Barbara Yelin: Irmina
Reprodukt-Verlag, Berlin 2014
300 Seiten, 39 Euro
Eine Frau auf der Suche nach Freiheit
Eine junge Frau geht nach England und trifft einen wunderbaren Freund: den dunkelhäutigen Howard aus Barbados. Dann kehrt sie nach Deutschland zurück und heiratet einen SS-Mann. Die Autorin Barbara Yelin zeichnet in dem Comic "Irmina" das widersprüchliche Leben einer Frau im Dritten Reich nach - ohne zu werten.
Barbara Yelin sitzt am riesigen Besprechungstisch des Reprodukt-Verlags in Berlin. Vor ihr liegt, groß und gewichtig, ihr neuer Comic-Roman "Irmina"
"Das Buch ist inspiriert von Fundstücken, die ich im Nachlass meiner Großmutter gefunden habe. Auch von dem ein oder anderen, wenigen, was sie mir erzählt hatte. Die ist schon lange tot. Ich bin mit diesen Inspirationen losgegangen und hab' mich sowohl mit Recherche als auch eben ganz viel mit meiner Haltung als Romanschreiberin oder -zeichnerin auf die Suche nach ner Geschichte gemacht. Und es ist ganz definitiv keine Biografie, das war auch nicht mein Ansinnen, sondern eben ein Roman vor dem Hintergrund tatsächlicher historischer Ereignisse."
Auf dem Cover von "Irmina" sitzt eine unternehmungslustige junge Frau auf dem Gepäckträger eines Fahrrads und hält sich an ihrem Chauffeur, einem dunkelhäutigen jungen Mann fest. Darunter: die Zeichnung einer grauen zerbombten Stadt gegen Ende des Zweiten Weltkriegs. Mittendrin steht eine Frau mit einem schweren Rucksack, die einen kleinen Jungen an der Hand hält.
"Im Buch ist es ja so, die Irmina ist 19, geht nach England, wollte eigentlich studieren. Das hat aber nicht geklappt, und sie macht 'ne Ausbildung zur Fremdsprachensekretärin, kämpft sich da wirklich durch. Sie trifft den Howard auf einer Party, und Howard kommt eben aus ner ganz anderen Welt, aus Barbados, damals britische Kolonie. Und er ist dunkelhäutiger Stipendiat, das war einer der begehrten Stipendiatenplätze aus den Kolonien. Die beiden treffen sich auf 'ner Party. Hier entsteht eben diese widersprüchliche, aber gleichzeitig wunderbare Freundschaft der beiden."
Die freiheitsliebende Irmina heiratet einen Nationalsozialisten
Den Studenten Howard hat Barbara Yelins Großmutter tatsächlich in England kennengelernt, und sie ist auch tatsächlich Mitte der 30er-Jahre wieder nach Deutschland zurückgegangen. Danach aber beginnt das eigentliche Thema in Barbara Yelins Comic: der Alltag im Dritten Reich. Denn die bisher so freiheitsliebende Irmina findet Arbeit im Kriegsministerium, passt sich immer mehr an die politischen Gegebenheiten an und heiratet irgendwann den überzeugten Nationalsozialisten Gregor.
"Ich hab' versucht, nicht so 'ne Schablonenhaftigkeit von Gut und Böse zu schaffen. Von diesen in Anführungsstrichen 'normalen' Deutschen, wie sie sich ja selbst im Buch mal bezeichnet, diesen Mitläufern beziehungsweise noch deutlicher Sympathisanten und eben Vorteilsnehmern. Ich glaube, dass man stark versucht ist, grade auch als Enkel oder Urenkel, sich für ein Gut oder Böse zu entscheiden. Und dass es eben beides gibt, ist irre schwer auszuhalten."
Vom Zeitgeschehen erfährt man in "Irmina" immer nur so viel, wie auch die Hauptperson selber weiß oder wissen will. Inspiration für ihren Comic kam für Barbara Yelin dabei unter anderem aus der Literatur. Julia Franks "Die Mittagsfrau" war ein wichtiges Buch für die Zeichnerin. Auch dieser Roman basiert teilweise auf der Lebensgeschichte von Julia Franks Großmutter während der 30er- und 40er-Jahre in Deutschland.
"Und das hat mich, in der Art der Erzählung, dass sie keine Schuld und Unschuld beschreibt, und keine Wertigkeit macht, sondern 'nen ganz harten Lebenslauf auch darstellt aus der Innensicht, das hat mich sehr berührt und nachdenklich gemacht."
In "Irmina" gibt es klassische Comic-Seiten, die in mehrere Panels, also Einzelbilder unterteilt sind, mit Sprechblasen und Lautworten. Es lassen sich aber auch auffällig viele Zeichnungen, Porträts, ja ganze Seiten vollkommen ohne Worte entdecken. Eine solche Schlüsselszene sind die Novemberpogrome von 1938.
"Das Thema ist gegessen - die sprechen einfach nicht darüber"
"Da hab' ich versucht, mit wenig Worten diese Szenerie zu zeigen, dass da die Synagogen angezündet waren, Juden wurden mitgenommen, abtransportiert, geschlagen, erniedrigt. Und diese Masse von Leuten, die standen einfach dabei, die haben nichts dagegen getan. Die haben, ist jetzt historisch auch klar, nicht alle mitgemacht. Aber die standen einfach dabei. Und das zu zeigen – und eben auch später auf Worte zu verzichten, als der Mann, der bei der SS ist, nach Hause kommt. Und sie weiß ja, wo der jetzt dabei war. Die fragt vielleicht einmal kurz, 'Sag mal'', voller Angst auch, 'Wo warst du?'. Und er sagt, 'Darüber sprechen wir nicht!', und damit ist das Thema gegessen, die sprechen darüber einfach nicht mehr."
Barbara Yelins bisherige Comic-Bücher waren vor allem mit Bleistift gezeichnet. In ihrem neuen Werk finden sich neben grauen und schwarzen Umrisslinien auch ausgewählte Einzelfarben: Hellblau im ersten, Signalrot im zweiten und Türkisgrün im letzten Teil des Comics. Und in diesem dritten Comic-Teil, der manchmal fast hoffnungsfroh wirkt durch die türkise Zusatzfarbe, erzählt Barbara Yelin dann noch einmal eine wahre Geschichte. In den 80er-Jahren erlebte ihre Großmutter tatsächlich ein Wiedersehen mit Howard in dessen Heimat Barbados.
"Sie ist auf der Suche nach der Freiheit. Erstaunlicherweise findet sie die auch dort nicht. Weil natürlich, diese Insel, das ist natürlich auch 'ne Projektion ihrer Wünsche gewesen. Freiheit, das ist nicht in erster Linie 'ne Entscheidung, wo man das jetzt ist. Das geht nicht leichter auf Barbados. Da hab' ich lange überlegt. Ob es vielleicht eine Möglichkeit für sie gibt, zu einem kleinen Sich-Eingestehen oder Aufbruch. Und hab auch hier versucht, das nur in Bildern zu lösen."