Auf der Suche nach dem verschollenen Vater
Der Münchner Comic-Künstler Uli Oesterle veröffentlicht seit 20 Jahren Graphic Novels. Derzeit arbeitet er an einem 500 Seiten starken, extrem persönlichen Werk mit dem Titel "Vatermilch". Gepinselt wird bei ihm vorwiegend digital, auch wenn das Produkt später auf Papier erscheint.
Uli Oesterle schreibt seine Signatur auf dem digitalen Zeichentisch: Oest-erle, in einem Quadrat. Man hört es deutlich. Dazu erklingt Musik: Thomas Newmans "Green Mile - Main Theme".
"Ich höre sehr, sehr gerne Musik zum Arbeiten. Um klare Gedanken fassen zu können, brauche ich sehr ruhige, tragende Musik, die mich überlegen lässt, die mich nachdenken lässt – gerne auch Filmmusik. Green Mile war auch ein super Soundtrack."
Aufgeräumte Akustik, Ordnung am Arbeitsplatz
Schwelgerisch-traumwandelnde Klanglandschaften von Hollywood-Blockbustern: Uli Oesterle entfremdet sie zum akustischen Setting seines geschwungenen Pinselstrichs. Aufgeräumte Akustik, dazu passt die Ordnung am Arbeitsplatz:
"Ein weißer Schreibtisch ist für mich das Beste, um sich zu konzentrieren und nicht abgelenkt zu werden."
Tatsächlich ist die zur Bürogemeinschaft umfunktionierte Altbauwohnung in München-Schwabing mehr aufgeräumt als chaotisch. Neun Künstler teilen sich die Räumlichkeiten: Hier entstehen Info-Grafiken und Magazin-Illustrationen und Wimmelbilder, die zu Puzzles werden. Gepinselt wird vorwiegend digital, auch wenn das Produkt später auf Papier erscheint: wie Uli Oesterles Comics. Schon seit 20 Jahren veröffentlicht der 1966 in Karlsruhe geborene und in München lebende Künstler Graphic Novels. Er sagt:
"Es gibt mittlerweile ja viel davon, und da gibt es ganz oft Sachen, die sehr autobiographisch sind, da wird dann einfach das Leben nacherzählt so wie es war – auch wenn es stinklangweilig war. Bla, bla, bla, bla, bla."
Das Leben schreibt die Stories
Uli Oesterle trägt Baggy-Pants, verwaschenes T-Shirt und Schiebermütze, flätzt sich in die zerschlissene, beige Leder-Couch in seinem Büro und packt aus – seine Storys schreibt das Leben, seine Comics sind Kamikaze: Mit "Hector Umbra" veröffentlicht er 2009 einen wahnwitzigen Trip durch den Münchner Underground, in seinem Debüt "Schläfenlappenphantasien" setzt er sich 1999 mit psychischen Störungen auseinander. Das kommt nicht von irgendwo her.
"Das hat damit zu tun, dass ich Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre, so mit 23, eine Aphasie hatte, eine Art Gedächtnisausfall aufgrund von Drogenmissbrauch: Da kann man Worte nicht mehr lesen, Schrift nicht mehr lesen und Zahlen nicht mehr lesen und versteht auch das gesprochene Wort nicht mehr. Das ist total crazy."
Kurze Unterbrechung: Uli Oesterles Mutter ist am Telefon. Dann ist es Zeit, um mit Simon Spruyt zu skypen. Gemeinsam mit Uli Oesterle eröffnet der Belgier heute die 7. Hamburger Graphic Novel Tage. Thema des ersten Abends: Familie als Herausforderung.
Wie ist es denn bei Spruyt so? Comic-Künstler, Freiberufler, zwei Kinder!
"Für mich macht es das einfacher, zuhause zu arbeiten und für meine Kinder da zu sein, flexibel zu sein und sie auch mal von der Schule abzuholen."
(Un-)Vereinbarkeit von Familie und Kunst
Die Internet-Verbindung nach Belgien ist mies, klingt außerweltlich und passt so gar nicht zum feinen Pinselstrich von Simon Spruyts aktueller Graphic Novel "Junker – ein preußischer Blues". Aber Moment mal: Ein Belgier, der in seiner Kunst das preußische Deutschland aufarbeitet?
"Die Thematik habe ich mehr oder weniger durch Zufall entdeckt: Eigentlich habe ich für ein anderes Buch recherchiert und bin in der Literatur auf eine Preußische Figur gestoßen. Die hat mich so fasziniert, dass daraus diese Geschichte zweier ungleicher Brüder in Preußen kurz vor dem Ersten Weltkrieg entstand."
Simon Spruyt und Uli Oesterle werden sich bei den 7. Hamburger Graphic Novel Tagen zum ersten Mal begegnen – bei einer von Andreas Platthaus moderierten Podiumsdiskussion. Oesterle sagt dazu:
"Das Hauptthema, das über unserem Künstlergespräch steht, ist die Vereinbarkeit – oder Unvereinbarkeit – von Familie und der Kunst des Comics, der Graphic Novel."
Gerade arbeitet Oesterle an einem zweibändigen, 500 Seiten starken Mammutwerk, "Vatermilch", in dem er die Geschichte seines 30 Jahre verschollenen und lange Zeit obdachlosen Vaters aufarbeitet. Auch eine Familiengeschichte – aber fiktional überhöht.
"Ich glaube, das Korsett der Wahrheit bei autobiografischen Geschichten, das wird für viele Leute zum Problem."
Die Basics des Zeichnens lernen
Für Laien beginnen die Probleme beim Comic-Zeichnen schon viel früher: Wie entsteht eine Figur? Wie gibt man ihr ein Gesicht? Am zweiten Tag der Hamburger Graphic Novel Tage können zwölf Teilnehmer das bei Uli Oesterle in einem Comic-Workshop lernen. An seinem Münchner Büroschreibtisch demonstriert er schon mal die Basics:
"Aber, äh… Das sieht man ja gar nicht im Radio", merkt Oesterle an.
"Das ist ja das Reizvolle", sage ich als Autor.
Oesterle lacht.
Auf einem 27-Zoll-Tablet kritzelt Oesterle geometrische Figuren: Ovaler Kreis, gleichschenkliges Dreieck. Oesterle erklärt:
"Da gibt es so eine Übung, wo man aus geometrischen Formen ein Gesicht macht."
"Dreieck mit Spitze nach unten", sage ich.
Oesterle legt los:
"Da kann man da hier zum Beispiel mit Kinnbart schon mal anfangen. Dann die Nase. Man könnte natürlich auch ein umgekehrtes Dreiecke, mit der Spitze nach oben versuchen zu machen, dann ist das halt eher so ein breiter character, eher so ein dicker Mensch, der im unteren Drittel nichts außer Kinn und Doppelkinn hat."
Der Humor darf natürlich auch in der Graphic Novel nicht fehlen. Auch wenn die Geschichten manchmal bitter ernste Lebenswelten nachzeichnen.
Für die Online-Version bearbeitet (mf)