James Tynion IV (Handlung), Werther Dell'Edera (Zeichnungen): "Something is Killing the Children: Teil Eins"
Aus dem amerikanischen Englisch von Katrin Aust
Splitter Verlag, Bielefeld 2020
144 Seiten, 19,80 Euro
Wenn tote Kinder niemanden mehr verstören
Monsterjagden, eine gleichgültige Kleinstadt, aber auch viel Zivilcourage und Herz: Der Horrorcomic "Something is Killing the Children“ erzählt packend von gruselig aktuellen gesellschaftlichen Dilemmata.
Archer's Peak ist ein Provinznest im Mittleren Westen der USA, in dem seit Wochen Kleinkinder und Teenager verschwinden. Herbstliche Wälder, ein müder Sheriff, schummrige Bars, Motels und Diners: Bildwelten wie aus "Fargo" oder von Stephen King.
Bis Erica Slaughter anreist, sich eine Kettensäge kauft und im Stil von feministischen Horror-Heldinnen wie Buffy ausgewählten Provinzlern erklärt: "Bei euch hat sich ein Monster eingenistet, das Kinder frisst und sie als Vorrat in Höhlen verschleppt. Lasst mich mal machen!"
Seit Herbst 2019 erscheint "Something is Killing the Children" als monatliche US-Heftreihe. Je fünf Hefte werden als Sammelband zweitveröffentlicht, und der deutschen Übersetzung von Band 1 (Heft 1 bis 5 von bisher elf) ist großer Erfolg zu wünschen: ein zugängliches, packendes Gruselabenteuer, das auch Menschen ohne viel Comicerfahrung mitreißen will.
Figuren, die mit sich reden lassen
Ein kühler Ort, vermisste Kinder, kollektives Wegsehen und Trauma: Russell Banks' Roman "Das süße Jenseits" (1997 auch sehenswert verfilmt) denkt das psychologisch durch: Was fehlt? Wer leidet? Wer fühlt sich schuldig? "Something is Killing the Children" setzt einen anderen, überraschenden Fokus: Die geheimnisvolle, doch nicht sehr diskrete Monsterjägerin Erica spricht und streitet mit Institutionen, der Polizei etwa und der Gerichtsmedizin.
Auch die zweite Hauptfigur – James, ein schwuler, einsamer Schüler, der einen Angriff überlebte – hat lange Gespräche unter anderem mit dem Rektor oder Erica. Die große Überraschung: Viele Figuren hier im Comic lassen mit sich reden, reagieren beherzt oder emphatisch, vertrauen einander, schauen nicht weg!
So zeigt "Something is Killing the Children" zwar einerseits in aller Härte eine kleine Welt, in der tote oder vermisste Kinder Hintergrundrauschen bleiben oder eine lästige Störung zum Beispiel im behördlichen Alltag. Andererseits lassen sich viele Nebenrollen wachrütteln, umstimmen, fassen Vertrauen ineinander und wachsen über sich hinaus.
Heiligt der Zweck die Mittel?
Erica selbst wurde von einer geheimen Organisation geschickt, die Monster beseitigen, doch möglichst viel vertuschen will – und so haben James und Erica nach "oben" (bedrängt von einer zynischen und patriarchalen Verwaltung, den Wächtern aus "Buffy" ähnlich) und nach "unten" (Provinz-Muggel, die nichts von Monstern wissen oder wissen wollen) interessante, gruselig aktuelle Debatten übers Wegsehen und Einschreiten, Befugnisse, Alleingänge, Abstimmungen, bei jedem Schritt drei neue "Der Zweck heiligt die Mittel"-Dilemmata.
Das Leben, die Sicherheit und die Psychologie einzelner Kinder bleibt hier fürs Erste so abstrakt wie in vielen aktuellen "Die US-Regierung sperrt Kinder in Käfige in Abschiebelagern. Was tun wir dagegen?"-Debatten: Der Horror ist nicht, dass im Waldstück halb gefressene, halb verdaute, sterbende Kinder übersehen und vergessen werden, sondern, wie jede Figur und jede Institution entscheiden muss, was sie selbst opfern und riskieren will, bis kein einziges Kind mehr in Gefahr ist.
Persönlich und ausufernd
Autor James Tynion, geboren 1987 in Wisconsin, ist seit 2012 einer der wichtigsten jüngeren Autoren bei DC Comics: In Heftreihen wie "Detective Comics" (langatmig, aber recht lesenswert), "Justice League Dark" (überfrachtet) und aktuell "Batman" (liest sich wie Fan-Fiction) will er philosophieren, Vielfalt und Queerness abbilden, zig Figuren in ewig lange Gespräche stopfen – und kommt oft kaum vom Fleck.
"Something is Killing the Children" hat stimmungsvollere Zeichnungen von Werther Dell'Edera, pointiertere Kapitel, viel mehr Zugkraft: James Tynion plante anfangs nur eine Kurzgeschichte - und war selbst überrascht, wie persönlich und ausufernd sein Comic seitdem wird: besonders, sagt er, seit der Entscheidung, Figur James autobiografischer anzulegen.
Ich hoffe auf vier, sechs Sammelbände – genug Zeit für Katz-und-Maus-Duelle, Machtkritik und, bitte doch: auch einige Kinder-Charaktere, die mehr sind als Symbol- und Schachfigur.