Wenn Regelverstöße die Regel sind
Volkswagen ist kein Einzelfall. Auch die Deutsche Bank, Siemens oder die FIFA waren oder sind in Skandale verwickelt und haben sich damit selbst geschadet. Und das, obwohl sich fast alle von ihnen Compliance-Regeln auf die Fahne geschrieben haben. Liegt der Fehler im System?
Universität Bielefeld, Fakultät für Soziologie. 25 Professoren lehren und forschen in elf Arbeitsbereichen, unter anderem auch der Organisationssoziologe Stefan Kühl. An diesem Abend wird die Bachelor-Arbeit eines seiner Studenten im Kolloquium vorgestellt: Patrick Latos hat sich – so der Titel - "Die Fassade der Fifa" zum Thema gewählt. Es geht um die Außendarstellung des Verbandes. 20 Studierende und Mitarbeiter sind gekommen. Sie diskutieren über die Fifa, den DFB, aber auch über VW und andere Affären. Tonaufnahmen während des Seminars sind nicht erwünscht, aber danach wird in kleiner Runde weiter diskutiert. Bachelor-Kandidat Latos erklärt, was ihn an der öffentlichen Diskussion um den FIFA-Skandal stört:
"Ich würde jetzt Sepp Blatter nicht von Korruption freisprechen wollen. Nur, zu verstehen, ok, es ist nicht Sepp Blatter, der schuld ist. Sondern es ist die ganze Organisation, wie sie aufgebaut ist und wie das politische Verfahren von Wahlen verläuft. Das ist das Problem. Also, es wird immer so personalisiert."
Blatter und Niersbach bei FIFA und DFB - Winterkorn, Pischetsrieder und Piech bei VW: Nicht nur bei der FIFA, auch bei Unternehmenskrisen sei die Personalisierung von Problemen selbst ein Problem - und eines, das von den Medien beflügelt werde: Die Suche nach einzelnen Schuldigen.
Henrik Dosdall, wissenschaftlicher Mitarbeiter, sieht die VW-Affäre auch eher als einen Prozess und nicht als Tat von Einzelnen:
"Wahrscheinlich gibt es irgendwann so eine Variation, man kann das machen und man implementiert das dann. Die Autos sind raus, die Software kann dann auch gefunden werden und irgendwann hat man dann verloren ..."
Der Organisationssoziologe Stefan Kühl berät auch selbst Unternehmen und Organisationen zu Fragen der Compliance, also zum Einhalten von Regeln, Gesetzen und freiwilligen Codizes in Unternehmen.
Abweichungen von der Regel sind üblich
Unter dem Titel "Volkswagen ist überall" hatte Kühl nüchtern analysiert, dass Abweichungen von der Regel üblich sind - und sogar überlebenswichtig. Wenn massive Abweichungen bekannt werden, dann müssten natürlich Verantwortliche gesucht werden. Aber:
"Jedes Mal, wenn eine Regelabweichung in der Dimension bekannt wird, müssen Köpfe rollen. Das ist Teil der Selbstreinigung jeder Organisation, die eine solche Skandalisierung durchläuft. Das heißt, man hat keine andere Wahl, als solch eine Personalisierung vorzunehmen. Interessante ist eher zu gucken, was sind die grundlegenden Prozesse, die dahinter stecken."
Denn es sei ganz normal, dass widersprüchliche Anforderungen gestellt würden, mit denen dann die Mitarbeiter umgehen müssten. Und dabei sei es eher hinderlich, wenn sich alle streng an Regeln und Vorschriften hielten:
"In dem Fall, von Volkswagen, scheint es der Fall gewesen zu sein, dass eben in sehr kurzer Zeit eine Sache erreicht werden sollte, unter bestimmtem Kostendruck, der so eben nicht umsetzbar gewesen ist und man deswegen in einen Grenzbereich ausgewichen ist ..."
Kurzum: Die strengen Zeit- und Kostenvorgaben waren einfach nicht mit den strengen Abgas-Grenzwerten vereinbar. Und dann habe man manipuliert - möglicherweise in dem Glauben, nur ein wenig mehr zu tricksen als andere. Vor allem für die US-Behörden sei durch diesen Vorgang aber die Ampel von Gelb auf Rot gesprungen - von Schummelei zu kriminellem Betrug. Darin liege der größte Fehler der zuständigen Führungskräfte, die Sprengkraft dieser Regel-Abweichung nicht erkannt zu haben.
"Man muss ein Risikobewusstsein dafür haben, wie stark so eine Abweichung innerhalb einer Organisation geduldet werden kann."
Wenn Regelverstöße die Regel sind, was sollen dann Compliance-Abteilungen oder umfangreiche Leitbilder und "Codes of Conduct", denen sich nicht nur VW angeblich verpflichtet fühlt, bewirken?
Bei VW heißt es in der Präambel:
"Wir tragen mit unseren Produkten dazu bei, dass Mobilität umweltfreundlich, effizient und sicher ist."
Kann man auf solche guten Vorsätze demnach verzichten?
"Leitbilder braucht eine Organisation deswegen, weil sie die Schauseite herrichten muss. Das sind Ornamente, die man unbedingt braucht, von denen man aber immer auch den Anspruch haben muss, dass sie in die Organisation hineinwirkt."
Regelverstöße schleichen sich langsam ein
Die große Herausforderung bestehe für Compliance-Beauftragte darin, tatsächlich über problematische Vorgänge informiert zu werden. Denn beliebt seien solche Fehler-Sucher nicht. Deshalb prophezeit Kühl für VW nun Maßnahmen, die vor allem wieder die Schauseite bedienten:
"Der Effekt, den wir bei VW beobachten werden, ist, dass sie zur Rückgewinnung ihrer Legitimität die Compliance-Abteilung enorm aufbauen werden. Aber der umgekehrte Effekt ist, - wir wissen das vom Fall bei Siemens - dass, wenn so eine Compliance-Abteilung groß geworden ist, dass man dann feststellt, naja, wir brauchen auch eine gewisse Flexibilität. Und dann wird der Abteilung mitgeteilt, dass sie doch bitte an bestimmten Punkten nicht ganz so genau hinschauen muss. Sie verliert an Einfluss. Und dann hat man nach einer Weile wieder ein Zusammenspiel von Regel und Regelabweichung, die dem Unternehmen oder der Verwaltung die notwendige Flexibilität gibt."
Regelverstöße werden nicht befohlen, sie schleichen sich langsam ein. Und genau hier müssten Unternehmen besonders genau hinschauen ...
"Dass Organisationen einmal ein Gespür dafür bekommen, dass diese Abweichungen Normalität sind - aber auf der anderen Seite auch es diskutierbar wird, wie man mit solchen Regelabweichungen umgehen kann und wie weit solche gehen können, das ist die hohe Kunst."
Die Diskussion nach dem Seminar darüber, wie sich die Ereignisse nun entwickeln werden, dauert noch eine Weile an. Einig ist man sich vor allem darin: Viel Zeit hat keine Organisation, um diese hohe Kunst zu erlernen.