Im Folterzentrum wird gejodelt
In Chiles Colonia Dignidad wurden Psychopharmaka zwangsverabreicht, Arbeiter ausgebeutet und Kinder missbraucht. Die Siedlung, deren düstere Geschichte gerade im Kino thematisiert wird, ist heute ein Tourismuszentrum im bayerischen Stil. Für Gedenken ist kein Platz. Nun nähern sich Opfer und aktuelle Betreiber erstmals an.
Ein Bierfest im Stil des Oktoberfestes mit reichlich Freibier: frisch gezapftem Maßbier, Schuhplattln, Alphornblasen, Jodeln. Ein Event vor der Kulisse schneebedeckter Andengipfel.
Über ihre Website bietet die Villa Baviera heute ein pralles touristisches Angebot an - neben "kulinarischen Spezialitäten" auch "historische" Touren mit dem Unimog über das Gelände, am Fuß der Cordillera. Abenteuertouren über ein lange Jahre hermetisch abgeschottetes, durch elektrische Zäune gesichertes Gelände.
In diesen Event-Alltag mischen sich an manchen Tagen ganz andere Töne. Am Rande der ehemaligen Colonia Dignidad gedenken Angehörige von Verschwundenen regelmäßig ihrer Verwandten und Freunde. Sie rufen ihre Namen, legen Blumen nieder, singen.
Die Angehörigen demonstrieren vor den Toren des Geländes. Da es im Privatbesitz ist, dürfen sie auf dem Gelände selbst solche Gedenkveranstaltungen normalerweise nicht durchführen.
Angehörige der Opfer protestieren vor der Colonia Dignidad
Gabriel Rodríguez war selber Gefangener in der Colonia, er hat die Folter überlebt. Am Rande eines Protestes gegen das sogenannte "Oktoberfest" sagt er:
"Wir gedenken der Menschen, die hier gestorben sind, wir sagen "Nein" zum Tourismus in der Colonia Dignidad! Überall auf der Welt sind Plätze, an denen gefoltert und gemordet wurde, heute Orte der Erinnerung, der Reflexion und des Friedens. Das ist kein Raum für Zirkus, Geldmacherei und Parties."
Nachdem Augusto Pinochet 1973 gegen die demokratisch gewählte Regierung des Sozialisten Salvador Allende geputscht hatte, wurde die Colonia Dignidad Teil des Repressionsapparats der Militärdiktatur.
Mit dem chilenischen Geheimdienst DINA zusammen folterten und ermordeten Colonia-Angehörige auf ihrem Gelände Oppositionelle. Deutschen Behörden wurde damals vorgeworfen, bei schwersten Menschenrechtsverletzungen wegzusehen.
Heute fordern Angehörige von Verschwundenen wie Mirna Troncoso, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen:
"Die Geschichte aller einzelnen unserer Angehörigen muss aufgeklärt werden. Wir fordern Wahrheit, Gerechtigkeit, Erinnerung - nicht mehr, aber auch nicht weniger!"
Bis 2013 finanzierte die deutsche Regierung die Kolonie mit
Erinnerung: Bei der heutigen Vermarktung des Geländes spielt sie nur am Rande eine Rolle. In ihrer Selbstdarstellung geht die Villa Baviera nur sehr allgemein auf die Geschichte der Colonia und ihr Zusammenspiel mit der Diktatur ein. Auf der Website der Villa steht:
"Es gab lange Zeiten der Schwere, Grausamkeit, Überwachung, Bestrafung und Unterwerfung von Menschen, von Kindern und ganzen Familien, die nicht in Freiheit leben durften - es wäre eine bittere und lange Geschichte zu erzählen."
Etwa hundert Menschen leben noch in der Siedlung, überwiegend deutsche Staatsbürger. Mit dem Aufbau des Tourismus haben sie die Existenz der Colonia wirtschaftlich abgesichert - bis 2013 mit finanzieller Unterstützung durch die deutsche Regierung.
Angehörige von Opfern der Diktatur fordern, die Bewohner sollten gehen oder zumindest den Tourismusbetrieb einstellen und die Errichtung einer Gedenkstätte auf dem Gelände ermöglichen. Bestärkt fühlen sie sich durch ein bemerkenswertes Urteil des verantwortlichen Richters Zepeda: Er hat die chilenische Regierung 2015 zum Bau eines Gedenk- und Informationsortes zu der Ex-Colonia verurteilt.
Erstmals gemeinsame Diskussion im Haus der Wannseekonferenz
Ein Austausch zwischen den konträren Positionen war bisher nicht möglich. Vielleicht ändert sich das. Bei einem morgen beginnenden Seminar im Berliner Haus der Wannseekonferenz wagen die Vertreter beider Seiten erstmals eine gemeinsame Diskussion. Jan Stehle, der zum Thema "Deutsche Außenpolitik und Menschenrechte, der Fall Colonia Dignidad" forscht:
"Dieses Seminar stellt eine große Chance dar, weil sich zum ersten Mal Opfer und derzeitige Bewohner der Colonia an einen Tisch setzen, um ihre Standpunkte zur konkreten Umsetzung einer Gedenkstätte in der ehemaligen Colonia Dignidad auszutauschen. Gleichzeitig engagieren sich erstmalig die deutsche und die chilenische Regierung gemeinsam in diesem Prozess: durch die Finanzierung und ihre Teilnahme an dem Seminar."
Noch dominiert der Event-Tourismus auf dem Gelände der ehemaligen Colonia. Doch der Druck wird größer, respektvoller mit der düsteren Geschichte dieses Ortes umzugehen.