Comics und Träume
Einblick in eine aufregende Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den USA geben Comics von Winsor McCay, der zu den Pionieren dieses Genres gehört. Die erste Retrospektive zum Lebenswerk des Künstlers ist jetzt in Hannover zu sehen.
Nachts geht der kleine Nemo auf abenteuerliche Reisen, obwohl er brav in seinem Bett liegt. Doch seine Träume sind übermächtig - König Morpheus braucht im Schlummerland unbedingt einen Spielgefährten für die Prinzessin und will deshalb "Little Nemo” in sein Reich holen.
Auf großformatigen Seiten hat Winsor McCay die fantastischen Traumerlebnisse des Jungen von 1905 an in Szene gesetzt: Das Große wird klein, das Kleine groß, Körper sind wie in einem Zerrspiegel in die Länge gezogen, Pflanzen erscheinen riesig, während Städte zur Spielzeuggröße schrumpfen. Und immer lauert da die Katastrophe: Insekten werden zu Monstern, eine Lokomotive fährt quer durch die Landschaft, der Boden entschwindet, Paläste stürzen ein. Museumsdirektor Hans Joachim Neyer zur Wirkung dieser Zeitungsseiten:
"Ich glaube, dass diese Zeitungsseiten durch die Farbigkeit wirken und durch die sehr fantasievollen Formen. In diesen Träumen laufen Stühle, kleine Kinder besteigen Wolkenkratzer, riesige Elefantenköpfe kommen einem entgegen - populär wie in einem Zirkus, vermittelt in einer sehr modernen Form."
Der fantastischen Wirkung zuliebe hat McCay die strenge Seitenarchitektur immer wieder aufgebrochen, die Bilder scheinen zu bersten, Bewegungsfolgen sind filmähnlich dargestellt. Die ornamentreichen Zeichnungen könnten vom Jugendstil beeinflusst sein und werden von Interpreten zudem in die Nähe der freudschen Traumdeutung gerückt. Alexander Braun, der Kurator dieser Schau:
"Ich denke, der wichtigste Einfluss ist, dass Winsor McCay aus einem Schaustellergewerbe kommt. Er hat zehn Jahre lang für Varietés und Dime Museen, also Kuriositätenkabinette gearbeitet und hat dort eine kreative Offenheit erlebt, die ins Skurrile und Surrealistische geht - allein schon durch die deformierte Anatomie.
Der Einfluss durch Sigmund Freud hat definitiv nicht stattgefunden. Von daher muss man wirklich sagen, dass McCay vergleichbar mit Freud ein Interesse am Traum und am Unbewussten entwickelt hat, ohne dass sich die beiden in irgendeiner Weise gekannt oder beeinflusst hätten."
Neben dem kleinen Nemo ist Winsor McCay durch andere Comic-Zeitungsserien aufgefallen: Ein Junge, der in denkbar unpassenden Augenblicken niest, sorgt für slapstickhafte Turbulenz. Verwandt mit der Nemo-Serie sind schließlich die Albträume verschiedener Menschen, die vor dem Schlafengehen unvorsichtigerweise noch einen Käsetoast verspeist haben. Auch hier eine Fülle grotesker Ideen: Eine Frau, die Männern möglicherweise schon immer ein Rätsel war, zerspringt in unendlich viele Puzzleteile. Und die kleine Erhebung, auf der ein Golfspieler seinen Ball zum Abschlag platziert hat, wächst unaufhörlich und wird zu einem Vulkan, der todbringende Lava ausstößt.
Winsor McCay publizierte in den Zeitungen des Verlegers James Gordon Bennett, bevor er 1911 zu William Randolph Hearst wechselte. "Little Nemo” erschien zunächst noch bis 1914 - vor allem aber hatte der gut bezahlte Zeichner den Auftrag, für Hearst politische Kommentare zu illustrieren. Eine Brotarbeit, die McCay dabei half, seinen eigentlichen Neigungen nachzugehen - das war das Experiment, Bilder in Bewegung zu setzen. Die Sequenzen mit dem kleinen Nemo in Aktion von 1911 werden von vielen Experten als erster Zeichentrickfilm überhaupt eingestuft. Und 1914 lernte das aufgeregte Publikum die Dinosaurierdame Gertie kennen. Gertie macht auf Wunsch eine Verbeugung, bewegt den einen, dann den anderen Vorderfuß, neckt ein Vieh und trinkt schließlich mühelos einen ganzen See leer. Solchen Trickfilmen galt der Ehrgeiz des innovativen Künstlers McCay:
"Diese frühen Zeichentrickfilme wurden nicht einfach als Filme vorgeführt, sondern waren Teil einer Bühnenshow, einer Varietévorstellung. Und Gertie, der Dinosaurier, der sich bewegt und verschiedene Dinge tut, war die Projektion hinter Winsor McCay. Er stand also live als Dompteur auf der Bühne und gab seiner Zeichentrickfigur Befehle. Das war eben sehr viel mehr als nur einen Trickfilm herzustellen, das war eine Interaktion zwischen verschiedenen Realitätsebenen."
Auch ein Trickfilmopus, das gegen den deutschen Kriegsgegner gerichtet war, ist in Hannover zu sehen: In schemenhaften, grafisch eindrucksvollen Bildern erzählt McCay 1918 vom Untergang des britischen Passagierschiffes "Lusitania”, verursacht durch deutsche U-Boot-Torpedos.
Winsor McCay ist hierzulande längst kein Unbekannter mehr. Vor Jahrzehnten schon faszinierten die Nachdrucke von "Nemo" ein subkulturell inspiriertes Publikum, das an Aufbruch und Bewusstseinserweiterung interessiert war. Diese mit Originalzeichnungen, Comic-Sonntagsseiten, politischen Illustrationen und Trickfilmen großartig bestückte Ausstellung ist nun der Versuch, den Zeichner und Filmemacher umfassend darzustellen und so seiner künstlerischen Bedeutung gerecht zu werden:
"In der Art, wie er Bilder für Albträume findet, ist er hochgradig surrealistisch - in einem demokratisierten Medium mit hoher Auflage für kleines Geld. Und dass die Kunstgeschichte das so nachhaltig, auch hundert Jahre nach McCay immer noch ausgrenzt und es nicht in ihren Kanon der Rezeption mit einschließt, ist einerseits ein Skandal - andererseits ist es das Schöne dieser Ausstellung, dass wir zeigen, wie notwendig es ist, dies jetzt nachzuholen."
Zur Homepage Wilhelm-Busch-Museum Hannover
Auf großformatigen Seiten hat Winsor McCay die fantastischen Traumerlebnisse des Jungen von 1905 an in Szene gesetzt: Das Große wird klein, das Kleine groß, Körper sind wie in einem Zerrspiegel in die Länge gezogen, Pflanzen erscheinen riesig, während Städte zur Spielzeuggröße schrumpfen. Und immer lauert da die Katastrophe: Insekten werden zu Monstern, eine Lokomotive fährt quer durch die Landschaft, der Boden entschwindet, Paläste stürzen ein. Museumsdirektor Hans Joachim Neyer zur Wirkung dieser Zeitungsseiten:
"Ich glaube, dass diese Zeitungsseiten durch die Farbigkeit wirken und durch die sehr fantasievollen Formen. In diesen Träumen laufen Stühle, kleine Kinder besteigen Wolkenkratzer, riesige Elefantenköpfe kommen einem entgegen - populär wie in einem Zirkus, vermittelt in einer sehr modernen Form."
Der fantastischen Wirkung zuliebe hat McCay die strenge Seitenarchitektur immer wieder aufgebrochen, die Bilder scheinen zu bersten, Bewegungsfolgen sind filmähnlich dargestellt. Die ornamentreichen Zeichnungen könnten vom Jugendstil beeinflusst sein und werden von Interpreten zudem in die Nähe der freudschen Traumdeutung gerückt. Alexander Braun, der Kurator dieser Schau:
"Ich denke, der wichtigste Einfluss ist, dass Winsor McCay aus einem Schaustellergewerbe kommt. Er hat zehn Jahre lang für Varietés und Dime Museen, also Kuriositätenkabinette gearbeitet und hat dort eine kreative Offenheit erlebt, die ins Skurrile und Surrealistische geht - allein schon durch die deformierte Anatomie.
Der Einfluss durch Sigmund Freud hat definitiv nicht stattgefunden. Von daher muss man wirklich sagen, dass McCay vergleichbar mit Freud ein Interesse am Traum und am Unbewussten entwickelt hat, ohne dass sich die beiden in irgendeiner Weise gekannt oder beeinflusst hätten."
Neben dem kleinen Nemo ist Winsor McCay durch andere Comic-Zeitungsserien aufgefallen: Ein Junge, der in denkbar unpassenden Augenblicken niest, sorgt für slapstickhafte Turbulenz. Verwandt mit der Nemo-Serie sind schließlich die Albträume verschiedener Menschen, die vor dem Schlafengehen unvorsichtigerweise noch einen Käsetoast verspeist haben. Auch hier eine Fülle grotesker Ideen: Eine Frau, die Männern möglicherweise schon immer ein Rätsel war, zerspringt in unendlich viele Puzzleteile. Und die kleine Erhebung, auf der ein Golfspieler seinen Ball zum Abschlag platziert hat, wächst unaufhörlich und wird zu einem Vulkan, der todbringende Lava ausstößt.
Winsor McCay publizierte in den Zeitungen des Verlegers James Gordon Bennett, bevor er 1911 zu William Randolph Hearst wechselte. "Little Nemo” erschien zunächst noch bis 1914 - vor allem aber hatte der gut bezahlte Zeichner den Auftrag, für Hearst politische Kommentare zu illustrieren. Eine Brotarbeit, die McCay dabei half, seinen eigentlichen Neigungen nachzugehen - das war das Experiment, Bilder in Bewegung zu setzen. Die Sequenzen mit dem kleinen Nemo in Aktion von 1911 werden von vielen Experten als erster Zeichentrickfilm überhaupt eingestuft. Und 1914 lernte das aufgeregte Publikum die Dinosaurierdame Gertie kennen. Gertie macht auf Wunsch eine Verbeugung, bewegt den einen, dann den anderen Vorderfuß, neckt ein Vieh und trinkt schließlich mühelos einen ganzen See leer. Solchen Trickfilmen galt der Ehrgeiz des innovativen Künstlers McCay:
"Diese frühen Zeichentrickfilme wurden nicht einfach als Filme vorgeführt, sondern waren Teil einer Bühnenshow, einer Varietévorstellung. Und Gertie, der Dinosaurier, der sich bewegt und verschiedene Dinge tut, war die Projektion hinter Winsor McCay. Er stand also live als Dompteur auf der Bühne und gab seiner Zeichentrickfigur Befehle. Das war eben sehr viel mehr als nur einen Trickfilm herzustellen, das war eine Interaktion zwischen verschiedenen Realitätsebenen."
Auch ein Trickfilmopus, das gegen den deutschen Kriegsgegner gerichtet war, ist in Hannover zu sehen: In schemenhaften, grafisch eindrucksvollen Bildern erzählt McCay 1918 vom Untergang des britischen Passagierschiffes "Lusitania”, verursacht durch deutsche U-Boot-Torpedos.
Winsor McCay ist hierzulande längst kein Unbekannter mehr. Vor Jahrzehnten schon faszinierten die Nachdrucke von "Nemo" ein subkulturell inspiriertes Publikum, das an Aufbruch und Bewusstseinserweiterung interessiert war. Diese mit Originalzeichnungen, Comic-Sonntagsseiten, politischen Illustrationen und Trickfilmen großartig bestückte Ausstellung ist nun der Versuch, den Zeichner und Filmemacher umfassend darzustellen und so seiner künstlerischen Bedeutung gerecht zu werden:
"In der Art, wie er Bilder für Albträume findet, ist er hochgradig surrealistisch - in einem demokratisierten Medium mit hoher Auflage für kleines Geld. Und dass die Kunstgeschichte das so nachhaltig, auch hundert Jahre nach McCay immer noch ausgrenzt und es nicht in ihren Kanon der Rezeption mit einschließt, ist einerseits ein Skandal - andererseits ist es das Schöne dieser Ausstellung, dass wir zeigen, wie notwendig es ist, dies jetzt nachzuholen."
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