Colin Niel: "Nur die Tiere"

Mord im Zentralmassiv

03:38 Minuten
Das Cover von Colin Niels Buch "Nur die Tiere" auf orange weißem Hintergrund.
Rabenschwarz eingefärbt und ziemlich radikal: "Nur die Tiere" von Colin Niel. © Deutschlandradio / Lenos
Von Thomas Wörtche |
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Colin Niels hat mit "Nur die Tiere" einen Kriminalroman über einen Mord in der französischen Provinz geschrieben – und über Menschen, die sich von einer Lebenslüge zur nächsten hangeln.
Colin Niels' Roman "Nur die Tiere" ist eine Art Plot-Wunder. Ein Kriminalroman über Missverständnisse, Irrtümer, über Zufall, missglückte Kommunikation und leise menschliche Tragödien, der zwischen dem französischen Massif Central und der Elfenbeinküste spielt.
Fünf Figuren erzählen von einer im rauen Bergland Frankreichs verschwundenen Frau, der Gattin eines reichen Unternehmers, die eigentlich nur wandern gehen wollte. Dass sie ermordet wurde, darüber besteht kein Zweifel, wir wissen auch bald, wo die Leiche ist. Wer sie ermordet hat, wissen wir lange nicht.
Alice, die frustrierte Ehefrau eines Rinderzüchters, Joseph, ein eigenbrötlerischer Schafzüchter mit leicht soziopathischen Zügen, Maribé, eine arme, reiche junge Frau, die die Gelegenheits-Liebhaberin des Opfers war, Michel, der Rinderzüchter, von der Ehe mit Alice zermürbt – sie alle hätten Gründe für den Mord. Nur die fünfte Stimme, Armand, ein brouteur, also ein Internetabzocker aus der Elfenbeinküste, der kann nicht der Täter gewesen sein. Aber das mit der Schuld ist so eine Sache.

Die gierigen Klauen des Kapitalismus

Alle Figuren von Niel sind einsame Menschen, arme Schweine, die eigentlich nur geliebt werden wollen, ob in der unwirtlichen französischen Provinz oder im heißen Äquatorialafrika. Aber die Umstände, sie sind nicht so. Denn die gierigen Klauen des Kapitalismus reißen an den armen Seelen, ob sie es merken oder nicht, und ohne dass Niel das jemals erwähnen würde. Und so legt sich jede Figur eine eigene Wahrheit zu, eine eigene Erklärung für die Ereignisse, einen eigenen Umgang damit, wohlwissend, dass es keine sinnvolle Kohärenz für sie gibt, was zu neuen Lebenslügen führt, zu Indolenz oder Fatalismus.
Denn was wirklich passiert ist, das ist so irrsinnig, dass nur eine Person am Ende einigermaßen klarsieht, aber gewollt hat sie das nicht. Das ist alles in der Tat noir, Ironie des Schicksals, rabenschwarz eingefärbt und ziemlich radikal.
"Nur die Tiere" ist ein schönes Beispiel, wie man den guten alten Whodunnit sinnvoll wiederbeleben und gleichzeitig demontieren kann, weil es keinen Masterplan gibt, und in dieser Welt, die der Roman schildert, auch gar nicht möglich wäre. Wie Niel die fünf Perspektiven so montiert, dass am Ende kein Rashomon-Effekt entsteht, sondern Zufall und Irrtum erzählbar werden, und es tatsächlich eine Wahrheit gibt, ist große Handwerkskunst – die aber nur so brillant funktionieren kann, weil hier eine substanzielle Geschichte erzählt wird, die einen wirklichen "Sitz im Leben" hat.

Colin Niel: "Nur die Tiere"
Aus dem Französischen von Anne Thomas
Lenos Verlag, Basel 2021
286 Seiten, 22 Euro

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