Weiterleben nach dem Tod zweier Mädchen
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Der irische Schriftsteller Colum McCann ist einer der wichtigsten Autoren der englischen Sprache. In seinem Buch "Apeirogon" macht er klar, warum der Palästinakonflikt uns alle betrifft, auch wenn wir uns fern davon wähnen.
Gerade eben ist Colum McCann in New York aufgestanden, ist noch müde. Aber schon gibt er per Videokonferenz ein Interview und nimmt - Coronazeiten - sich auch noch selbst auf, damit die Klangqualität stimmt. McCann ist nie abgehoben, immer hilfsbereit und empathisch. Ohne diese Empathie hätte es seinen neuen Roman "Apeirogon" nicht gegeben.
Einschneidendes Erlebnis im Autonomiegebiet
Vor einigen Jahren machte der Autor nämlich mit Künstlern und Aktivisten eine politische Bildungsreise durch Israel und die palästinensischen Gebiete. An einem Nachmittag kam die Gruppe im Ort Bait Dschala an.
Colum McCann: "Es war dunkel. Ich war müde. Ich bin in dieses Büro gegangen, wo zwei mir unbekannte Männer darauf warteten, zu unserer Gruppe zu sprechen. Ich habe mich hingesetzt und ihre Geschichten gehört. Und innerhalb einer halben Stunde war mein Leben auf den Kopf gestellt."
Der Israeli Rami Elhanan und der Palästinenser Bassam Aramin erzählten vom Tod ihrer Töchter. Von Smadar, die mit 13 Jahren Opfer eines palästinensischen Selbstmordanschlags geworden war, und von Abir, die mit zehn Jahren durch das Gummigeschoss eines israelischen Grenzpolizisten ums Leben gekommen war.
Der Israeli Rami Elhanan und der Palästinenser Bassam Aramin erzählten vom Tod ihrer Töchter. Von Smadar, die mit 13 Jahren Opfer eines palästinensischen Selbstmordanschlags geworden war, und von Abir, die mit zehn Jahren durch das Gummigeschoss eines israelischen Grenzpolizisten ums Leben gekommen war.
Colum McCann, selbst Vater dreier Kinder, weinte, als er das hörte. Das erklärt er sich auch mit seinen Grenzerfahrungen in Irland und Nordirland. "Ich hatte eine Kindheit, in der ich mit der Idee von Gewalt und besonders politischer Gewalt klarkommen musste. Dann bin ich in die USA gezogen. Aber meine Erfahrung aus Irland ist immer bei mir geblieben."
Und diese Erfahrung spürte er besonders stark, als ihm der Israeli Rami Elhanan und der Muslim Bassam Aramin ihre traurigen Geschichten erzählten. Colum McCann bekam von den beiden Männern die Erlaubnis, über sie schreiben und dabei auch hier und da von der Wirklichkeit abweichen zu dürfen. Der Roman "Apeirogon" ist ein tief berührendes Buch über die Frage, wie man weiterleben kann, wenn man sein Kind verloren hat.
Eine Hommage an "Tausendundeine Nacht"
McCann hatte lange die Sorge, den beiden Männern und dem Palästinakonflikt nicht gerecht zu werden: "Ich hatte panische Angst davor. Ich bin ein weißer Mann mittleren Alters, der in New York lebt. Woher nehme ich mir das Recht, dieses ganz andere Terrain zu betreten?"
McCanns Roman ist fragmentarisch angelegt: Fakten über den Palästinakonflikt wechseln sich mit Details zu den Geschichten der beiden Männer und ihrer getöteten Töchter ab. *) Der Swimmingpool, der so leer ohne die erschossene Abir wirkt. Alles hängt mit allem zusammen.
Das geschilderte Leid wie die Momente des Glücks wirken besonders universell. So dürften auch die deutschen Leser bei der Lektüre das Gefühl haben, diese Geschichte vom Nahen Osten betreffe auch sie. Eine Geschichte, die McCann in genau tausendundeinem Textbruchstück erzählt, als Hommage an "Tausendundeine Nacht".
"Das Schöne an 'Tausendundeiner Nacht' ist, dass das Buch ein Auflehnen gegen den Tod ist. Scheherazade erzählt Geschichten, um selbst am Leben zu bleiben. Rami und Bassam erzählen die Geschichten ihrer Töchter, um sie lebendig in Erinnerung zu behalten und so das Leben anderer Menschen zu schützen."
Keine einfache Lösung für den Palästinakonflikt
En passant lernt man einiges über den Palästinakonflikt. Aber ganz verstehen müsse man ihn nicht, beruhigt Colum McCann. Das tue er selbst auch noch nicht.
"Wir müssen den Konflikt nur auf einer menschlichen Ebene verstehen. Das sagen auch Rami und Bassam: 'Es ist in Ordnung, wenn man den Durchblick verliert. Ich weiß nicht, ob eine Ein- oder Zweistaatenlösung besser wäre oder ein Staatenbund. Ich habe keine einfache Lösung für den Friedensprozess, außer dass wir versuchen müssen, einander zu verstehen. Wenn wir uns nämlich nicht auf dem Erdboden kennenlernen, werden wir das sechs Fuß unter der Erde tun.'"
Trotz der niederschmetternden Themen gelingt es McCann in "Apeirogon", immer wieder Hoffnung auf Frieden aufkommen zu lassen: Ein Künstler füttert Vögel aus Gummigeschosshülsen, also aus der Munition, mit der auch die zehnjährige Abir getötet wurde. Alles hängt eben mit allem zusammen.
*) Redaktionelle Anmerkung: Wir haben an dieser Stelle einen inhaltlichen Fehler korrigiert.