Schlechte Zeiten für Menschenrechte
24:24 Minuten
Die Krim war schon vor der Coronapandemie in keiner guten Verfassung, sowohl was Menschenrechte als auch die Gesundheitsversorgung angeht. Nun kommt noch die Sorge hinzu, dass die russische Regierung den Virus instrumentalisiert, um Politik zu machen.
Tatjana Kurmanowa hat es eilig. Eigentlich hat sie es seit Jahren eilig, denn Kurmanowa ist Journalistin, kommt von der Krim, lebt in der ukrainischen Hauptstadt Kiew und versucht, von dort aus über die Krim zu berichten, unter anderem beim unabhängigen Radiosender Hromadske.
"Ich habe 2014 die Krim verlassen. 2015 war ich dann noch einmal dort. An der Grenze wurde ich lange verhört, warum ich keinen russischen Pass hätte, keinen Pass der Besatzungsmacht. Den lehne ich natürlich ab. Bei der Ausreise sagten mir die Mitarbeiter des russischen Geheimdienstes, wenn ich noch einmal wiederkäme, würde ich nicht mehr von der Krim herunterkommen."
Tatjana Kurmanowa trägt einen grünen Pullover, die Haare kurz, Scheitel links. Und eine mehrfach um den Hals gewickelte Kette. Vor ihr zwei Bildschirme mit aktuellen Meldungen und Notizen für die Sendung. Hromadske Radio ist ein gemeinnütziges Medienunternehmen. In der sonst von Oligarchen und ihren Medien dominierten Ukraine ist ein unabhängiger Radiosender wie Hromadske sehr wichtig. Gerade, wenn es um Berichte aus und über die von Russland besetzten Gebiete in der Ostukraine und die Krim geht.
"Soweit ich weiß, ist gegen mich auf der Krim kein Strafverfahren eröffnet."
Informationen über die Krim noch schwieriger als sonst
Besonders die Krimtataren kritisieren die Annexion der Krim durch Russland als widerrechtlich. Zu behaupten, die Krim gehöre zur Ukraine, gilt in Russland als Aufruf zum Extremismus. Die Journalistin Kurmanowa berichtet über die Krimtataren – aus der Ferne. Hinzufahren, die Situation vor Ort zu prüfen, das ist ihr zu riskant: "Ich weiß nicht, ob ich das jemals mache. Ich habe Angst vor der Gefahr."
Zurzeit sind auch die Journalisten in Kiew vor allem mit der Coronapandemie beschäftigt, und da sind objektive Informationen von der Krim besonders schwierig zu bekommen. Das Virus hat sich auch auf der Halbinsel verbreitet. Behörden sprachen Anfang April von offiziell 26 Infizierten.
Beobachter gehen davon aus, dass die Dunkelziffer viel höher liegt. In einem Bericht der "Crimean Human Rights Group", einer Vereinigung von Menschenrechtsverteidigern und Journalisten, zur Coronalage auf der Krim heißt es: "Das Niveau der COVID-19-Diagnostik auf der Krim ist nach wie vor niedrig, sodass die offiziellen Daten über die Zahl der Covid-19-Infektionsfälle nicht zutreffen."
Anton Korynewytsch ist "Ständiger Vertreter des ukrainischen Präsidenten für die Krim". Er berichtet von dem krimtatarischen Häftling Server Mustafayev. Der Menschenrechtsaktivist wurde im Mai 2018 wegen falscher Terrorismusvorwürfe verhaftet.
Zu wenige Ärzte und zu wenige Krankenhäuser
"Vor ein paar Wochen war er während einer Gerichtsverhandlung in Rostow in einem sehr schlechten gesundheitlichen Zustand. Und er bat darum, auf Covid-19 getestet zu werden. Er bekam aber lange keine gesundheitliche Versorgung. Wir sind besorgt. Denn wir wissen von unseren Bürgern auf der Krim, dass bereits vor der Coronapandemie die medizinische Versorgung im besetzten Gebiet nicht sehr gut war. Es gibt zu wenige Krankenhäuser und zu wenige Ärzte in den Krankenhäusern. Ich glaube, dass es während der Pandemie noch einmal härter wird."
Später stellte sich heraus, dass Mustafayev nicht mit dem Virus infiziert war. Aber, so Korynewitsch: "Fakt ist, dass die gesundheitliche Situation der Tataren in den Gefängnissen uns Sorgen bereitet. Dieser Gruppe von Menschen sollte man größere Aufmerksamkeit widmen."
In Russland dürfen die Regionen über Details der Maßnahmen gegen die Coronapandemie entscheiden. Das gilt auch für die Krim. Deren Grenze zum ukrainischen Festland – Russland betrachtet sie als Außengrenze – ist derzeit für Nichtrussen geschlossen, um die Verbreitung des Virus einzudämmen. Auf der Krim selbst gibt es eine Ausgangssperre.
Sorge davor, dass Corona instrumentalisiert wird
Anton Korynewytsch warnt vor einem möglichen Missbrauch durch die Behörden. "Wir wissen von vielleicht bis zu hundert Menschen auf der Krim, die Ordnungsstrafen wegen sogenannter Verletzungen der Quarantäneregelungen bekommen haben."
Die Lage der Menschenrechte auf der Krim hat sich seit der Annexion der Halbinsel durch Russland verschlechtert. Zu diesem Ergebnis kamen die Vereinten Nationen bereits 2017.
Die russische Menschenrechtsbeauftragte, die nach russischer Lesart offiziell auch für die Krim zuständig ist, hat bisher vor allem die ukrainischen Behörden kritisiert: Sie verletzten angeblich die Rechte von Krimbewohnern. Die Vereinten Nationen beurteilten ihre Vorwürfe allerdings als haltlos.
Nach Angaben der "Crimean Human Rights Group" waren auf der Krim Anfang dieses Jahres 88 Personen aus politischen oder religiösen Gründen in Haft, die meisten von ihnen Krimtataren. In dem Bericht der Gruppe zur Coronalage auf der Krim heißt es nun, bei einigen neuen Restriktionen für die Bewohner der Halbinsel sei nicht klar, wie lange sie gelten würden.
"Diese Gesetze schaffen Gründe, Menschen wegen Meinungsäußerungen zu verfolgen, insbesondere für die Veröffentlichung zuverlässiger Informationen über verzögerte oder unwirksame Reaktionen auf die Verbreitung von Covid-19."
Einberufung zur Armee – trotz Coronapandemie
Trotz der Coronapandemie werden in Russland seit dem 1. April wie in jedem Frühjahr junge Männer in die Armee einberufen, auch auf der Krim. Der EU-Außenbeauftrage Josep Borrell kritisiert das als eine Verletzung internationalen Rechts – auch jenseits der Pandemie. Eine Besatzungsmacht dürfe die Bevölkerung eines besetzten Gebietes nicht zwingen, in ihrer Armee zu dienen, heißt es aus Brüssel. Die gesundheitliche Gefährdung durch das Coronavirus in der Armee kommt noch dazu.
Es gibt nur wenige russische Menschenrechtler, die sich mit der Lage auf der Krim beschäftigen. Eine ist Yulia Gorbunova vom Moskauer Büro der internationalen Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch und sie ist in engem Kontakt mit ukrainischen Kollegen.
"Wir haben dokumentiert, einfach nur, um die Zahlen zu haben, wie viele Personen auf der Krim einberufen wurden. Unter welchen Umständen? Und welche Strafen verhängt wurden, wenn jemand sich weigerte. Und wir haben herausbekommen, dass die Zahl der Einberufenen steigt. 2015 waren es rund 500, 2019 waren es schon mindestens 3000. Wer versucht, sich der Wehrpflicht zu entziehen, kann bis zu zwei Jahre ins Gefängnis wandern. Bisher wurden aber vor allem Geldstrafen verhängt, in mindestens 60 Fällen."
Die Regierung der Ukraine sei angesichts dieser und anderer Menschenrechtsverletzungen auf der Krim leider weitgehend ohnmächtig, klagt Anton Korynewytsch, der exilierte "Ständiger Vertreter des ukrainischen Präsidenten für die Krim".
"Wir arbeiten aber eng mit den Strafverfolgungsbehörden der Krim zusammen, die gleichfalls im Exil auf dem ukrainischen Festland sind. Und wir strengen gemeinsam Strafverfahren gegen die mutmaßlichen Verbrecher an. Wenn die auf das ukrainische Festland kommen, können sie verhaftet werden. Damit zeigen wir den Menschen auf der Krim, dass wir uns um die Krim und ihre Bewohner kümmern, und dass die Krim zur Ukraine gehört."
Krimtataren – wichtige Gegner der Annexion
Weil die Ukraine gegenüber Russland nahezu machtlos ist, wirbt sie um die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft. Eine der wichtigsten Stimmen ist dabei der Medschlis, die politische Vertretung der Krimtataren. Sie hat ihr Büro in einem dunkel verglasten Geschäftszentrum in Kiew.
An der Häuserwand gegenüber, 14 Stockwerke hoch, das Bild einer jungen Frau in traditioneller ukrainischer Kleidung: weiße Bluse mit Stickereien. Zeichen des wachsenden ukrainischen Selbstbewusstseins. Ihr gegenüber 102 Meter hoch am Berghang über dem Fluss Dnjepr wacht die Mutter Heimat gerüstet mit Schwert und Schild. Ein Überbleibsel aus der Zeit, als die Ukraine von der Sowjetunion besetzt war. Auch der Medschlis ist in Kiew im Exil. Die russischen Behörden haben ihn als angeblich "extremistische" Organisation verboten.
Artem Tschijgos ist stellvertretender Vorsitzender des Medschlis und Abgeordneter im ukrainischen Parlament. 2015 wurde er auf der Krim festgenommen. Die russischen Behörden warfen ihm "Organisation von Massenunruhen" vor. Ein Gericht verurteilte ihn zu acht Jahren Lagerhaft. "Ich war drei Jahre im Gefängnis bei russischen Terroristen." Er meint damit die russische Regierung und deren Strafverfolgungsbehörden.
"Die Bedingungen meiner Haft können normale Leute sowieso nicht verstehen, diesen unmenschlichen Umgang der Terroristen mit den Gefangenen. Deshalb versuche ich gar nicht erst, anderen davon zu erzählen. Es macht keinen Sinn."
Im Regal reihen sich Bücher von Krimtataren, Wandteller, Puppen in der schwarzen Tracht der Osmanen. Tschijgos blickt ernst. "Dass Putin mich freilassen musste, geschah auf Druck der Ukraine und der Weltgemeinschaft." Es war einer der wenigen Fälle, in denen internationaler Druck half, in Russland inhaftierte Ukrainer frei zu bekommen.
Kritiker der Annexion sind auf der Krim in Gefahr
Jeder, der die Ukraine unterstütze oder die Annexion kritisiere, sei in Gefahr, sagt Yulia Gorbunowa vom Moskauer Büro der internationalen Organisation "Human Rights Watch". Die Gefangenen erwarte selten ein faires Verfahren.
"Viele von ihnen haben keinen Zugang zu Anwälten, und die Gerichtsverhandlungen sind selten öffentlich, sodass sie nur sehr schwer zu beobachten sind. Und außerdem fußen diese Fälle im Allgemeinen auf sehr wenigen Beweisen. Deshalb habe ich mit mehreren Anwälten gesprochen, die an diesen Fällen auf der Krim arbeiten. Und wenn Sie sich die Akten ansehen, werden Sie feststellen, dass Fälle durchaus auf Hörensagen aufgebaut sein können, auf einem Gespräch zum Beispiel, das ein anonymer Zeuge in einer Moschee belauscht haben will."
Das Foyer der Krok Universität Anfang März: Studenten eilen durch das Drehkreuz am Eingang. Ein Wachmann langweilt sich. Anschläge, Plakate, Pinnwände. 4000 Menschen studieren hier, darunter 550 aus anderen Ländern. Im Wesentlichen werden hier Sozialwissenschaften gelehrt. Oleksandra Romantsowa studiert hier. Aber es ist nicht ihr erstes Studium.
Die 34-jährige Romantsowa ist kaum zu bremsen. Und es ist schwierig zu sagen, ob sie nebenbei studiert oder nebenbei geschäftsführende Direktorin des "Zentrums für bürgerliche Freiheiten" in Kiew ist. 2014, in dem Jahr, als Russland die Krim besetzt und den Krieg im Osten der Ukraine begonnen hat, fing sie an, für die Aktion #LetMyPeopleGo zu arbeiten. Sie erstellte Listen mit politisch motivierten Verhaftungen auf der Krim und in Russland. Und startete eine Karriere als Menschenrechtsverteidigerin.
Nicht jede Verhaftung ist automatisch politisch
"Niemand kommt also in die Gefängnisse, um zu sehen, unter welchen Bedingungen die dort gefangenen Menschen leben."
Das gilt besonders für Gefängnisse, die in Russland in einem erbärmlichen Zustand sind, und in denen immer wieder Menschen aufgrund unterlassener Hilfe oder an Krankheiten sterben. Und sie berichtet von Durchsuchungen in Häusern krimtatarischer Familien und in Moscheen.
"Wir haben etwa zehn Fälle, bei denen wir Informationen haben, dass ukrainische Bürger von der Krim verhaftet wurden. Aber wir haben nicht genug Informationen, um sie als politische Verfolgte zu akzeptieren. Wir wissen, dass nicht jede Verhaftung auf der Krim automatisch eine politische Verfolgung ist."
Wie andere auch, bekommt Romantsowa Informationen unter anderem von den Angehörigen der Verhafteten.
"Anwälte aus der russischen Föderation und Tataren haben das Recht, Klienten zu vertreten. Das sind Leute, die teils selbst aus politischen Gründen angeklagt werden. Ich weiß von einem, der gleich zwei Mal verhaftet wurde. Sie haben versucht, diesen Leuten Angst zu machen oder ihren Familien. Auf der Krim Anwalt zu sein, ist nicht so einfach. Wir haben einen Kontakt zu ihnen und zu den Verwandten und einigen Graswurzelinitiativen, die uns helfen, die Informationen zu sammeln. Und wir bringen Verwandte in das von der Ukraine kontrollierte Gebiet."
Dort sind sie in Sicherheit, müssen jedoch erst einmal in Quarantäne. Aufgrund der coronabedingten Einschränkungen ist halt alles zurzeit noch schwieriger als bisher.