Der Erfinder der Graphic Novel
Will Eisner gilt als einer der wichtigsten Comiczeichner der USA. Er wandte sich mit seiner Arbeit erstmals nicht an Kinder, sondern an Erwachsene. Statt von Superhelden erzählte er lieber vom Alltag der Menschen in New York. Am 6. März 1917, vor 100 Jahren, wurde er geboren.
Hier werden nicht mehr kleine eingerahmte Bilder aneinandergereiht, um eine Geschichte zu erzählen. Hier fällt der Blick aus der Vogelperspektive in die engen Straßen und Hinterhöfe der Bronx. Er zoomt in die dunklen, stickigen Wohnungen der Menschen und erzählt in detailreichen Schwarz-Weiß-Bildern von ihrer Not während der Weltwirtschaftskrise der 30er-Jahre: von Hunger und Gewalt, von Hoffnungen und zerplatzten Träumen, vom Hadern mit Gott. Bis er ganz unten landet. Eine ganze Seite füllt das Gesicht des alten Jacob, der gerade entlassen wurde und nun zusammengebrochen auf der Straße liegt und Zwiesprache hält mit einer Kakerlake:
- "Na, Meister Küchenschabe? Wofür strampelst Du dich so ab?"
- "Nur, um ein paar Tage länger zu leben?"
- "Tja, um ehrlich zu sein, versuche ich genau dasselbe."
- "Aber was unterscheidet uns beide dann?"
Philosophische Gedanken in einem Comic, aufgeschrieben und gezeichnet von Will Eisner. Erschienen 1978 unter dem Titel "Ein Vertrag mit Gott", der ersten Graphic Novel der Comic-Geschichte.
"Ich betrachtete den Comic schon immer als literarische Gattung. Und ich wählte bewusst ein Thema, das ich für besonders anspruchsvoll hielt: die Beziehung zu Gott."
Sohn österreichisch-jüdischer Einwanderer
Will Eisner wurde am 6. März 1917 als Sohn österreichisch-jüdischer Einwanderer in Brooklyn geboren. Während der Großen Depression verarmte die Familie. Sie zog in die Bronx, wo Will Zeitungen verkaufen musste.
"So begann ich mich für Comics zu begeistern. In den Zeitungen lernte ich all die großen Zeichner wie George Herriman, Alex Raymond, Milton Caniff oder Elzie Segar kennen."
Eisner besuchte College und High School, lernte in einer Druckerei und begann zu zeichnen. 1936, gerade 19 Jahre alt, gründete er mit einem Freund ein Comic-Studio und belieferte Zeitungen mit den von ihnen verlangten Superhelden-Geschichten.
Dabei schwebte Eisner schon damals ganz anderes vor, sagt Andreas Knigge, Comic-Spezialist und ehemaliger Freund und Übersetzer von Eisner:
"Kinderkram. Man nahm das nicht ernst. Es war so Schmutz und Schund, 'Blasenfutter für Analphabeten'. Und Will Eisner sah eine Kunst darin. Er war eben der Meinung, dass sich der Comic auch als eine grafische Literatur betrachten kann, der sich mit ernsthaften Themen beschäftigen kann."
1940 erfand Eisner die Figur "The Spirit", dessen Geschichten jahrelang als Zeitungsbeilage erschienen. "The Spirit" war zwar weniger ein Action-Held als ein Beobachter des Großstadtlebens, doch noch immer ein Kompromiss.
Als Anfang der 50er-Jahre dann ein generelles Comic-Verbot drohte, weil das Medium mittlerweile als jugendgefährdend galt, reagierten die Verlage mit Selbstzensur.
"Und das war schlussendlich auch der Moment, der Will Eisner dann bewogen hat zu sagen, gut, also, mit meinen Ansprüchen, die ich an das Medium habe, was Anspruchsvolleres zu erzählen, das geht nun nicht mehr. Nun ziehe ich mich zurück."
Entwicklung der Graphic Novel
Über 20 Jahre lang zeichnete er Gebrauchsanweisungen für das Militär und didaktische Comics für Schulen. Erst Anfang der 70er-Jahre begann er wieder, richtig zu zeichnen. Angeregt durch die Comic-Underground-Szene um Robert Crumb, die abseits von Verlagen ihre eigenen Ideen verfolgte. Nun konnte er endlich die Form entwickeln, die ihm schon so lange vorschwebte: den gezeichneten Roman.
"Wenn man eine Geschichte schreibt, hat man in der Regel ein philosophisches Anliegen. Und ich stimme absolut nicht mit der Vorstellung überein, dass das für den Comic nicht gelten sollte. Wenn jemand sagt, er sollte nicht für politische Zwecke verwendet werden, dann ist es, als sage man, Du solltest keine Worte nutzen für politische Zwecke! Oder Film. Oder Fernsehen! Comic ist ein Medium."
Und so erzählte Eisner in "Ein Vertrag mit Gott", in "The Dreamer" oder "Das Komplott" über das, was ihn umtrieb: über den Alltag in der Bronx, über soziale Ungleichheit, Rassismus und Antisemitismus. Bald erhielt er erste Auszeichnungen. Es folgte eine Professur in New York. Und bis zu seinem Tod im Jahr 2005 widmete er sich immer wieder dem wohl wichtigsten Thema der Kunst: dem Menschen in seiner Zeit.
"Sehen Sie mich als zeichnenden Zeitzeugen, als zufälligen Beobachter, der vom Leben erzählt und vom Tod, der von tragischen Vorfällen berichtet und von der niemals endenden Mühsal, sich zu behaupten. Oder zumindest nicht unterzugehen."