Ex-Colonia Dignidad in Chile
Die 1961 gegründete deutsche Siedlung, die als Colonia Dignidad in die Geschichte einging, ist als Villa Baviera heute eine touristische Attraktion. © Deutschlandradio / Ute Löhning
Bayrische Folklore neben Folterkeller
23:04 Minuten
Die Villa Baviera in Chile betreibt Tourismus im bayrischen Stil. An die vielen Opfer von Folter und Mord, sexuellem Missbrauch und Gehirnwäsche erinnert in der ehemaligen deutschen Sektensiedlung Colonia Dignidad kaum etwas. Wie kann das sein?
Am Wochenende ist gewöhnlich Hochbetrieb in der Villa Baviera, was übersetzt etwa „Bayerisches Dorf“ bedeutet. Vier Autostunden südlich der chilenischen Hauptstadt Santiago liegt der Ort idyllisch zwischen grünen Wiesen und Feldern in einem Andental vor schneebedeckten Berggipfeln.
Die 1961 gegründete deutsche Siedlung, die als Colonia Dignidad in die Geschichte einging, ist heute eine touristische Attraktion.
„Wir sind zum zweiten Mal hier“, sagt Álvaro. So wie viele andere Gäste auch, sind er und seine Partnerin Paula über das Wochenende gekommen, um sich zu erholen. „Wir kommen wegen des Essens, wegen der Gastronomie. Und wegen der Ruhe, man kann hier an der frischen Luft spazieren gehen und einfach sehr gut entspannen.“
In der Siedlung leben heute etwa 110 Personen, davon rund 30 Kinder. Sie betreiben Land- und Forstwirtschaft, eine Hühnerfarm und Tourismus. Außer dem Hotel und dem Restaurant gibt es ein Bierstüberl und einen Bayernladen mit Gebäck und Wurstwaren aus eigener Produktion. Man kann in Holzwannen mit heißem Wasser baden oder Touren im Unimog über das Gelände buchen.
Wie kann es sein, dass dieser Ort, der weltweit bekannt wurde für Missbrauch und Zwangsarbeit seiner Bewohner, der sogenannten Colonos, und an dem politische Gefangene gefoltert und ermordet wurden, heute ein touristisches Ziel für Wochenendausflügler ist?
Nichts erinnert an das Grauen
25 Jahre nach der Flucht des Sektenchefs Paul Schäfer finden sich auf dem Gelände fast keine Erinnerungen, vor allem keine Erklärungen für die Gräuel, die hier stattgefunden haben. Dabei sollte hier ein Dokumentationszentrum entstehen. Eine Bildungsstätte. Ein Ort des Gedenkens.
Das fordern die Angehörigen der Verschwundenen und andere Opfergruppen und grundsätzlich bekennen sich auch die deutsche und die chilenische Regierung dazu. Aber die Verhandlungen verlaufen schleppend.
Betroffene, Organisationen der Zivilgesellschaft, Experten und Expertinnen aus der Gedenkstättenarbeit drängen darauf, im Jahr 2023 endlich mit der Errichtung einer Gedenkstätte zu beginnen. Denn am 11. September 2023 jährt sich zum 50. Mal der chilenische Militärputsch unter Augusto Pinochet. Ein historisches Datum, das eng mit der Geschichte der Colonia Dignidad verknüpft ist.
"Wir fordern ein Ende des Tourismus"
Am 10. September 2022 kommen Angehörige von verschwundenen politischen Gefangenen zu einer Kundgebung in die Villa Baviera, um ihrer Liebsten zu gedenken. Dabei ist auch die 79-jährige Myrna Troncoso. Sie trägt ein Foto ihres Bruders Ricardo um den Hals, der 1974 verhaftet wurde und seitdem verschwunden ist.
“Wir richten uns an unsere verschwundenen Angehörigen, nicht an die Colonos“, sagt Myrna Troncoso. „Wir sind nicht im Krieg mit ihnen. Aber jedes Mal, wenn wir in die Colonia fahren, fordern wir ein Ende des Tourismus an diesem Ort, der ein Ort der Erinnerung sein sollte.“
Bei der Gedenkzeremonie an der sogenannten Feldscheune stecken Fotos von Verschwundenen auf Strohballen, auf einem Transparent steht „Nein zum Tourismus in der Kolonie des Todes“. Erst kürzlich wurde bekannt, dass in einem großen unterirdischen Raum unter dieser abgelegenen Scheune in den 1970er Jahren mutmaßlich Gefangene gefoltert wurden. Mit einem musikalischen Ritual soll der Ort zunächst gereinigt und geheilt werden. Danach steigen ein paar Dutzend Menschen durch den einzigen Zugang, eine Klappe im Scheunenboden, klettern eine Leiter hinab und betreten zum ersten Mal diesen Keller.
„Diesen Keller zu sehen, hat mich sehr bewegt“, sagt Myrna Troncoso nach der Zeremonie, deshalb habe sie dort nicht hinabsteigen können. „Ich habe selbst kaum verstanden, wie starke Gefühle das ausgelöst hat. Ich kenne ja die Berichte von Menschen, die dort wohl gefoltert wurden. Es ist wirklich hart.“
Angehörige warten auf Aufklärung
Ab 1973 kooperierte die Führung der Colonia Dignidad eng mit der Pinochet-Diktatur. Der Geheimdienst DINA errichtete ein Gefangenenlager auf dem Gelände der Siedlung. Hunderte Oppositionelle wurden hier gefoltert. Nach Zeugenaussagen von Colonos wurden Dutzende ermordet.
Ihre Leichen wurden in Massengräbern verscharrt, später wieder ausgegraben, verbrannt und ihre Asche in den nahegelegenen Fluss Perquilauquén geworfen. Trotz Grabungsarbeiten und Bodenanalysen konnte bisher keine verschwundene Person identifiziert werden. Noch immer werden jedoch Reste von Ermordeten in Massengräbern auf dem weitläufigen Gelände vermutet. Die Angehörigen der Verschwundenen werden immer älter, viele sterben, ohne zu wissen, wie und wo ihre Liebsten ermordet wurden.
Entstanden ist die sektenartige Gemeinschaft im Westdeutschland der Nachkriegsjahre. Als Laienprediger und Jugendpfleger in evangelischen Einrichtungen missbrauchte und vergewaltigte Paul Schäfer bereits damals Kinder. Als er 1961 angezeigt wurde, setzte er sich mit einigen Getreuen nach Chile ab und entzog sich damit der Justiz. Rund 300 Anhänger folgten ihm.
Krankenhaus dient der Verschleierung
Der Alltag in der von ihnen errichteten Siedlung, der sogenannten "Kolonie der Würde", war von Freiheitsberaubung, sexualisierter Gewalt und Zwangsarbeit geprägt. Dennoch wurde die Siedlung 1961 als gemeinnützig anerkannt. Chileninnen und Chilenen aus der Umgebung kamen zur Behandlung in das Krankenhaus der Kolonie.
“Das Krankenhaus war so etwas wie das Juwel der Colonia Dignidad“, erklärt die chilenische Historikerin Evelyn Hevia Jordán, die die Geschichte des Krankenhauses erforscht.
„Es erfüllte eine wichtige Aufgabe in der öffentlichen Gesundheitsversorgung, womit der Staat vor allem in ländlichen Gegenden überfordert war.“
Die Behandlung sei gut und kostenlos gewesen, sagt die Historikerin, aber die Kolonie habe sich die Behandlungskosten vom chilenischen Gesundheitssystem erstatten lassen.
„Das leuchtende Image des Krankenhauses kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass unter dem Deckmantel von Wohltätigkeit und Gesundheitsversorgung Verbrechen begangen wurden“, betont Hevia Jordán.
Konkret benennt sie betrügerische Adoptionen oder den Missbrauch von Kindern und die Misshandlung von Colonos mit Psychopharmaka und Elektroschocks.
Aus Colonia Dignidad wird Villa Baviera
1988 wurde die Colonia Dignidad zur Villa Baviera umbenannt und in eine intransparente Firmenholding verschachtelter Aktiengesellschaften umstrukturiert. Ab 1996 zeigten chilenische Familien aus der Umgebung der Villa Baviera, deren Kinder dort vergewaltigt wurden, Schäfer an.
Der floh nach Argentinien, wo er 2005 verhaftet wurde. Er wurde verurteilt und starb 2010 im Gefängnis.
Erst nach Schäfers Verhaftung kam es zu einer vorsichtigen Öffnung. Colonos durften heiraten oder die Siedlung verlassen. Über hundert Personen sind seitdem nach Deutschland übergesiedelt, rund achtzig zogen an andere Orte in Chile. Rund 110 Personen leben heute noch in der Villa Baviera.
Der Politologe hat seine Dissertation zum Fall Colonia Dignidad als Buch veröffentlicht. Angefangen habe der Tourismus der Villa Baviera mit einem Restaurant, das die Gruppe im 200 km entfernt gelegenen Bulnes betrieb, erklärt der Experte. 2007 sei das Restaurant Zippelhaus in der Villa Baviera hinzugekommen, 2012 dann das Hotel Baviera.
Deutsche Botschaft schaut weg
„Aus Sicht der Colonos ging es um eine Öffnung gegenüber der chilenischen Umgebung und um eine Einnahmequelle“, beschreibt Stehle und führt aus: „Aus Menschenrechtskreisen wurde das Vorhaben als Reinwaschen der Geschichte kritisiert. Von der Bundesregierung beauftragte Berater bestärkten Colonos in ihrem Vorhaben, die Siedlung als Bayern-Dorf touristisch zu vermarkten.“
Die deutsche Botschaft in Santiago und das Auswärtige Amt unterhielten lange Jahre gute Beziehungen zur Führung der Colonia Dignidad. Sie ignorierten Hilfsgesuche von Colonos und von besorgten Verwandten aus Deutschland. Einige Colonos, denen die Flucht aus der streng abgeriegelten Siedlung gelang, erhielten in der Botschaft nicht einmal Schutz, sondern wurden von der Sektenführung direkt wieder abgeholt.
„Über viele Jahre hinweg, von den 1960ern bis in die 1980er Jahre hinein, haben deutsche Diplomaten bestenfalls weggeschaut – jedenfalls eindeutig zu wenig für den Schutz ihrer Landsleute in dieser Kolonie getan“, sagte Frank-Walter Steinmeier 2016 – damals als deutscher Außenminister - und gestand erstmals eine moralische Mitverantwortung Deutschlands an den Ereignissen in der Colonia Dignidad ein.
Im selben Jahr besuchte eine Bundestagsdelegation die Siedlung. Abgeordnete von der Linken bis zur Union vereinbarten, sich fraktionsübergreifend für Aufklärung einzusetzen. 2017 beschloss dann der deutsche Bundestag einstimmig, dass die Bundesregierung die Verbrechen in der Colonia Dignidad aufarbeiten sollte und versprach, zusammen mit der chilenischen Regierung einen Gedenk-, Bildungs- und Dokumentationsort in der Villa Baviera zu errichten.
Ein Dokumentationszentrum soll entstehen
In der Folge gründete sich eine bilaterale Gemischte Kommission mit Entsandten beider Regierungen. In deren Auftrag erarbeitete ein Team von je zwei deutschen und chilenischen Expertinnen und Experten einen Vorschlag für eine Gedenk- und Dokumentationsstätte.
Im Oktober 2022, also fünf Jahre nach dem Beschluss, machte sich der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow für das Thema stark.
Der Politiker der Linkspartei reiste in seiner Funktion als Bundesratspräsident nach Chile und besuchte als bislang ranghöchster deutscher Politiker die Villa Baviera. Zum ersten Mal habe er in den 1980er Jahren von der Colonia Dignidad gehört, sagte Ramelow. "Heute weiß ich, dass zu dieser Zeit das Leid der Menschen, die hier versklavt worden sind, hätte gemindert werden können.“
Immerhin stehen inzwischen 182 Hektar des Kerngeländes der Siedlung unter Denkmalschutz. Dazu gehört auch der sogenannte Kartoffelkeller. Eine kleine Gedenktafel erinnert daran, dass an diesem Ort Oppositionelle gefoltert wurden.
"Wir wissen, dass hier gefoltert wurde"
Im Kartoffelkeller berichtete die 64-jährige Cristina Escanilla Bodo Ramelow von ihrem Bruder Claudio. der seit Oktober 1973 verschwunden ist:
„Seit fast 50 Jahren kämpfen wir darum zu erfahren, was mit unseren Angehörigen geschehen ist. Wir wissen, dass sie hier gefoltert wurden.“
„Seit fast 50 Jahren kämpfen wir darum zu erfahren, was mit unseren Angehörigen geschehen ist. Wir wissen, dass sie hier gefoltert wurden.“
Ihr Bruder Claudio war 16 Jahre alt, als er festgenommen wurde. Erst zwei Wochen später habe die Familie erfahren, dass er mit anderen Gefangenen zusammen in die Colonia Dignidad gebracht wurde, erklärt Cristina Escanilla und ergänzt:
„Als wir zum ersten Mal hier waren, sah der Raum anders aus. Er war nicht unterteilt. Es gab hier Krankenhausbetten, Blut- und Kratzspuren. Die Colonos haben das einfach verändert, so wie es ihnen passt.“
Vor dem Kartoffelkeller legten Ramelow und seine Delegation zusammen mit Cristina Escanilla und anderen Angehörigen von Verschwundenen Blumen nieder. Gemeinsam gedachten sie der gefolterten und auf dem Gelände ermordeten Gefangenen.
„Deswegen ist es notwendig“, erklärte Bodo Ramelow anschließend, „dass wir diesen Ort, der so Leid beladen ist, der aber so wunderschön aussieht, als wenn man mitten im Allgäu wäre, dass wir diesen Ort gemeinsam mit den Opfern und den Opfervertretern gemeinsam wandeln zu einem Gedenkort und zu einem Lebensort“.
Colonos sollen bleiben dürfen
Nach dem Vorschlag der Experten soll die Gedenk- und Bildungsstätte an die verschiedenen Opfergruppen erinnern, also sowohl an die Opfer von Folter und Verschwindenlassen in der Diktatur als auch an die Missbrauchsopfer, an Vertriebene und Entführte. Außerdem soll eine historische Dokumentation der Verbrechen Bildung und Geschichtsbewusstsein fördern.
Der Begriff „Gedenk- und Lebensort“, den Bodo Ramelow erwähnt, bezieht sich ebenfalls auf den Entwurf der Expertinnen und Experten. Demnach sollen in historisch nicht belasteten Bereichen des Siedlungsgeländes weiterhin Colonos wohnen können.
Anna Schnellenkamp ist eine von ihnen. Sie ist in der Siedlung aufgewachsen, leitet heute den Tourismusbetrieb in der Villa Baviera und zeigt sich offen für Veränderung.
"Die Unterstützung ist da, dass wir auch bereit sind, Gedenkstätte neben Wohnen und Arbeiten zu akzeptieren“, sagt Anna Schnellenkamp.
Sie engagiert sich auch in einer Sozial-AG für siedlungsinterne Angelegenheiten und besonders für Frauen und Mütter.
Sie engagiert sich auch in einer Sozial-AG für siedlungsinterne Angelegenheiten und besonders für Frauen und Mütter.
„Die Leute leben in den ehemaligen Ställen, Arbeitswerkstätten, Häusern, Sammelwohnungen, wo sie ja auch unter Schäfer gewohnt haben“, beschreibt Schnellenkamp. „Es wäre fantastisch, wenn man sagt, die Gedenkorte, das ist ein Zirkel oder auch eine Tour, die dann andere Orte verbindet.“
Im Zuge der Errichtung einer Gedenkstätte müssten an anderer Stelle der Villa Baviera neue Wohnmöglichkeiten für die Colonos geschaffen werden. Dann könnten auch die historischen Gebäude freigeräumt und für Ausstellungen genutzt werden, so Schnellenkamp.
Dialog verschiedener Opfergruppen
Seit 2014 finanziert die Bundesregierung sogenannte Dialogseminare und Workshops mit den verschiedenen Betroffenengruppen zum Thema Gedenkstätte. Die Leiterin der Gedenkstätte Bergen-Belsen, Elke Gryglewski, die den Vorschlag für eine Gedenkstätte in der Villa Baviera mit entwickelt hat, führt diese Veranstaltungen durch.
Zusammen mit Jens-Christian Wagner, Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, sind damit zwei Deutsche beteiligt, die Erfahrungen in der Arbeit mit verschiedenen, teils konkurrierenden Betroffenengruppen an einem Gedenkort mitbringen.
Zuletzt waren sie im Dezember 2022 in Chile.
„Wir haben in diesem Jahr zum achten Mal mit den unterschiedlichen Opfergruppen gearbeitet“, berichtet Elke Gryglewski.
Zuletzt waren sie im Dezember 2022 in Chile.
„Wir haben in diesem Jahr zum achten Mal mit den unterschiedlichen Opfergruppen gearbeitet“, berichtet Elke Gryglewski.
Sie sprechen seit Jahren über Erwartungen an einen Gedenkort, Vorurteile und Konflikte: Mit den Colonos, mit den Angehörigen von Verschwundenen, mit den in der Colonia Dignidad Gefolterten, mit den chilenischen Opfern von sexualisierter Gewalt oder unrechtmäßigen Adoptionen sowie mit Landarbeiterfamilien, die Anfang der 1970er Jahre von dem Gelände der Colonia Dignidad vertrieben wurden.
"Es ist Empathie entstanden"
Entsprechend dem Expertenvorschlag sollen sie alle, ihre Geschichte und ihr Leiden in einer Gedenk- und Dokumentationsstätte angemessen repräsentiert werden.
„Wenn man das vergleicht, zum ersten Jahr 2014, als keine der unterschiedlichen Gruppen auch nur ansatzweise mit einer anderen Opfergruppe sprechen konnte, sondern nur Vorurteile gegenüber den anderen bestand“, resümiert Elke Gryglewski, „ist das ein unendlich großer Erfolg, dass sie nicht nur miteinander sprechen, sondern dass sie sich auch austauschen können über ihre Bedürfnisse“.
Zunächst wurden separate Treffen mit den einzelnen Betroffenengruppen organisiert, im Anschluss daran große Diskussionen mit allen.
Inzwischen sei eine große Empathie entstanden, sagt die Gedenkstättenexpertin und beschreibt, wie die verschiedenen Betroffenengruppen die jeweils anderen mitdenken: „Dass die Angehörigen der Verschwundenen beispielsweise inzwischen auch thematisieren, dass es für sie nachvollziehbar ist, dass die Bewohner der Villa Baviera aus den historischen Gebäuden ausziehen wollen“, so Elke Gryglewski.
„Umgekehrt formulieren die Bewohner und Bewohnerinnen der Villa Baviera, dass sie sehr gut verstehen können, dass die Angehörigen der Verschwundenen einen Ort haben wollen, wo sie um ihre Angehörigen trauern können.“
Bierfeste gibt es nicht mehr
Anna Schnellenkamp betont ihrerseits: „Wir haben aus dem Grunde ja auch schon aus Respekt und Rücksicht die Großevents eingestellt“.
Bierfeste mit Schuhplatteln und Jodeln, Hochzeitsfeiern und sonstige Großevents, wie es sie vor der Pandemie in der Villa Baviera gab, finden derzeit aus Respekt vor den Angehörigen der Verschwundenen nicht mehr statt.
Während die Betroffenen große Hürden überwunden haben, hinkt die Politik hinterher.
Im November 2022 bekannten sich Deutschland und Chile in der Gemischten Regierungskommission erneut zu ihrer Verpflichtung, eine Gedenk- und Dokumentationsstätte zu errichten. Aus dem Auswärtigen Amt heißt es, die chilenische Seite plane die Gründung einer Stiftung zu diesem Zweck.
Jahrelang hatte die rechte Vorgängerregierung Chiles die Aufarbeitung blockiert. Die Staatssekretärin für Menschenrechte im chilenischen Justizministerium, Haydee Oberreuter ist optimistisch:
„Glücklicherweise haben wir jetzt die Chance, mit der chilenischen Regierung, für die das Thema der Menschenrechte zentrale Bedeutung hat, und mit der fortschrittlichen deutschen Regierung bei diesem Thema voranzukommen.“
Aktuell kommen aus Chile allerdings noch eher Bekenntnisse als konkrete Taten. Mit einem Nationalen Suchplan sollen bis September erneut Anstrengungen zur Identifizierung von Verschwundenen unternommen werden.
2023 könnte den Wandel bringen
Die Bundestagsabgeordnete der Grünen, Renate Künast setzt sich seit Jahren für die Aufarbeitung ein und hat die Villa Baviera mehrmals besucht. Sie will die Auseinandersetzung in Deutschland weiterführen, und hat dabei auch das historische Datum am 11. September 2023 im Blick, wenn sich der Putsch in Chile zum 50. Mal jährt:
„Ich träume, dass wir dann vielleicht im September selber auch mal eine Debatte in oder um den Bundestag herum haben, wo wir uns mal kritisch auseinandersetzen, noch mal auch offiziell mit der Frage: Was war unser Fehler?“
„Ich träume, dass wir dann vielleicht im September selber auch mal eine Debatte in oder um den Bundestag herum haben, wo wir uns mal kritisch auseinandersetzen, noch mal auch offiziell mit der Frage: Was war unser Fehler?“
Es liegt nun in der Hand des linken Präsidenten Gabriel Boric in Chile und des grün geführten Außenministeriums unter Annalena Baerbock in Deutschland, ihre jeweilige Regierungszeit zu nutzen, um den Weg für eine Gedenk- und Dokumentationsstätte zur Colonia Dignidad freizumachen.
Darauf setzt auch Elke Gryglewski. Sie sieht ein Zeitfenster von gut zwei Jahren und hofft auf konkrete Fortschritte in dieser Zeit.
„Wir merken, dass die Betroffenen müde sind“, sagt die Gedenkstättenexpertin.
„Die Betroffenen sterben auch, und es wäre eine vertane Chance, wenn es nicht unter der jetzigen politischen Konstellation gelingt.“
„Wir merken, dass die Betroffenen müde sind“, sagt die Gedenkstättenexpertin.
„Die Betroffenen sterben auch, und es wäre eine vertane Chance, wenn es nicht unter der jetzigen politischen Konstellation gelingt.“