Die Beschaffenheit der Klänge
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Dass Computermusik auch emotional sein kann, hätte in den 60ern kaum jemand gedacht. Laurie Spiegel machte es vor und versöhnte die atonale Avantgarde mit traditionelleren Melodieläufen. Jetzt wird die Komponistin wiederentdeckt.
Avantgardemusik hatte sich jahrzehntelang im atonalen Bereich abgespielt. Mit dem Stück "Appalachian Grove" brachte Laurie Spiegel 1974 Melodien in das Genre. "Ich war gerade von den Blue Ridge Mountains zurückgekommen, wo ich auf der Suche nach alter modaler Musik aus den Bergen war", erklärt die Komponistin.
"Obwohl das Stück unter dem Einfluss solcher Rhythmen entstanden ist, ist es eine Komposition, die Volksmusik eher abwandelt oder verdreht als dass sie sie verkörpert."
Die Freiheiten des Computers
Die Verbindung von Computer und Synthesizer hatte die Erweiterung möglich gemacht: "Was man improvisiert hat, lässt sich von einem Computer so speichern, dass man es hinterher mit allen Freiheiten editieren kann. Mit einem Tonbandgerät ist das nicht möglich."
Das System dafür hieß "Groove" und war ab den späten Sechzigern an den Bell Labs in New Jersey entwickelt worden. Es ließ sich mit einfachen Mitteln steuern: "Ich benutzte eine Klaviatur, einen Joystick, eine Zeichentafel, Drucktaster und Drehregler. Alle Bewegungen daran wurden vom Computer registriert und konnten gespeichert werden."
Die Verbindung aus Gefühl und Intellekt
Der Computer war raumgroß und befand sich gegenüber von Spiegel hinter einer Glasscheibe. Er übersetzte ihre Bewegungen und regelte so die Klangerzeugung eines Synthesizers, der woanders auf der Etage untergebracht war. Dessen Klänge konnte die Komponistin an ihren Controllern hören und in Echtzeit verändern - um eine Musik zu machen, der sie sich nah fühlen konnte:
"Bei meinen Stücken geht es hauptsächlich um Gefühle. Aber egal, was ich fühle, auch mein Verstand ist immer wach. Der Intellekt ist für mich eine große Quelle der Freude und verlangt ebenso nach Ausdruck wie die Emotionen. Das lässt sich nicht wirklich trennen."
Dass eine so gefühlvolle und gleichzeitig abstrakte Musik mit Computern möglich sein könnte, war zu dieser Zeit für viele kaum vorstellbar. Ihnen galten Computer als unnahbare und bedrohliche Werkzeuge großer bürokratischer Organisationen.
Computerarbeit war schlecht angesehen
"Jede Diskriminierung, mit der ich als komponierende Frau konfrontiert wurde, war nichts im Vergleich zur Diskriminierung gegenüber der Arbeit mit Computern in der Musik damals", erinnerte sich Spiegel in einem Interview mit dem Kunstmagazin Frieze.
Durch Auftritte von Künstlern mit kleinen Personal-Computern lockerte sich diese Abwehrhaltung ab den späten Siebzigerjahren.
Dass der Computer sogar das Potential zum Volksinstrument hat, erkannte Spiegel als eine der ersten - und schrieb 1985 die Software Music Mouse. Mit ihr konnten auch Amateure einfach so Musik machen, nur durch Bewegungen mit der Maus und Anschlägen auf der Tastatur.
Eine Forscherin im musikalischen Neuland
Mit einem musikalischen Verständnis ließ sich natürlich mehr aus der Software herausholen: "Ich habe sorgfältig ausgesuchte Aspekte von musikalischen Entscheidungen automatisiert. Dadurch erhöht sich die Anzahl der Möglichkeiten, die sich in Echtzeit steuern lassen."
Das Potenzial ihrer Software zeigte Spiegel 1991 auf der CD "Unseen Worlds". Die Musik darauf klingt deutlich anders als die an den Bell Labs entstandene. Die Grundstimmung ist dunkler und Spiegel beschäftigt sich hier intensiv mit Klangfarben, dringt tief in die Beschaffenheit der Klänge ein.
Auf diese Art hat die Komponistin einmal mehr musikalisches Neuland erschlossen.
Online-Tipp: Eine dreiteilige Doku-Serie befasst sich mit Laurie Spiegels Leben und Werk: