Silvana Condemi (Autorin), François Savatier (Autor), Benoît Clarys (Illustrationen): Der Neandertaler, unser Bruder. 300.000 Jahre Geschichte des Menschen
Aus dem Französischen übersetzt von Anna Leube und Heinrich Wolf
C.H.Beck, München 2020
240 Seiten, 18 Euro
Antworten auf die großen Neandertaler-Fragen
05:39 Minuten
Auf dem Gebiet zwischen Atlantik und Asien lebten wenige Neandertaler: 70.000 zu ihren besten Zeiten. Nur weil sie sich in bestimmten Gegenden zu Gruppen zusammenschlossen, konnten sie sich begegnen - und damit ihren Fortbestand sichern.
Eigentlich hätten die Neandertaler schon vor der Ankunft des Homo sapiens aussterben müssen – es gab von ihnen so wenige in einem so riesigen Verbreitungsgebiet, dass sie einander kaum je begegnen konnten.
In "Der Neandertaler, unser Bruder" tauchen die französische Paläoanthropologin Silvana Condemi und der Wissenschaftsjournalist François Savatier in die menschliche Evolutionsgeschichte ein und beantworten große Fragen.
Woher stammten die Neandertaler? Wie verbreiteten sie sich über ganz Europa bis nach Asien? Auf welche Weise trotzten sie den eiszeitlichen Kältegraden, die ihre Welt periodisch in Schnee und Eis hüllten? Was weiß die Forschung heute über ihr kulturelles Leben? Und was geschah, als sie dem Homo sapiens begegneten?
Gleichzeitig lässt das Buch 150 Jahre Forschungsgeschichte Revue passieren – Knochenfunde, Theoriebildung, Methodenentwicklung, Erkenntnisgewinne und viele Verluste vermeintlicher Gewissheiten.
Gegenseitige Besuche der Clans
Paläodemografen schätzen, dass zu den besten Zeiten dieser Menschenart nur 70.000 Individuen in einem Gebiet von der nordwestlichen Atlantikküste einschließlich der britischen Inseln bis an die Tore Asiens lebten. In Kälteperioden konnte ihre Zahl sogar auf 10.000 sinken.
Neandertaler sicherten ihren Fortbestand, weil sie sich in Kulturen und Regionen konzentrierten und die Clans durch gegenseitige Besuche dafür sorgten, dass die Jungen einander begegnen konnten. Wie das im Detail vor sich ging, konnte inzwischen durch aufwendige Forschung enthüllt werden, die das Autorenduo mit spürbarer Freude an Einzelheiten und wissenschaftlicher Präzision nachzeichnet.
Im Mittelteil des Buches wird die Lesefreude ein wenig dadurch gedämpft, dass mögliche Forschungsinterpretationen nicht zueinander passen und Autor und Autorin erst spät kenntlich machen, welche Theorien als gesichert gelten können.
Rotbraut und Nordmann gründen eine Familie
Um so schöner lesen sich die kurzen Erzählungen am Beginn der Kapitel. Darin lernen Nordmann und Rotbraut – rotes Haar, grüne Augen, Überaugenwülste, breite Nase, hervorspringendes Jochbein, fliehendes Kinn – einander kennen, gründen eine Familie und erleben die geballte Mühsal des Lebens vor 50.000 Jahren.
Illustrator Benoît Clarys lässt sie in ausdrucksstarken Zeichnungen lebendig werden. Deutlich sind ihre kräftigen Körper mit den gedrungenen Extremitäten zu erkennen. Gleichzeitig zeigen ihre Gesichter Differenziertheit und Nachdenklichkeit – wie bei allen Menschenarten und sogar allen Hominiden.
Schwester Neandertalerin
Ein Bruder ist der Neandertaler, weil wir evolutionär gesehen dieselben Eltern haben. Genforschung konnte zeigen, dass sich Homo sapiens und Homo neanderthalensis miteinander fortpflanzten, doch waren die Nachkommen von Neandertaler-Männern und Homo-sapiens-Frauen wahrscheinlich steril, erklärt das Buch.
Darum war es unsere Schwester, die Neandertalerin, die dem heutigen Homo sapiens in Europa – Menschen in Afrika sind frei von Neandertaler-Genen – ein kräftiges Neandertaler-Erbe hinterlassen hat.