege, um politische Systeme. Clemens Meyer muss einen irren Rechercheaufwand getrieben haben. Vor allem aber geht es um die Menschen, aus welcher Schicht auch immer, die meist völlig unvermutet ihrem Schicksal ausgeliefert werden und, wenn sie nicht zu Tode kommen, mit ihren Traumata weiter leben müssen.
Es gibt eine Schlüsselszene in diesem Roman. Ein Militärlastwagen lässt einen Mann mit einer Holzkiste mitten im Velebitgebirge vor einem verfallenen Bauernhaus zurück. Der Mann setzt sich auf seine Kiste, legt die Hand gegen die Sonne über die Augen und schaut dem LKW und den immer kleiner werdenden Staubwolken hinterher. Eine Stimmung, die an den Western „Spiel mir das Lied vom Tod“ denken lässt, die Melodie der Mundharmonika klingt im Ohr.
„Cowboy“ werden die Bewohner in dieser verlassenen Weltgegend diesen Fremden nennen. Und wenn wir einer Figur in diesem Buch intensiv folgen, dann ist es diese.
Zweiter Weltkrieg beeinflusst die Lebensgeschichte
So schweifen seine Gedanken in eine Zeit, in der er mit seinem hochgebildeten Vater, dessen Leidenschaft für die Literatur und das Kino er teilt, im Belgrader Park Eis isst und er seiner Mutter zum Geburtstag einen Quirl schnitzt. Den wird er 50 Jahre in seiner Tasche tragen.
In geradezu hallizunatorischen Szenen wird beschrieben, wie der Zweite Weltkrieg in diese Lebensgeschichte einbricht. Der Cowboy überlebt als einziger der Familie, befreit sich aus den Trümmern und stößt zu den Partisanen Titos.
Später wird der „Cowboy“ eine Nebenrolle übernehmen in den Karl-May-Filmen der DDR, die in den 1960er-Jahren in den kroatischen Bergen gedreht wurden. Dort wiederum wird in den 90er-Jahren der jugoslawische Bürgerkrieg toben. Auch eine große Liebe begegnet dem „Cowboy“ und es verschlägt ihn schließlich bis den Irak zur Zeit des Islamischen Staates.
Der Western schwebt über allem
Es taucht auch eine Gruppe von Nazis aus Ost und West auf, die sich nach der Wende in Leipzig zusammenfinden. Oder wir treffen zwei Jungen im Sandkasten, deren rote Limonade der Vater mal „Thälmann“ und mal „Leninschweiß“ nennt. Die Systeme des Sozialismus lassen grüßen.
Ob er uns in Gestalt von Karl May oder einem eingebildeten Indianer in der Psychiatrie begegnet, im Kino, wo er mit Projektoren an die Wand geworfen wird oder eben bei den Dreharbeiten im Velebit: Der Western schwebt wie eine Metapher über dieser Menschheitsgeschichte des Clemens Meyer, in der alles mit allem zusammenhängt.
Und was besonders für diesen Ausnahmeschriftsteller einnimmt: Er hat einen unglaublichen Sinn für das Skurrile und besitzt einen tiefschwarzen Humor. Vor allem aber hat er einen zutiefst emphatischen Blick auf seine Protagonisten – von den verzweifelten Frauen, die vor den Bomben in den Keller geflüchtet sind über einen verrückten Schäfer bis hin zu einer Bande von Neonazis oder auch Anhängern des IS im Irak.