Corona-Alltag in Delhi

Indien zwischen Apokalypse und Beschaulichkeit

04:24 Minuten
Menschen in Schutzanzügen stehen in der Nähe eines toten Angehörigen, der am Coronavirus gestorben ist, auf einem Einäscherungsgelände in Neu-Delhi. Im rechten Bildvordergrund ist ein Feuer zu sehen.
"Wir brauchen Krisenberichterstattung. Aber müssen Krisen dramatisiert werden?", fragt Antje Stiebitz angesichts der permanenten Beschwörung apokalyptischer Bilder aus Indien. © AFP / Prakash Singh
Ein Kommentar von Antje Stiebitz · 17.05.2021
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Coronaopfer, die qualvoll ersticken, und Tote, die öffentlich verbrannt werden: Die Dramatik dieser Medienbilder deckt sich nicht mit Antje Stiebitzs Alltagserfahrung. Sie lebt in Neu-Delhi und wünscht sich eine differenziertere Berichterstattung.
Als in Delhi die gesundheitliche Versorgung unter der Last der Covid-Patienten zusammenbricht, der Sauerstoff vielerorts ausgeht und Menschen kläglich ersticken, erreicht mich aus Deutschland die Frage, wie man sich das vorstellen müsse. Ob in Delhi die Menschen jetzt alle verzweifelt schreiend durch die Straßen irren? Und ich frage mich, wie ein solcher Eindruck entstehen konnte.
Die Straßen sind leergefegt, wenn ich im Stadtteil Jangpura Extension vor die Haustür trete. Der südlich gelegene Stadtteil ist eher ruhig, aber dass sich kein Mensch auf der Straße aufhält, ist selten. Irgendwo kläfft ein Hund. Einige hundert Meter weiter, im verwaisten Geschäftszentrum des Blocks sind nur drei Geschäfte geöffnet: Hier kaufen die Anwohner frische Nahrungsmittel. Essenzielles. Die Kunden kommen alleine, mehr als drei Menschen, die zusammenstehen, sieht man kaum. Der Lockdown macht Jangpura Extension noch beschaulicher als sonst.

Die Zeitungslektüre lässt den Atem stocken

Die morgendliche Zeitungslektüre des "Indien Express" raubt mir die Luft. Die Verzweiflung der Corona-Kranken, die keinen Sauerstoff bekommen, geht unter die Haut. In den sozialen Medien dominieren schlechte Nachrichten. Telefonate mit Kollegen bringen nichts Gutes. Der Oberste Gerichtshof der Stadt Allahabad spricht später angesichts des Sauerstoffmangels und der daraus resultierenden Toten von einem "kriminellen Akt" und "Genozid". Der Oberste Gerichtshof von Delhi kritisiert die Regierung Delhis, eine "Vogel-Strauß-Politik" zu betreiben. Jetzt fällt mir das Atmen schwer. Ich telefoniere mit meiner indischen Nachbarin. Sie rät mir, mit Dampf zu inhalieren.
Ich fahre durch eine gespenstisch leere Stadt zum Impftermin ins Moolchand Krankenhaus und habe Angst, dass vor dem Krankenhaus verzweifelte Covid-Kranke warten und sterben. Nichts dergleichen. Die Impfwilligen warten auf Stühlen mit Mindestabstand. Alles ist gut organisiert. Meine gelebte Wirklichkeit deckt sich nicht mit der medialen Realität. Doch vor meinem inneren Auge tauchen immer wieder die Bilder der feurig-rußigen Verbrennungsstätten auf. Die gequälten Gesichter der Erstickenden.
Generell macht es der Mangel an verlässlichen Daten schwierig, die Lage einzuordnen. Klar ist nur, dass die Zahlen höher sind, als die Regierung behauptet. Vermutlich rund zehnmal höher. Diese Ungewissheit verunsichert. Zudem hat sich die Krise jetzt in die häusliche Sphäre verlagert, da die Patienten in den Krankenhäusern nicht aufgenommen werden. Kaum einer kennt die Situation in den ländlichen Regionen. Was spielt sich dort ab?

Müssen Krisen noch weiter dramatisiert werden?

Indien ist weniger ein Land als ein ganzer Kontinent. Man kann Indien nur mit Europa vergleichen, nicht mit Deutschland. Die Zahlen der täglichen Toten und Neuinfektionen sind mit denen in Europa durchaus vergleichbar. Indien hat jedoch etwa dreimal mehr Einwohner als Europa. Relativ gesehen steht der Subkontinent daher besser da.
Ja, wir brauchen Krisenberichterstattung. Aber müssen Krisen dramatisiert werden? Mir fällt auf, dass gerade ausländische Journalisten biblisches Vokabular verwenden, etwa "Apokalypse" oder "Hölle". Obwohl sie sonst – völlig zu Recht – die indische Regierungspolitik dafür anklagen, alles religiös zu besetzen. Religiöses Vokabular funktioniert. Eine Studie von 2018 hat herausgefunden, dass in der deutschen Indienberichterstattung sexuelle Gewalt, berühmte Persönlichkeiten, Tiere und Kuriositäten dominieren. Hinzu kommen Naturkatastrophen und Umweltverschmutzung. Was sich verkauft, wird gebracht.
Es ist bedauerlich, dass die Berichterstattung über Indien auch in unserer heutigen Wissens- und Informationsgesellschaft so klischeebeladen ist. Dieser Kontinent hat einen differenzierteren Blick verdient.

Antje Stiebitz hat in Berlin Außereuropäische Ethnologie und Religionswissenschaften mit dem Schwerpunkt Südasien und Hinduismus studiert. Die Journalistin hat zunächst vor allem über die indische Diaspora in Deutschland geschrieben. Inzwischen lebt sie in Neu-Delhi und berichtet über Indien.

© privat
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