Comiczeichner Nino Bulling auf der documenta

Verkörperer des Lumbung

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Lodernde Flammen auf der Titelseite des Comics "abfackeln"
Nino Bullings Comic "abfackeln" thematisiert die Suche nach geschlechtlicher Identität. © Avant Verlag / Nino Bulling
Von Jule Hoffmann |
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Der Zeichner Nino Bulling ist bekannt für politische Comics über Flüchtlinge oder den Rechtsextremismus. Nun zeigt er seine Kunst auf der documenta: Mit großen Tuschebildern stellt er dort sein neues Werk "abfackeln" vor.
Nino Bullings Atelier liegt inmitten eines pulsierenden Geländes, auf dem sich Veranstaltungsorte und Clubs dicht an dicht reihen. Das ehemals industrielle Gebäude gehört einem gemeinnützigen, selbstorganisierten Kunstverein. Sein neues Fahrrad trägt er lieber mit hoch, hier draußen sei es nicht sicher.
Das Atelier, ein großer heller Raum mit riesigen Fenstern und einer Kaffeeküche, teilt er sich mit drei Kolleginnen.
Kurz darauf blättert Nino Bulling in seinem druckfrisch erschienenen Comic, den er selbst noch kaum in Händen gehalten hat. Ein aufwendig gestalteter Band mit zwei verschiedenen Papiersorten.
Der Comiczeichner Nino Bulling vor einer Fensterfront in seinem Atelier
Persönliches ist für ihn politisch: Nino Bulling.© Avant Verlag / Schirin Moaieri

„Der intendierte Effekt bei der Gestaltung war, dass es weder ein Hardcover noch ein Softcover ist, dass es diesen offenen Rücken hat. Ich finde, dass es irgendwie ein hybrides Objekt geworden ist, was eine Unklarheit dadurch verströmt, das finde ich gut.“

Ein Comic mit Bezug zum eigenen Leben

So wütend der Titel des Comics klingt, so zögerlich und poetisch ist sein Inhalt: „abfackeln“ erzählt von der Beziehung zwischen Lily und Ingken, die sich nicht mehr als Frau fühlt, von persönlichen Krisen und Umbrüchen, von Intimität, Liebe und Freundschaft.
Eine Comicseite von Nino Bulling mit zwei Menschen, die auf einer Wiese sitzen
Zögerlich und poetisch: Bilder aus dem neuen Bulling-Comic.© Avant Verlag / Nino Bulling
Nach seinen zahlreichen archiv- und recherchebasierten Comicprojekten zu politischen Themen resultiert „abfackeln“ eher aus einer Phase der Introspektion. Für Nino Bulling kein Bruch mit seinem bisherigen Werk. „Nur weil etwas persönlich ist, ist es nicht nicht politisch", betont er.
In dem Comic gehe es explizit um Körper und Affekte. Wenn man über Transidentität spreche, liefen im Hintergrund immer die gesellschaftlichen Debatten dazu mit, auch wenn diese im Buch nicht explizit auftauchten.

Die Frage nach "Natürlichkeit"

Flankiert wird Ingkens persönliche Krise von Buschbränden in Australien auf ihrem Smartphone und der Trockenheit auf dem Land. Klimakatastrophen, die medial vermittelt zum Alltag gehören, machen für Bulling auch ein Spannungsverhältnis auf. Transmenschen werde die Autonomie über ihren Körper häufig abgesprochen, indem mystifizierte Vorstellungen von Natürlichkeit heraufbeschworen werden – die allerdings in krassem Widerspruch stehen zur menschengemachten Klimakrise: Unberührte Natur gibt es längst nicht mehr.
„Es geht in dem Buch darum, eine Spannung aufzubauen und eine Erwartung zu wecken, die dann nicht eingelöst wird. Es geht gar nicht darum, eine Entscheidung zu fällen, sondern diesen Zustand der Ambivalenz für sich anzunehmen.“

Malstil mit skizzenhafte Zeichnungen

Nino Bullings Figuren sind gekonnt skizziert, mit wenigen Strichen. Unperfekt, angedeutet, schön. Viele Zeichnungen stammen aus seinem Skizzenbuch, auch Freunde haben ihm Modell gestanden.
Für die documenta hat er seine Skizzen mit schwarzer Tusche auf große Seidenstoffe geworfen, die von einem roten Metallgitter, das den Panelrahmen im Comic nachempfunden ist, herunterhängen werden. Hier musste jeder Pinselstrich auf Anhieb sitzen.
„Da steckt schon viel dahinter, man kann nicht mehr zurück. Es ist schon eine krasse Konzentrationsfrage.“ Man müsse in die richtige Stimmung kommen.

Gründung einer Comic-Gewerkschaft

Für Juli hat Bulling außerdem zusammen mit dem libanesischen Kollektiv Samandal eine Gruppe von queeren und trans Comickünstler*innen nach Kassel eingeladen, die gemeinsam an einer Anthologie arbeiten werden.
Die Einladung zur documenta war für ihn auch Anlass, endlich eine Idee in die Tat umzusetzen, die in der Szene schon lange köchelte: die Gründung einer Comic-Gewerkschaft. Etwa 15 Comicschaffende arbeiten im Rahmen der documenta daran, sich politisch zu organisieren, um die Arbeitsbedingungen im Bereich Comic für alle nachhaltig zu verbessern.

Leben im Ökonomie-Kollektiv

Nino Bullings Look ist nie langweilig – heute trägt er Plateausandalen, ein weißes Hemd, und eine schmucke Lesebrille mit Brillenkette. Nicht nur im Bereich seiner Arbeit ist er kollektiv organisiert: Sein Einkommen teilt er sich mit vier anderen Personen in einer gemeinsamen Ökonomie, einer sogenannten Finanz Coop.
„Ich komme aus einem bürgerlichen Elternhaus, und ich werde irgendwann mal Geld erben. Die Coop ist auch dafür da, solche Formen von gesellschaftlicher Ungleichheit, wie Erben es produziert, auszugleichen. Und ich glaube, dass für Personen, die nichts erben werden, unter Umständen die Schwelle noch höher sein kann, sich mit anderen Leuten zu verbinden, weil sich einfach so viel Scham mit dem Thema Geld verbindet.“
Vor diesem Hintergrund wird klar, dass Nino Bulling das Prinzip des Lumbung, also die gemeinschaftliche Nutzung von Ressourcen, das sich die documenta auf die Fahnen geschrieben hat, längst verkörpert. Trotzdem wundern sich viele: ein Comiczeichner auf der documenta? Nino Bulling freut die Irritation. Feststeht: Der Bruch mit den Konventionen der Kunstwelt ist eine Bereicherung – vor allem natürlich für die documenta.
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