Colum McCann: "Apeirogon"

Der Alltag des Nahost-Konflikts als Epos

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Buchcover des Romans "Apeirogon" von Colum McCann
Ein Meisterwerk: Colum McCanns Roman "Apeirogon" macht das Unbeschreibliche erfahrbar. © Deutschlandradio / Rowohlt Verlag
Von Carsten Hueck |
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Colum McCann erzählt in "Apeirogon" von zwei Mädchen, die in israelisch-palästinensischen Auseinandersetzungen umkommen. Und von ihren Väter, die beschließen, Freunde zu werden. Ein umwerfender Roman über Politik und individuellen Schmerz.
Ein Mann fährt in aller Frühe auf seinem Motorrad über menschenleere Straßen. In der Morgendämmerung liegen hinter ihm die Berge Jerusalems. Der Mann verschmilzt mit seiner Maschine. Ähnlich dem Vogelschwarm über ihm wirkt er wie ein Teil der Landschaft.
Es ist das Erlebnis des Verbunden-und Unterwegsseins und ein Gefühl der Einsamkeit, das der irische Autor Colum McCann gleich zu Beginn seines neuen Romans mit nur wenigen, glasklaren Sätzen entstehen lässt. Knapp sechshundert Seiten später endet dieses umwerfende Werk mit der Beschreibung eines anderen Mannes, der bei Jericho in der Stille der Nacht unter Sternen seinen Garten wässert. Beide Männer sind um den Schlaf gebracht.

Gefühl der Euphorie

Zwischen diesen Szenen: eine Geschichte des israelisch-palästinensischen Konfliktes, das Porträt zweier Mädchen, die darin umkommen, ihrer Familien und ihrer Väter, die beschließen, nicht mehr gegeneinander zu kämpfen und die zu Freunden werden. Das klingt geradlinig und überschaubar. Genau das aber will dieser Roman nicht sein und das macht ihn rühmenswert.
Denn man kann sich in "Apeirogon" verlieren wie in der Beobachtung einer Schar Vögel am Himmel. Man folgt der Schönheit ihrer Bewegungen - die man als Choreographie entschlüsseln kann, aber nicht muss. Sie entfernen sich und tauchen dann plötzlich aus einer anderen Richtung, in veränderter Formation wieder auf. Sie verführen zum Träumen, tanzen und verlieren sich und lassen uns allein unter weitem Himmel mit einem Gefühl der Euphorie und zugleich der Trauer zurück. Genau so liest sich McCanns Roman.

Vielfalt des Konflikts

Apeirogon ist ein Begriff aus der Geometrie. Er bezeichnet ein Vieleck mit einer unendlichen Anzahl von Seiten. McCann zeigt in seinem Roman, der auf der Longlist vom diesjährigen Booker-Prize zu finden ist, Verbindungen, Winkel, Spiegelungen. Vergangenheit und Gegenwart, die Nähe von Tod und Liebe, das Ausmaß einer Tragödie: Rami, der Israeli, hat seine dreizehnjährige Tochter durch das Selbstmordattentat eines Palästinensers verloren. Und Bassam, der Palästinenser, muss mit dem Tod seiner zehnjährigen Tochter leben, die durch das Gummigeschoß aus dem Gewehr eines israelischen Soldaten getötet wurde.
McCann bleibt nicht bei dieser Kerngeschichte, sondern folgt den Assoziationen, die sie freisetzt. Er entfaltet aleatorisch immer neue Erzählstränge, manchmal nur durch ein Wort, eine Beobachtung, einen Gegenstand ausgelöst. Der Kontext der Geschichte wird auf diese Weise immer gewaltiger, "man kann innerhalb des Ganzen überall hingelangen".
In jeweils 500 Kapiteln – manche nur einen Satz lang -, einmal aufsteigend und ab der Mitte des Buches absteigend, gelingt es dem Autor, eine reale Alltagsgeschichte aus dem Nahostkonflikt, die man googeln kann, zu einem elegischen Epos zu machen, zu großer Literatur, voller sinnlicher Beschreibungen des Lebens, philosophischer, historischer und naturwissenschaftlicher Exkurse. Man versteht durch dieses Buch unglaublich viel über die Vielfalt des Konfliktes zweier Völker, über geteiltes Leid und individuellen Schmerz. "Apeirogon" macht tieftraurig und fassungslos, dabei aber wärmt es und tröstet.

Colum McCann: "Apeirogon", Roman
Aus dem Englischen von Volker Oldenburg
Rowohlt Verlag, Hamburg 2020
595 Seiten, 25 Euro

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