Paulina Stulin: "Bei mir zuhause"
Jaja Verlag, Berlin 2020
600 Seiten, 35 Euro
Selbstbeobachtungen im Dachgeschoss
05:41 Minuten
Was ist Zuhause? Die Wohnung, in der man lebt – oder doch eher der eigene Körper? In der Graphic Novel "Bei mir zuhause" erkundet Paulina Stulin diese Facetten. Und erzählt mit an den Impressionismus erinnernden Zeichnungen aus ihrem Leben.
Man könnte meinen, dass Paulina Stulin sich etwas verlassen fühlte angesichts der gerade mal zehn Menschen, die zu ihrer Lesung zugelassen waren. Doch es machte ihr ganz offensichtlich viel Freude, ihr neuestes Mammutwerk endlich präsentieren zu können: Der Comic ist über 600 Seiten dick, knappe zwei Kilo schwer.
Im polnischen Breslau geboren, studierte Paulina Stulin in Darmstadt und Krakau Kommunikationsdesign. Aus den Fenstern ihrer Dachgeschosswohnung in Darmstadt beobachtet sie das Leben. Und dort arbeitete sie zurückgezogen fünf Jahre lang an ihrem aktuellen Comic – Isolation lange vor Corona.
Zwei Formen von Zuhause
In "Bei mir zuhause" geht es ums Banale und ums große Ganze. Das große Thema des Buches ist das "Zuhause". Paulina unterscheidet zwischen zwei Formen von Zuhause – das zwangsauferlegte und das selbst gewählte Zuhause:
"Das zwangsauferlegte Zuhause würde ich benennen als meinen Leib, also das, was ich in der Gegend meines Körpers spüre, wenn ich die Augen schließe und mich nicht berühre. Das ist die Basis meiner Existenz, von der aus erlebe ich den ganzen Scheiß hier. Da möchte ich mich durch Leibbemeisterung immer mehr auch dazu bringen, mich in mir selbst zuhause zu fühlen. Also, das ist ja auch diese Nebenbedeutung von diesem ‚Bei mir zuhause‘. Meine Wahlverwandtschaft an Zuhause ist das Reich der Kunst."
Das Reich der Kunst allerdings verlässt sie regelmäßig, um ihrem Brotjob nachzugehen: Seit neun Jahren betreut sie Jugendliche.
"Ich sehe diese pädagogische Arbeit als eine sehr große Bereicherung für mich und vor allem auch für meine Arbeit, denn sie ist ein extremer Kontrast zum einsamen Comiczeichnen", sagt Stulin. "Mein Alltag sieht so aus, dass ich morgens aufstehe, zwei Stunden an meinen Projekten werkele, dann von zwölf bis 16 Uhr in einem Tohuwabohu aus Gesichtern und Stimmen und Gesprächen und Interaktionen untertauche und dann nach Feierabend mich wieder in meinen Kokon einspinne und alleine schreibe und zeichne. Und so kommt es, dass ich, wenn ich viel einsam bin, mich wieder freue, wieder mit vielen Menschen in Kontakt zu treten."
Intim und ehrlich
Die Kunst von Paulina Stulin schätzt ihre Verlegerin Annette Köhn, in deren Jaja Verlag alle drei bis jetzt veröffentlichten Bücher von Paulina erschienen sind, sehr.
"Da kulminiert alles Mögliche so toll zusammen – die ganze Welt, das Große und das Kleine", schwärmt Köhn. "Der Comic ist so wahnsinnig persönlich und intim und gleichzeitig so ehrlich. Was sie ganz gekonnt macht, ist auf die Linien zu verzichten. Sie arbeitet da komplett mit Flächen. Es ist eine komische Mischung aus fotorealistisch und dann wieder irgendwie gar nicht, also Impressionismus. Und was ich total krass finde bei der ganzen Sache: dass sie nichts von Fotos abgezeichnet hat."
"Da kulminiert alles Mögliche so toll zusammen – die ganze Welt, das Große und das Kleine", schwärmt Köhn. "Der Comic ist so wahnsinnig persönlich und intim und gleichzeitig so ehrlich. Was sie ganz gekonnt macht, ist auf die Linien zu verzichten. Sie arbeitet da komplett mit Flächen. Es ist eine komische Mischung aus fotorealistisch und dann wieder irgendwie gar nicht, also Impressionismus. Und was ich total krass finde bei der ganzen Sache: dass sie nichts von Fotos abgezeichnet hat."
Dieser Zeichenstil ist geprägt durch die sogenannte "New Barbizon School" – eine Gruppe von Malerinnen und Malern aus Tel Aviv und Sankt Petersburg, die den Impressionismus auf eine zeitgenössische Weise wiederbeleben und damit die üblichen Sehgewohnheiten verändern wollen.
Paulina Stulin erläutert: "Wenn sie beispielsweise Motive wie Hightech-Baustellen oder in Laptop lichtgetauchte Gesichter oder Leute, die die in Handys vertieft sind, in einer Malweise darstellen, die man üblicherweise von Seerosen und Ballerinas und dergleichen gewohnt ist. Dass das Alte mit neuen Motiven wiederbelebt wird, aber eben nicht auf diese strikt naturalistische Weise, sondern auf diese impressionistische Weise. Also, die Eindrücke, die Lebensgefühle, die subjektive Empfindung, die in den Motiven mitgeschwungen hat."
Paulina Stulin erläutert: "Wenn sie beispielsweise Motive wie Hightech-Baustellen oder in Laptop lichtgetauchte Gesichter oder Leute, die die in Handys vertieft sind, in einer Malweise darstellen, die man üblicherweise von Seerosen und Ballerinas und dergleichen gewohnt ist. Dass das Alte mit neuen Motiven wiederbelebt wird, aber eben nicht auf diese strikt naturalistische Weise, sondern auf diese impressionistische Weise. Also, die Eindrücke, die Lebensgefühle, die subjektive Empfindung, die in den Motiven mitgeschwungen hat."
Tagebücher, in Bilder gefasst
Paulina erzählt in ihrem Comic "Bei mir zuhause" vor allem aus ihrem eigenen Leben. Dazu nutzt sie ihre Tagebücher. "Das Tagebuchschreiben ist so mein Grundlagenforschungslabor. Das ist die Art und Weise, wie ich dieses Chaos hinter meinen Augen vor meine Augen bringe, sodass ich mich mit ihm auseinandersetzen kann."
Paulina zeichnete Comics bereits in ihrer Kindheit. Sie spielte leidenschaftlich gerne Alltagsgeschichten mit Barbiepuppen nach, erzählt sie. Bis eines Tages ihre damalige beste Freundin es "Kram für kleine Kinder" nannte und damit ihrem Zeichnen und Spielen ein abruptes Ende bereitete.
"Dann wurde das mehr oder weniger so im Jahre 2000 reaktiviert, als ich mit Scott McClouds Comics … in Kontakt gekommen bin und meine lebenslange Leidenschaft für Zeichnen endlich einen Zweck gefunden hat. Mit Comics wusste ich endlich – wofür ich zeichne, eben um dieses Bedürfnis, Gott zu spielen, um eigene Geschichten zu erfinden, erfüllen zu können. Um Welten zu schaffen, in denen ich alles komplett autonom bestimmen kann."
Durch den Perspektivenwechsel und den Blick von außen wolle sie mit ihren Büchern auch ihr eigenes Chaos ordnen. Derzeit arbeitet sie an ihrem ersten rein literarischen Werk. Und wieder wird es um sie selber gehen.
"Irgendwo sehe ich die reine Literatur, also ohne Bilder, schon irgendwie als so eine herausstechende Weise von Kunst. Sie ist so entkleidet der ästhetischen Hilfsmittel und hat deswegen so etwas Rohes. Ich glaube, das möchte ich dann doch in diesem Buch auch mal in seiner Nacktheit ausreizen."
Paulina zeichnete Comics bereits in ihrer Kindheit. Sie spielte leidenschaftlich gerne Alltagsgeschichten mit Barbiepuppen nach, erzählt sie. Bis eines Tages ihre damalige beste Freundin es "Kram für kleine Kinder" nannte und damit ihrem Zeichnen und Spielen ein abruptes Ende bereitete.
"Dann wurde das mehr oder weniger so im Jahre 2000 reaktiviert, als ich mit Scott McClouds Comics … in Kontakt gekommen bin und meine lebenslange Leidenschaft für Zeichnen endlich einen Zweck gefunden hat. Mit Comics wusste ich endlich – wofür ich zeichne, eben um dieses Bedürfnis, Gott zu spielen, um eigene Geschichten zu erfinden, erfüllen zu können. Um Welten zu schaffen, in denen ich alles komplett autonom bestimmen kann."
Durch den Perspektivenwechsel und den Blick von außen wolle sie mit ihren Büchern auch ihr eigenes Chaos ordnen. Derzeit arbeitet sie an ihrem ersten rein literarischen Werk. Und wieder wird es um sie selber gehen.
"Irgendwo sehe ich die reine Literatur, also ohne Bilder, schon irgendwie als so eine herausstechende Weise von Kunst. Sie ist so entkleidet der ästhetischen Hilfsmittel und hat deswegen so etwas Rohes. Ich glaube, das möchte ich dann doch in diesem Buch auch mal in seiner Nacktheit ausreizen."