Clemens Villinger: „Vom ungerechten Plan zum gerechten Markt?“
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Das Zerrbild vom Zoni im Kaufrausch
05:58 Minuten
Clemens Villinger
Vom ungerechten Plan zum gerechten Markt? Konsum, soziale Ungleichheit und der Systemwechsel von 1989/90Ch. Links Verlag, Berlin 2022576 Seiten
50,00 Euro
Der Soziologe Clemens Villinger rekonstruiert eine Alltags- und Konsumgeschichte Ostdeutschlands vor und nach der Wende. Aus seiner erhellenden Studie kann man auch etwas für die Gegenwart lernen.
„Zonen-Gaby im Glück: Meine erste Banane“: So titelte die Satirezeitschrift Titanic im November 1989 und zeigte eine junge Frau mit einer halb abgeschälten Gurke. Dass sich die meisten Ostdeutschen nicht deswegen gegen den DDR-Staat auflehnten, weil sie Sehnsucht nach Demokratie und Selbstbestimmung verspürten, sondern weil sie gierig auf Südfrüchte und andere kapitalistische Konsumartikel waren - das ist ein Vorurteil, das nach dem Mauerfall nicht nur von vielen Westdeutschen gepflegt wurde, die an der Demokratiefähigkeit der ehemaligen DDR-Bürger zweifelten, sondern auch von vielen ostdeutschen Kulturschaffenden und Bürgerrechtlern, die enttäuscht über den Verlauf der Wiedervereinigung waren:
„Eine Horde von Wütigen auf der Jagd nach dem glitzernden Tinnef“, so kommentierte Stefan Heym Ende 1989 angewidert das Verhalten seiner Mitbürger, die in Schlangen nach dem Begrüßungsgeld anstanden.
Die Mangelwirtschaft und das Ende der DDR
Welche Rolle aber haben die Mangelwirtschaft in der DDR und die Konsumversprechen des Kapitalismus tatsächlich bei der Revolte gegen den Sozialismus gespielt? Dieser Frage geht der Sozialwissenschaftler Clemens Villinger in seiner Studie „Vom ungerechten Plan zum gerechten Markt?“ nach. Auf Grundlage von Interviews, die nach der Wiedervereinigung geführt wurden, erzählt er eine Alltags- und Konsumgeschichte für Ostdeutschland vor und nach der Wende.
Das Bild vom gierigen Ossi, der sich nach dem Mauerfall in einen Kaufrausch hineinsteigert, ist falsch, so Villinger. Auch habe der Wunsch nach der D-Mark, also der Währungsunion, zu Beginn der Revolte gegen die SED keine große Rolle gespielt. Richtig sei hingegen, dass die in den Achtzigerjahren sich verschärfende Mangelwirtschaft das generelle Vertrauen in die Zukunft des Staates erschüttert habe. Deswegen sei er im Herbst 89 auch von jener bis dahin loyalen oder schweigenden Mehrheit nicht mehr verteidigt worden, die bis dahin für die Stabilität der DDR sorgte.
Tauschwirtschaft und gute Beziehungen
Akribisch rekonstruiert Villinger, wie sich politische Einstellungen aus alltäglichen Konsumbedingungen ergeben und wie sich während der politischen Transformation der Zusammenhang zwischen Konsum und Wissen verändert.
In den Achtzigerjahren muss man in der DDR vor allem wissen, wie man trotz der Mangelwirtschaft an Konsumgüter, insbesondere Lebensmittel kommt. Darum bauen immer mehr Menschen in ihren Gärten Obst und Gemüse an, für den eigenen Bedarf, aber auch für eine sich entwickelnde Tauschwirtschaft, die zwar formal nicht legal ist, aber vom Staat geduldet wird. Um an begehrte Güter zu kommen, muss man Beziehungen haben und mobil sein.
Es entsteht eine Gemeinschaft zum Zweck der Mängelbewältigung, in der sich Distanz zum Staat und Freiheit von seinen Zwängen spüren lässt. Das sei, so Villinger, auch der Grund dafür, dass viele ehemalige DDR-Bürger für die Achtzigerjahre sentimentale Gefühle hegen, für eine Zeit, mit der sie Solidarität und Wärme verbinden.
Verhältnisse ändern sich abrupt und fundamental
Mit der Wende ändern sich die Verhältnisse abrupt und fundamental. Nun muss man vor allem wissen, wie man mit den neuen Konsumbedingungen im Kapitalismus umgeht: Wie unterscheidet man gute von schlechten Angeboten, angemessene Preise von Wucher? Wie passt man den Konsum den unsicheren Zukunftserwartungen an? Damit aber gehen, wie Villinger zeigt, die Ostdeutschen wesentlich reflektierter, vorsichtiger, lernfähiger um, als es das Zerrbild vom Zoni im Kaufrausch vermittelt.
Die Grundlage dieser Studie ist eine Dissertation, Lesefreundlichkeit ist also nicht ihre hervorstechende Qualität. Wer sich trotzdem hindurcharbeitet, wird reich belohnt: In der detaillierten Verschränkung von Konsum- und Wissensgeschichte ist Villingers Buch eine hervorragende Ergänzung zu den Studien über die ostdeutsche Transformationsgesellschaft, wie sie zuletzt etwa Steffen Mau vorgelegt hat.
Enttäuschung nach der Wiedervereinigung
Auch kann Villinger erklären, worin genau der Kern jener Enttäuschung lag, die viele Menschen nach der Wiedervereinigung zügig ergriff. Sie hatten vom Kapitalismus nicht unbeschränkten Konsum erwartet - aber eine Gesellschaft, in der individuelle Leistung belohnt wird durch ökonomischen Erfolg und Zugang zu den Konsumgütern, die für ein gutes Leben nötig sind. Aber der deregulierte Kapitalismus, wie er sich in den Neunzigern im Westen wie im Osten - nur dort in noch höherem Tempo - durchsetzt, zerschlägt diesen Zusammenhang.
An Stelle des „ungerechten Plans“ tritt kein „gerechter Markt“, der soziale Ungleichheit gerecht gestaltet, sondern eine Gesellschaft, in der sich gar kein verlässliches Wissen mehr für die Bewältigung des täglichen Mangels erwerben lässt. Aus dieser Analyse können Ost- und Westdeutsche gleichermaßen etwas über ihre Geschichte lernen und über die Verwerfungen der Gegenwart.