"Man muss nicht als Heldin geboren sein"
Pénélope Bagieu, geboren 1982, gehört zu den erfolgreichsten Frauen der französischen Comic-Szene. In "Unerschrocken" porträtiert sie 15 bewundernswerte, manchmal auch beängstigende Frauen, die man nicht in Geschichtsbüchern findet.
Frank Meyer: Eine der erfolgreichsten Frauen in der französischen Comicszene ist Pénélope Bagieu. Sie ist Jahrgang 1982, in Frankreich stehen ihre Comics immer wieder an der Spitze der Bestsellerlisten. Bei uns sind bisher drei Bücher von ihr erschienen, jetzt kommt ein neues dazu: "Unerschrocken. 15 Porträts außergewöhnlicher Frauen" ist der Titel. Ich habe vor der Sendung mit Pénélope Bagieu gesprochen und sie zuerst gefragt: Das sind 15 tolle Frauen, manchmal auch etwas beängstigende Frauen. Wenn Sie sich jetzt entscheiden müssten für eine allertollste unter diesen tollen Frauen, welche wäre das denn?
Pénélope Bagieu: Ja, unter den ersten 15 Frauen ist es dann wohl doch Nzinga, die Königin von Angola, die von ihrem Bruder wirklich miserabel behandelt wurde und die sich mit 16 Jahren schon an die Spitze eines Reiches gesetzt hat. Und wenn ich an sie denke und vergleiche, was ich mit 16 Jahren zustande gebracht habe, dann beeindruckt das mich schon sehr.
Unbekannte Seite der Josephine Baker
Meyer: Nzinga ist eine bei uns weniger bekannte Frau. Sie erzählen eigentlich zwei Arten von Geschichten, würde ich sagen: die einen eben von Frauen, die man bei uns kaum kennt, zumindest in Deutschland kaum kennt, zum anderen dann prominente Frauen, von denen Sie unbekannte Seiten aufdecken. Josephine Baker zum Beispiel, wenn wir die mal nehmen, wenn man jemanden in Deutschland fragt, die meisten dürften sagen: Ah klar, Bananenröckchen, viel nackte, dunkle Haut, Tänzerin in Paris, wahrscheinlich wird ihnen nicht viel mehr einfallen. Was wollten Sie denn mehr von Josephine Baker erzählen?
Bagieu: Josephine Baker ist auch in Frankreich nicht wirklich bekannt. Das heißt, man assoziiert sofort das Bananenröckchen mit ihr und nicht sehr viel mehr. Da ich mir zur Aufgabe gemacht habe, Frauen bekannt zu machen und auch auf bekannte Frauenleben zu gucken, wollte ich einfach Facetten herausfinden, die absolut bewundernswert sind. Josephine Baker zum Beispiel hatte ein enorm ausgeprägtes politisches Bewusstsein. Sie hat die USA verlassen, ist geradezu geflohen, weil sie sich dort eingeschränkt und gegängelt gefühlt hat. In Frankreich hatte sie mehr Freiheit, obwohl ihr auch dort Rassismus begegnet ist, unter dem sie gelitten hat. Sie hat aber eine trotzdem sehr starke Bindung an Frankreich empfunden und deshalb auch für die Résistance in den Jahren des Zweiten Weltkriegs spioniert, und sie hat auch Botschaften auf Kompositionen, also auf Notenpapier in Umlauf gebracht. Nach dem Krieg ist sie dann für ihren Einsatz als Spionin ausgezeichnet worden.
Meyer: Und wenn wir auf die hierzulande wenig bekannten oder kaum bekannten Frauen schauen, von denen Sie erzählen in Ihrem Buch, da fand ich die Mirabal-Schwestern ganz beeindruckend. Die Schwestern haben gegen einen Diktator in der Dominikanischen Republik gekämpft, obwohl sie eingesperrt wurden, gefoltert wurden. Das waren ungemein mutige Frauen, nicht wahr?
Bagieu: Ja, die Schwestern Mirabal haben mich schon sehr beeindruckt, und besonders schlagend fand ich, dass sie aus einem nicht politischen Elternhaus kommen, sondern aus wohlhabenden Verhältnissen. Sie sind aufgewachsen, konnten sich amüsieren gehen, sie hatten ein wirklich leichtes Leben. Und dann passiert etwas, das reicht, um sich zu politisieren. Ich fand an ihrem Beispiel schlagend, dass man erkennt: Man muss nicht zur Heldin geboren sein, es reicht, dass etwas passiert, und das Leben nimmt einen anderen Verlauf.
Meyer: Und was war das, was da passiert ist bei diesen Schwestern, was sie so in die Politik gebracht hat?
Bagieu: Eine der Schwestern war einfach eine sehr schöne Erscheinung. Sie war 15 Jahre alt, als sie von dem damals amtierenden Diktator verführt werden sollte, also, er hat sich an sie herangemacht, hat ihr nachgestellt. Es war ihr so lästig, sie hatte genug von ihm, er war dick, er war unansehnlich, sie hat ihn abgewiesen. Und das hatte zur Folge, dass ihre Familie darunter zu leiden bekam. Sie wurden umstellt, sie wurden verfolgt. Diese junge Frau, diese junge Schwester Mirabal ist in die Politik getrieben worden. Sie hat dann auf ihrem Weg andere junge Leute getroffen, mit denen sie sich verbunden hat, sie kam ins Gefängnis. So verlief ihr Leben. Und alles, weil sie einen Diktator abgewiesen hat.
"Es ist immer schwierig gewesen, sich zu behaupten"
Meyer: Was ich an Ihrer Art zu erzählen in den Bildern, auch in Ihren Texten so sympathisch finde, dass Sie so einen ganz leichten Ton anschlagen. Manchmal ist das ungemein lustig, um noch mal auf Josephine Baker zum Beispiel zu schauen, wenn die da tanzt in ihrem Bananenröckchen, den anwesenden Herren springen quasi die Augen aus dem Kopf, als sie Josephine Baker da sehen … Sie machen das aber auch, diesen leichten Ton, selbst wenn Sie von eigentlich ganz grausamen Dingen erzählen. Diese afrikanische Königin zum Beispiel, Nzinga: Erst lässt ihr Bruder, der König ist, ihren Sohn töten, Nzingas Sohn, und sie lässt daraufhin später den Sohn dieses Bruders umbringen, wenn nicht sogar ihn selbst. Und dann steht da ganz lapidar: Na, ich geb's zu, ich habe ihn umbringen lassen! Warum erzählen Sie solche grausamen Dinge, wie eben die Tötung eines Kindes, auch in so einem leichten Ton?
Bagieu: Also, was mich am meisten interessiert, ist einfach, eine Geschichte zu erzählen. Es geht nicht unbedingt darum, sich nur auf das Wahre zu konzentrieren, darauf zu fokussieren. Ich nehme mir durchaus Freiheiten als Autorin, auch als Zeichnerin. Es soll eine gute, glaubwürdige Geschichte sein, denn es geht ja nicht darum, etwas aus ihr zu lernen. Dann kann man das Ganze auch abkürzen, dann kann ich eine Seite in Wikipedia aufschlagen und mich informieren. Ich nehme mir die Freiheit, abzukürzen, Lebenswege zu verkürzen, Akzente zu setzen, auch Zeitsprünge vorzunehmen. Die Geschichte soll interessieren, sonst überzeugt sie nicht.
Meyer: Ich dachte aber auch beim Lesen, durch eben diese leichte Art des Erzählens nehmen Sie die große Dramatik, das ganz Tragische raus aus diesen Geschichten, selbst wenn es eigentlich da ist. Und eigentlich vermittelt Ihre Art des Erzählens die Botschaft: Es ist gar nicht so schwer, unerschrocken zu sein, mutig zu sein, außergewöhnlich zu sein. War das vielleicht auch Ihre Absicht, mit dieser Art des Erzählens?
Bagieu: Also, wenn ich eine Botschaft habe, dann sicherlich diese: Es ist immer schwierig gewesen, sich zu behaupten, zu jeder Zeit. Und das entlastet auch. Die Probleme bestehen, weil man in einer Gesellschaft lebt, weil man mit Eltern zu tun hat, weil man von Medien umstellt ist, darauf zu reagieren, halt auch beeinflusst ist. Ich setze auf die Solidarität und die gegenseitige Ermutigung. Und natürlich kann man Umwege nehmen, man kann Parallelwege gehen, nichts ist einfach.
Meyer: Und diese aufsässigen Frauen, von denen Sie erzählen, unerschrockenen Frauen, sind das eigentlich auch für Sie selbst Vorbilder, Ermutigungen? Also, wenn Sie so etwas überhaupt brauchen?
Bagieu: Sicher ist, dass man nicht werden kann, was man nicht kennt, wovon man keine Ahnung hat. Wenn ich daran zurückdenke, wie ich aufgewachsen bin, als ich kleiner war, dann Jugendliche auch, und ich habe sehr viele Comics gelesen, die Helden dieser Comics, das waren Tim und Struppi, das war Asterix, das waren männliche Helden. Die Frauen in diesen Bänden waren geradezu unsichtbar. Und ich habe mir gedacht, als ich größer wurde: Wenn man vorankommen will, muss man wohl ein Mann sein! Und mir geht es heute als erwachsene Frau, als Zeichnerin darum: Es gibt 100 Frauen, 1.000 Frauen, die Vorbildcharakter haben, die einfach cool sind! Man muss sie zeigen!
"Der Stoff bietet auch etwas für Jungen!"
Meyer: Und haben Sie jetzt beim Zeichnen, beim Machen dieses Buches, dieser Geschichten auch gedacht an das Mädchen, das Sie selbst einmal waren, und an die Mädchen von heute? Also, besonders an junge Frauen, an Mädchen, die Sie heute zum Unerschrocken-Sein ermutigen möchten?
Bagieu: Natürlich. Das Buch ist letztes Jahr erschienen und bei der Gelegenheit habe ich dann in Frankreich sehr viele Leserinnen getroffen, junge Leserinnen, manche waren erst zwölf Jahre alt. Und darüber habe ich mich unheimlich gefreut. Aber natürlich bietet der Stoff auch etwas für Jungen! In gewisser Weise muss man das alles neutral sehen oder neutralisieren. Denn auch Jungen sollten sich inspirieren lassen von diesen weiblichen Vorbildern und daraus Schlüsse ziehen.
Meyer: Ihr Buch schlägt einen weiten historischen Bogen. Man ist oft in der Gegenwart, im 20. Jahrhundert, manchmal aber auch zum Beispiel in der griechischen Antike. Am Ende des Buches, in der letzten, der 15. Geschichte gibt es einen Sprung ins 7. Jahrhundert zur einzigen chinesischen Kaiserin, Wu Zetian. Warum haben Sie diese Frau jetzt ans Ende dieses Buches gesetzt? Vielleicht weil sie die größte Macht hat unter all Ihren unerschrockenen Frauen?
Wu Zetian - die einzige Kaiserin Chinas
Bagieu: Ich habe schon 30 Frauenpersönlichkeiten gezeichnet und Wu Zetian beschließt quasi den ersten Band. Der zweite Band fokussiert mehr auf heutige Frauen, also noch lebende Persönlichkeiten. Und mir hat es gefallen, den ersten Band zu beschließen mit einer Frau, die sehr viel Macht hatte, wie Sie gesagt haben. Sie war die wirklich einzige Kaiserin Chinas und erwähnt wird sie nirgends. Wenn überhaupt ein paar Worte zu finden sind über sie, dann ist es eine bemitleidenswerte oder eher verabscheuungswürdige Person, die negativ bedacht wird. Für mich ist sie eine der liebsten Persönlichkeiten geworden.
Meyer: Das ist jetzt interessant zu hören, weil das letzte Bild dieses Buches, dieses Bandes mit den ersten 15 Geschichten … Man muss dazu sagen, am Ende jeder Geschichte steht so ein großes, doppelseitiges Bild, das ist immer toll, weil man noch mal in die Gesamtheit dieser Geschichte versinkt mit diesem Bild. Aber am Ende der Geschichte der Kaiserin Wu Zetian, da sieht man so eine chinesische Gartenlandschaft, sehr apart mit einem Teich, einer geschwungenen Brücke. Auf der Brücke steht eine Frau, die wirft zwei Köpfe ins Wasser, zwei abgeschlagene Frauenköpfe segeln elegant ins Wasser, die Köpfe ihrer Konkurrentinnen sind das. Man kann das Bild jetzt so lesen: Wenn Frauen an der Macht sind, dann gehen auch sie über Leichen, man sollte kein zu romantisches Bild haben von Frauen. Liegt das für Sie auch in diesem Bild?
Bagieu: Ich habe das Wort "köpfen" tatsächlich verstanden, als Sie Ihre Frage gestellt haben! Ja, man kann einfach keine Porträts von Frauen zeichnen, die nur Vorbildcharakter haben sollen oder die uns beeindrucken, wenn man sich nur konzentriert auf solche, die schöne Lieder singen, die sanft sind, aufmerksam, bereit zu folgen, das geht nicht. Und wenn man ein Land führt, dann schon gar nicht, dann kann man nicht mit Sanftheit nur regieren. Sie war wirklich die Kaiserin des größten Reiches der Welt, das muss man sich ja auch klarmachen. Gegen sie wurden Komplotte geschmiedet, sie hat lauter Komplotte abwehren müssen, lauter Intrigen, mit denen man versucht hat, sie zu stürzen. Und ja, nebenbei gesagt, alle Kaiser haben dafür gesorgt, dass Köpfe rollten, das war etwas ganz Normales, letztlich nichts Außergewöhnliches.
Meyer: Faszinierende Geschichten in dem Buch, "Unerschrocken. 15 Porträts außergewöhnlicher Frauen" von Pénélope Bagieu. Am 1. Oktober wird das Buch im Reprodukt-Verlag erscheinen, mit 144 Seiten, der Preis: 24 Euro. Pénélope Bagieu, merci beaucoup!
Bagieu: Merci!
Meyer: Und vielen Dank an Sigrid Brinkmann, sie hat unser Gespräch hier übersetzt!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.