Jenseits der Stille
11:31 Minuten
CODA nennen sich Kinder gehörloser Eltern, Children of Deaf Adults. Der gleichnamige Film auf dem Streamingportal Apple+ schildert eindrucksvoll, vor welchen Herausforderungen Kinder stehen, die zwischen hörender und stummer Welt vermitteln sollen.
Patrick Wellinski: "Child of Deaf Adults, CODA", ist ja ein Remake der französischen Komödie "Verstehen Sie die Béliers?" aus dem Jahr 2014. Was hat Sie an diesem Film von Éric Lartigau interessiert, dass Sie ihn nun in einen amerikanischen Kontext übersetzt haben?
Sian Heder: Ich wurde darauf angesprochen von den Produzenten des französischen Films. Das war kurz, nachdem ich meinen Debütfilm Tallulah beim Sundance Filmfestival vorgestellt hatte. Das Studio Lionsgate hatte die Rechte für den amerikanischen Markt erworben und ich wurde gefragt, ob ich mir das vorstellen könnte. Daraufhin habe ich den Film gesehen und war sehr berührt. Diese Familiengeschichte hat etwas sehr Universelles und war dennoch sehr spezifisch in einem Milieu verortet. Das ist etwas, das mich grundsätzlich reizt. Und ich erkannte, dass ich diesen Kern in einen amerikanischen Kontext übersetzen kann.
Am meisten faszinierte mich die Lebensrealität eines hörenden Kindes, das aus einer Gehörlosenfamilie stammt und dennoch probiert, einen eigenen Weg zu gehen, ohne die Wurzeln und Herkunft zu verleugnen. Diese Heldinnenreise hatte etwas hoch Emotionales, dem ich auf den Grund gehen wollte.
Ich wollte mich mit den Konflikten so einer jungen Person auseinandersetzen. Und so kippte die Geschichte von CODA stärker in Richtung Drama und entfernte sich vom französischen Original. Und so wurde auch der Aspekt der Authentizität wichtig: Ich wollte die Lebenserfahrung dieser Menschen sehr realistisch auf die Leinwand bringen. Ich wollte das Milieu der Gehörlosen mit ihnen erforschen und sie selbst ein Teil des Projekts werden lassen.
In der Komödie steckt viel der eigenen Biografie
Patrick Wellinski: Sie haben sich auch einen sehr spezifischen Ort für die Handlung ausgesucht. "CODA" spielt in der Gegend rund um Cape Ann an der Ostküste. Warum gerade dieser Ort?
Sian Heder: Ich kenne diese Gegend sehr, sehr gut. Ich selbst bin in Cambridge, Massachusetts, aufgewachsen und habe viele Sommerferien in Cape Ann verbracht. Auch im Ort Gloucester, wo die Familie meines Films lebt. Ich war dort wandern und baden. Bin sogar von den gleichen Klippen ins Wasser gesprungen, wie es meine Figuren einmal machen. Ich habe sehr warme und nostalgische Erinnerungen an diesen Ort. So bekam der Film auch etwas Persönliches. Da steckt viel eigene Biografie in CODA, auch wenn die eigentliche Geschichte nichts mit mir zu tun hat. Die Stadt Gloucester selbst ist ein schönes Beispiel für die Widersprüche eines Küstenortes in Neu-England.
Zum einen ist es ein historisch-pittoresker Ort, auf der anderen Seite ist es die Heimat einer Fischereiindustrie. Es leben ganz klassische Arbeiter dort, doch im Sommer reisen die reichen Ferientouristen an. Es gibt diese unwirklich schönen Wälder und Strände, und ein paar Meter weiter sieht man die stillgelegten Fabriken einer untergegangenen Industrie. Das prägt diese Stadt und machte sie für mich auch filmisch sehr interessant. Das war aber gar nicht so leicht, weil der Menschenschlag, der in Gloucester lebt, schon sehr speziell ist.
Da einfach so mit Kameras einzudringen, ging nicht. Ich musste viel Überzeugungsarbeit leisten, musste mit den Fischern trinken, ihnen Bier ausgeben, um sie zu überreden, mich mal in ihren Kuttern mitzunehmen. Das hat echt gedauert: "Wer bist du?" haben sie gesagt und dann noch: "Geh weg! Wir interessieren uns nicht fürs Kino." Aber nach einer Weile haben sie mich akzeptiert und ich konnte sie überzeugen, Teil meines Films zu werden.
Die Fischer sind machtlos
Patrick Wellinski: Der Effekt, den dieser Einsatz hat, ist, dass ihr Film etwas Dokumentarisches bekommt. Sie thematisieren die konkreten Nöte der Fischer, zeigen, wie prekär ihre Arbeitsverhältnisse sind. Auch die Familie der Hauptfigur Ruby sieht sich mit der Krise der Fischereiwirtschaft konfrontiert. Wie haben sie das recherchiert?
Sian Heder: Ich bin da sehr naiv rangegangen. Ich bin Umweltaktivistin und bin grundsätzlich der Meinung, dass es Fischereiquoten braucht, dass die Fischerei unbedingt reguliert werden muss. Mit diesem Mindset bin ich dann auch zur Vereinigung der Fischer in Gloucester gegangen. Dort habe ich zwei Frauen getroffen, die mich über die sozio-ökonomischen Probleme dieser Menschen erst mal aufgeklärt haben.
Und ich habe gelernt, dass den Fischern selbst die umweltpolitischen Aspekte sehr wichtig sind; nur sind sie längst Teil einer immer aggressiver werdenden Wirtschaftsmaschine. Es gibt große Unternehmen, die jede rechtliche Lücke nutzen, um sich von den unangenehmen rechtlichen Regulierungen zu befreien. Dann verlangen sie von den Fischern große Fangquoten. Und wer nicht liefert, fällt aus dem Raster, verliert vielleicht sogar den Job und landet in der Arbeitslosigkeit. Die Fischer sind machtlos. Das sind vor allem selbstständige Familienbetriebe. Die Boote werden da noch von Vätern an Söhne vererbt.
Um sich gegen diese Verhältnisse zu wehren, mussten die Fischer selber Kontrolleure bezahlen, die auf das Einhalten der rechtlichen Fangquoten achten sollten. Aber diese Gutachter kosteten 800 Dollar am Tag. Das ist manchmal der ganze Tagesumsatz der Fischer. Die werden da ziemlich allein gelassen von der Politik.
Sie merken vielleicht schon, wie tief ich in die Materie eingetaucht bin, und ich habe das auch alles in meine erste Drehbuchfassung gepackt. Meine Produzenten waren da gar nicht so begeistert. Niemanden interessiert das, haben sie gesagt. Es stimmte ja auch: Ich habe mich in Details verloren. Aber dieses wirtschaftliche Umfeld sollte in CODA als realistische Grundierung drinbleiben. Das habe ich durchgesetzt, weil meine Geschichte einen Anker braucht, etwas, das sie in der Gegenwart hält und nicht zum Märchen werden lässt. CODA wird so auch zum Porträt des Kleinstadtamerikas, das sich derzeit von Traditionen trennen muss.
"Ich wollte diese Lebenswelten korrekt beschreiben"
Patrick Wellinski: Das gilt ja auch für Ruby und ihre Familie vor allem. Als gehörlose Fischer sind sie sowieso schon immer Außenseiter, doch die wirtschaftliche Krise zwingt sie, Teil der ganzen Community zu werden, und sogar eine führende Rolle einzunehmen. Also ist CODA eine Coming-of-Age-Geschichte auf mehreren Ebenen?
Sian Heder: Ja, denn im Film geht es vor allem um Veränderungen. Und Veränderungen sind für alle hart. Vor allem für die Fischer. Aber die gehörlose Familie im Film hat es ebenfalls schwer. Sie sind Außenseiter und haben sich in diesem Dasein eingerichtet. Und sie werden alleingelassen. Das ist auch eine Frage des Geldes, denn wenn sie wohlhabend wären, in NYC oder LA leben würden, dann hätten sie immer einen Übersetzer an ihrer Seite, könnten so viel stärker am allgemeinen Leben der Gemeinde teilnehmen.
Aber sie haben kein Geld und müssen so immer wieder auf ihre hörende Tochter zurückgreifen. Ich wollte diese Lebenswelten möglichst korrekt beschreiben. Ich war am Ende auch nervös: Wie würden die Fischer reagieren? Wie würde die Gehörlosen-Community reagieren? Schließlich hatte ich das Gefühl, dass sie mir vertraut haben, damit ich sie richtig darstelle.
Patrick Wellinski: Das scheint Ihnen sehr wichtig zu sein: "Alles richtig zu machen". Das betonen Sie so stark. Das hört man ja auch, wenn Sie beschreiben, wie genau sie recherchiert haben. Wieso ist es Ihnen so wichtig?
Sian Heder: Ich erinnere mich an jemanden, für den ich mal gearbeitet habe. Und diese Person hat immer zu mir gesagt: "Stift weg, Heder!" Ich bin im Arbeitsprozess nämlich so wie diese Schüler, die den Test noch weiter ausfüllen, selbst wenn der Lehrer schon längst "Stifte weg" in den Raum gerufen hat. Ich kann einfach nicht aufhören. Ich dringe immer tiefer in meine Themen ein.
Jedes neue Projekt ist für mich wie ein großer Marmorblock, und ich nähere mich ihm mit Hammer und Meißel und beginne mich dann durch diesen Marmor zu schlagen, um an den Kern der Sache zu kommen. Der Großteil meiner Arbeit besteht ja auch aus Gesprächen. Die Stimmen und Sorgen der Fischer sind genauso wichtig für mich wie meine Erfahrung mit der Kultur der Gehörlosen und der Gebärdensprache.
Selbst die Einzelheiten eines Jugendchors wollte ich möglichst korrekt in meinen Film integrieren, denn ich wollte die Chor-Szenen in einer bestimmten Weise drehen, aber ich merkte, dass die Jugendlichen das nicht so gut fanden. Dann habe ich sie gefragt: Was macht ihr denn fürs Aufwärmen? Und dann kamen sie mit total verrückten Übungen, die super zum Ton des Films passten und ich habe das einfach übernommen und gedreht. Das ist meine Arbeitsmethode. Ich liebe Lebensgeschichten und Menschen und möchte meine Erfahrungen mit ihnen möglichst genau wiedergeben.
Gebärdensprache funktioniert filmisch
Patrick Wellinski: Die Gebärdensprache ist zentraler Teil Ihres Films. Große Teile des Dialogs finden in amerikanischer Gebärdensprache statt. Und mir ist klar geworden, wie unfassbar filmisch die Gebärdensprache ist. Sie müssen Dinge zeigen, das ist sehr bildlich, das ist schon Kino.
Sian Heder: Auch schon als Drehbuchautorin war das etwas Besonderes. Wir sagen ja immer, wie toll es ist, die eigenen Zeilen auf der Leinwand zu hören. Aber ich konnte mein Drehbuch sehen. Ich schrieb zum Beispiel einen Dialog, der mit einem Witz enden solle. Und erst bei den Proben konnte ich sehen, ob das überhaupt Sinn ergibt. Und es war häufiger viel lustiger, als wenn man den Dialog gesprochen hätte. Aber ich musste auch häufig umdenken und musste sehr viel mit den Gebärdendolmetscherinnen Rücksprache halten, um keinen Unsinn zu verzapfen.
Aber Sie haben schon recht: Gebärdensprache ist eine Filmsprache, weil sie rein visuell funktioniert. Sie malt sogar – narrativ betrachtet – ein Bild meiner Geschichte. Die Gebärdensprache funktioniert filmisch, weil sie zunächst die Szene einführen muss, dann erst kann die Handlung oder der Inhalt beschrieben werden. Das entspricht ja dem filmischen Erzählen.
Es hat so viel Spaß gemacht, diese Welt kennenzulernen und mit meinen SchauspielerInnen und Übersetzerinnen das Drehbuch zu erarbeiten. Es war ein sehr kooperativer Prozess. Die Gebärdensprache ist ja durchaus kreativ, man kann neue Formen und Zeichen finden, die der Geschichte entsprechen, die andere Emotionen transportieren. Manchmal brauchte ich ein Zeichen, das die Wut der Figur stärker transportieren sollte, dann wieder ein Zeichen, das den Humor besser zeigen konnte.
Es hat so viel Spaß gemacht, diese Welt kennenzulernen und mit meinen SchauspielerInnen und Übersetzerinnen das Drehbuch zu erarbeiten. Es war ein sehr kooperativer Prozess. Die Gebärdensprache ist ja durchaus kreativ, man kann neue Formen und Zeichen finden, die der Geschichte entsprechen, die andere Emotionen transportieren. Manchmal brauchte ich ein Zeichen, das die Wut der Figur stärker transportieren sollte, dann wieder ein Zeichen, das den Humor besser zeigen konnte.
Dann wurde es noch lustig, als ich lernte, dass die Gebärdensprache stark regionalisiert ist. In Gloucester zeigt man Dinge anders. Das musste dann auch wieder mit den Darstellerinnen erarbeitet werden.
Der starke Bezug der Gebärdensprache hat auch den visuellen Stil der Kameraarbeit verändert. Wir mussten uns überlegen, wie wir die Hände zeigen, und zwar so, dass auch eine Dynamik zwischen Bildern entsteht und wir nicht nur klinisch Hände abfilmen. Dafür mussten wir visuelle Strategien entwickeln. Und so prägte die Welt der Gebärdensprache jede einzelne Filmebene.