Colin Crouch: Die bezifferte Welt. Wie die Logik der Finanzmärkte das Wissen bedroht
Aus dem Englischen von Frank Jakubzik
Suhrkamp, Berlin 2015
250 Seiten, 21,95 Euro
Das Wissen der Bürger steht auf dem Spiel
Mit seiner These zur Aushöhlung der Demokratie durch den wachsenden Einfluss globaler Unternehmen ist Colin Crouch bekannt geworden. In "Die bezifferte Welt" sieht er nun die Wissenssysteme von Marktlogik durchdrungen - sein Vorwurf gerät jedoch sehr pauschal.
Der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch ist vor einigen Jahren mit seiner These zur "Postdemokratie" einem größeren Publikum bekannt geworden. Der Begriff steht für den Rückgang politischer Partizipation und den Prozess einer zunehmenden Aushöhlung der Demokratie, der durch den wachsenden Einfluss globaler Unternehmen, Lobbyisten oder der Medien eingetreten sei. Postdemokratisch geht es auch in seinem neuen Buch zu, das die Durchsetzung "neoliberaler" Denkstrukturen in Wissenssystemen ins Visier nimmt. Nicht mehr marktunabhängige Werte wie Moral, Freude an der Erkenntnis oder intrinsische Motivation seien hier maßgebend, sondern das Bemühen, alle gesellschaftlichen Bereiche am Kriterium der Messbarkeit auszurichten und sie in marktanalogen Kennziffern auszudrücken. Das geschieht etwa in Form von Rankings öffentlicher Einrichtungen, die dem Bürger scheinbar mehr Wahlfreiheit ermöglichen, laut Crouch aber in Wahrheit Informationen verfälschen, weil die verwendeten Indikatoren vor allem dem Profitstreben großer Konzerne dienen sollen und nicht der Wissenserweiterung der Bürger.
Crouch beschreibt die Verwandlung des Bürgers zum "Kunden", er kritisiert die Privatisierung des öffentlichen Sektors als Prozess der Wissensverzerrung und spricht sogar von einem "neoliberalen Angriff auf die Wissenschaft". Crouch bezweifelt, dass der Markt Probleme wie fehlende moralische Integrität von alleine bereinigt. Der Markt orientiere sich nur an einem einzigen Erfolgsindikator, nämlich dem Preis. Die Finanzkrise 2007 habe gezeigt, dass dies nicht nur auf Gebieten außerhalb des Marktes nicht funktioniere, sondern nicht einmal in seinem ureigenen Bereich. Trotzdem seien die meisten verantwortlichen Unternehmen unbeschädigt aus der Krise herausgekommen und trügen dazu bei, dass unsere Abhängigkeit vom Wissen "schleichend" zu einer Abhängigkeit von "Vertretern privater Interessen" werde.
Crouch scheint den Kräften der Öffentlichkeit zu misstrauen
Um diesem Prozess entgegenzutreten, seien eine stärkere Partizipation der Öffentlichkeit sowie vor allem "Inspektionsmaßnahmen" durch "Fachleute" notwendig. Für Crouch gibt es ein klares Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung: Ohne zwischen den doch sehr unterschiedlichen Ansätzen der zahlreichen Ökonomen zu differenzieren, sind ihm zufolge "die" Neoliberalen und "der" Neoliberalismus das Grundübel unserer Zeit. Ob im Bereich der Bildung, des Pflegebereichs oder der Umwelt: Schuld an dortigen Missständen ist immer der Neoliberalismus, der "Feind des Wissens", die einflussreichste "Ideologie der Gegenwart", die totalitäre Züge in sich trage und die Bürger auf "Schleichwegen" und durch "Hintertüren" allumfassend manipuliere.
So wichtig und richtig eine kritische Auseinandersetzung mit den Auswüchsen des "neoliberalen" Kapitalismus ist, so fragwürdig ist das Vorgehen Crouchs, hinter allem und jedem eine Manipulation durch den Markt zu vermuten. Obwohl Crouch beständig auf die Kräfte der Bürgerbeteiligung und der Öffentlichkeit pocht, scheint er genau dieser Öffentlichkeit nicht viel zuzutrauen, weil sich die Bürger allzu leicht manipulieren ließen. Wenn aber nur den "Fachleuten" die Fähigkeit zur marktunabhängigen Wissensgenerierung zugesprochen wird, führt das gerade nicht, wie von Crouch angestrebt, zu einem Mehr an Demokratie, sondern eher zu einer elitären Gelehrtenrepublik. Für die Demokratie wäre das weitaus gefährlicher als die von Crouch mit Abscheu zurückgewiesene Dominanz marktwirtschaftlichen Denkens.