"Radium Girls - ihr Kampf um Gerechtigkeit"
Geschrieben und gezeichnet von Cy
Aus dem Französischen von Christiane Bartelsen
Carlsen Verlag, Hamburg 2021
136 Seiten, 20 Euro
Comic "Radium Girls"
In "Radium Girls" von Cy wird das Schicksal von jungen Frauen gezeigt, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts unwissentlich während ihrer Fabrikarbeit vergifteten. © Carlsen Verlag / Cy
Tödliche Leuchtfarben
06:46 Minuten
Der Comic "Radium Girls" erzählt die wahre Geschichte von Arbeiterinnen, die unwissentlich in einer Uhrenfabrik vergiftet werden - die dramatischen Folgen werden erst Jahre später klar. Zeichnerin Cy will verhindern, dass die Frauen in Vergessenheit geraten.
Die Frauen, deren Geschichte erzählt wird, waren oft 15 bis 20 Jahre alt und bemalten ab 1917 Ziffernblätter für Uhren und Messinstrumente mit Leuchtfarbe, im Akkord, in einer Werkstatt in Orange im US-Bundesstaat New Jersey, die glamourös "Studio" genannt wird. Ein kurzer neuer Comic aus Frankreich, "Radium Girls - ihr Kampf um Gerechtigkeit" will verhindern, dass die Arbeiterinnen "ein zweites Mal vergessen werden".
Sozialer Aufstieg, Luxus und Partys
"Radium Girls" zeigt sechs unverheiratete Frauen, die plötzlich gut verdienen, sich wertgeschätzt fühlen, in der Gemeinde auffallen. Durch die Perlen, Kleider und Frisuren, die sie sich leisten können. Und durch den leuchtenden Staub, der sich im Haar absetzt, an den Händen und so auffällig in der Kleidung, dass sie bald, bevor sie tanzen gehen, ihre besten Stücke im "Studio" tragen.
Die Autorin und Zeichnerin Cy (Cyrielle Evrard), geboren 1990, erzählt das Miteinander und die Freundinnenschaft in einem simplen, kraftvollen Stil: Die Gesichter haben Knopfaugen und ausdrucksstarke Kermit-der-Frosch-Münder, die Körper posieren wie Art-Deco-Figuren, und aus einer Palette mit nur sechs Buntstiften (viel Lila, Rosa, zartes Leuchtgrün) entstehen einfache, präzise, handgemalte Zeit- und Stimmungsbilder. Ein Fest, diese Frauen beim Jungsein, Feiern, Leuchten, Quatschen und Stärker-Werden zu sehen.
Dass Radium zu Verbrennungen führen kann, war seit 1901 bekannt. Doch weil selbst zu Höchstzeiten in den USA landesweit nur 190 Gramm Radium pro Jahr erzeugt wurden und die Leuchtfarbe nur geringste Spuren enthielt, galten Radium-Produkte als teurer, edler neuer Trend. Die Frauen bemalten sich heimlich Nägel und Zähne, nahmen Radium für Malübungen mit nach Hause, ganze Zimmerwände wurden in Leuchtfarbe gestrichen.
Radium-Limonade galt als belebend, in Deutschland warb die Zahncreme Doramad noch im Zweiten Weltkrieg: "Besondere biologische Heilwirkungen durch Radium-Strahlen. Tausendfach ärztlich verordnet und empfohlen."
Während in Europa Leuchtfarbe meist mit Schwämmen oder Spateln auf Ziffernblätter getragen wurde, nutzen geschätzt 4.000 Arbeiterinnen in den USA meist einen feinen Kamelhaarpinsel. Um ihn in Form zu halten, nahmen sie die Spitze in den Mund. Wie auch bei Kalzium lagerte sich das Radium in den Knochen ab und strahlte vom Kiefer in den ganzen Körper.
Ein beliebtes, doch recht schleppend und kitschig geschriebenes Sachbuch von Kate Moore, "The Radium Girls" (2017) erzählt erschöpfend von allen Hintergründen und Behördengängen.
Schwere Krankheiten und Tod
Der Comic pickt sich aus dieser Flut von Medizin-, Justiz-, Wirtschafts- und Lokalpolitik-Skandalen von 1917 bis ca. 1938 nur die stärksten, markantesten Bilder raus:
Wie widersprüchlich und beliebig die Symptome scheinen (lockere Zähne, Knochenschäden, Tumore, Gelenkschmerzen, schlechte Wundheilung, Fehlgeburten und ein Unterkiefer, der oft stückweise durchs Fleisch bricht), wie lange es dauert, bis die Frauen überhaupt verstehen, dass überdurchschnittliche viele Arbeiterinnen, oft seit Jahren nicht mehr in der Fabrik beschäftigt, erkrankt sind.
Wie Ärzte, die für jede Behandlung viel Geld verlangen, zuerst sagen "Syphilis? Diphtherie?" und wie Firmen, auch als schon erste Prozesse geführt und gewonnen werden, an anderen Standorten weiter ohne Schutzmaßnahmen produzieren lassen.
Eine Story nach wahren Begebenheiten
Vieles bleibt im Comic vage, wolkig, ungefähr, wie in einem surrealen Albtraum. Darum half begleitend auch das Sachbuch "The Radium Girls" zu lesen: Viele Stellen, die im Comic ausgedacht wirken, zugespitzt oder wie künstlerische Freiheiten, trugen sich - unglaublicherweise - genauso zu.
Auch das lange Interview mit Cy, die auch auf Youtube mit Videos übers Zeichnen und Illustrieren erfolgreich ist, hilft. Wer welchem Schadstoff, welcher Krankheit ausgesetzt ist, welche Fabriken offenbleiben, wie Frauen und Arbeiterinnen bis heute oft weggeworfen werden: "Radium Girls" erzählt das warmherzig, präzise, immer verspielt, doch nie verkitscht.
Und ohne das Unmaß von Fußnoten, Erklärtextchen und Wikipedia-artigen Sprach-Wüsten, das viele andere Sach- und Geschichts-Comics verdirbt. Und, keine Überraschung: Das Buchcover leuchtet im Dunkeln.