Corona-Debatte
Viele meinen die „Wahrheit“ zu kennen. Aber wie lässt sich mit dieser Grundannahme überhaupt debattieren und streiten? © imago / PantherMedia / aanavcreationsplus
Meine Wahrheit, deine Wahrheit
19:11 Minuten
Beim Thema Impfen und Corona stehen sich unterschiedliche Positionen unvereinbar gegenüber. Beide Seiten berufen sich dabei gerne auf die Wahrheit. Brauchen wir also einen neuen Wahrheitsbegriff, um wieder miteinander ins Gespräch zu kommen?
Die Corona-Pandemie dauert bald zwei Jahre an. Das Virus sind wir noch immer nicht los. Was uns auch nach wie vor beschäftigt, sind die Debatten über die Pandemie und darüber, wie sie bekämpft werden kann. Noch immer gibt es neben Millionen, die sich impfen lassen, auch Menschen, die einer Impfung skeptisch gegenüberstehen. Gestritten wird auch über die Gefährlichkeit des Virus und es scheint absolut aussichtslos zu sein, diese verschiedenen Perspektiven miteinander zu versöhnen.
Wahrheit und "Alternative Fakten"
Dabei rückt der Begriff der Wahrheit zunehmend in den Fokus, den Vertreter aller Lager für sich beanspruchen. Der erscheint allerdings seit der Trump-Ära mehr und mehr sinnentleert. Spätestens seit die Trump-Beraterin Kellyanne Conway im Sender NBC nach ein paar Lügen von Donald Trump von “alternativen Fakten” gesprochen hat.
Ist es also an der Zeit den Begriff Wahrheit neu – oder zumindest exakter – zu definieren? Gedanken dazu gemacht hat sich der Wissenschaftshistoriker Bernhard Kleeberg. Sein – noch junges – Forschungsgebiet heißt "Praxeologie der Wahrheit". Dabei gehe es um die Frage, „wie über Wahrheit ganz konkret in spezifischen Situationen von spezifischen Akteuren verhandelt wird“, erläutert Kleeberg. Anstelle – wie bisher oft geschehen – philosophische Theorien von Platon, Aristoteles oder Kant heranzuziehen, wählt er einen anderen Ansatz. „Uns interessiert, was passiert eigentlich, wenn in einer spezifischen Situation jemand sagt: Das ist nicht wahr! Wenn in einer spezifischen Situation man sich auf die Wahrheit beruft oder die Wahrheit anruft.”
Für Kleeberg gibt es bei dieser Betrachtungsweise weder die eine Wahrheit, noch ganz viele unterschiedliche Wahrheiten. Er sieht den Begriff vielmehr als einen „sozialen Operator“. Das bedeute: „Wenn die Wahrheit angerufen wird in einer spezifischen Situation, dann tut sie etwas mit den Beteiligten. Sie zwingt die einzelnen Akteure, sich zu bekennen zu einer Seite, Stellung zu beziehen und dadurch stabilisiert die Anrufung von Wahrheit Gruppen oder löst sie auf.“
Das Zeitalter der Wahrheit
Weil heute so häufig mit dem Begriff der Wahrheit hantiert und argumentiert wird, spricht Kleeberg sogar vom „Zeitalter der Wahrheit”. Dass so viele Menschen sich auf die Wahrheit berufen, weise auf eine „Zersplitterung von althergebrachten Glaubenssystemen, von einer Ablösung des Glaubens und des Vertrauens in traditionelle Wahrheitsfiguren“ hin. „Je stärker ein bestehendes Wahrheitsregime zersplittert und je mehr kleine soziale Gruppen daraus hervorgehen, desto mehr unterschiedliche Berufungen auf die Wahrheit gibt es.” Dass viele die Wahrheit als für sich gepachtet ansehen, zeigt also, dass in bestimmten Bereichen ein Common Sense verlorengegangen ist.
Eine allgemeine Verunsicherung beobachtet auch Jürgen Nielsen-Sikora, Professor für Bildungsphilosophie an der Universität Siegen. "Diese Unsicherheit hängt sicherlich vor allen Dingen damit zusammen, dass wir in einer Gesellschaft leben, die sich immer weiter ausdifferenziert hat, und dass bestimmte Gewissheiten und Sicherheiten einfach brüchig geworden sind.“ Viele Menschen seien damit überfordert, würden Ohnmachtsgefühle und einen gewissen Kontrollverlust empfinden. „Das will man natürlich vermeiden und versucht jetzt, dem etwas entgegenzusetzen, also wieder zu neuen Sicherheiten zu gelangen.“
Dies wirke ich auch auf die Art der Kommunikation aus. Im Dialog mit anderen entwickelte Erkenntnisse seien derzeit weniger wert. Stattdessen gebe es eine „Lust auf Vereindeutigung“ und das Streben nach unerschütterlichen, zweifelsfreien Erkenntnissen über die Welt und ihre Phänomene. "Das führt aber manchmal zu recht abstrusen Situationen, dass wir uns auf Dinge berufen, die eigentlich gar nicht so sicher sind, von denen wir dann aber glauben, das gibt uns Sicherheit", sagt Jürgen Nielsen-Sikora. Darunter leide die Debattenkultur. Wir seien nicht mehr bereit, uns auf einen Diskurs einzulassen.
Faktenchecks: nicht immer hilfreich
Wie aber kann es da gelingen, auch in Bezug auf die aktuelle Corona-Debatte, wieder zu einem gemeinsamen Minimalkonsens, einer Kommunikationsebene zu gelangen? Medien versuchen dies, indem sie Vorstellungen und postulierte Wahrheiten der unterschiedlichen Seiten aufgreifen und diese durch „Faktenchecks“ prüfen. Das zeigt allerdings nur eine begrenzte Wirkung, gerade in der Impfdebatte.
"Was ich tatsächlich auch in den letzten Wochen und Monaten gemerkt habe, dass man einfach auch sehr aneinander vorbeiredet oder -schreibt“, sagt Nicola Kuhrt. Sie ist Wissenschafts- und Medizinjournalistin, Chefredakteurin des Web-Portals “MedWatch” und Co-Autorin des Buch “Faktencheck Impfen”. Bei einer Aktion auf „MedWatch“ hätten sie Fragen der Leser und Leserinnen zum Thema Impfen beantwortet. „Wir haben einfach das wiedergegeben, was wir aus der Wissenschaft wussten.“ Bei manchen Menschen würden die Informationen aber „gar nicht mehr ankommen“.
Ins Gespräch kommen: praktische Lösungsansätze
Sich auf die Wahrheit zu berufen, helfe also nicht weiter, meint auch Bernhard Kleeberg, der sich mit der "Praxeologie der Wahrheit" beschäftigt. "Die polemische Kraft der Anrufung von Wahrheit, treibt dann die einzelnen Parteien schon zu weit auseinander." Er rät, stattdessen den Blick auf die Akteure und die Praktiken zu lenken. "Im Grunde genommen müsste ein Lösungsansatz darauf zielen, zu vermeiden, dass die Wahrheitsfrage gestellt wird."
Stattdessen schlägt Bernhard Kleeberg vor, gemeinsame Erzählungen, Themen, Praktiken zu finden, in denen die umstrittene Wahrheit zur Seite gestellt wird und man über andere Dinge kommuniziert. Oder man solle sich gegenseitig erzählen, wie sich die eigene Position herausgebildet hat und was einschneidende Erlebnisse waren. Dabei solle man wirklich versuchen, das Verbindende zu finden und nicht auf das Trennende zu setzen. Das mag im persönlichen Gespräch ein erfolgsversprechender Ansatz sein. In medialen Debatten stößt dieser Ansatz aber schnell an seine Grenzen.
Jürgen Nielsen-Sikora, Professor für Bildungsphilosophie an der Universität Siegen, empfiehlt deshalb, auf Standards zu setzen, die auch in den Schulen vermittelt werden müssen. Er spricht in dem Zusammenhang von Wahrheit als einer "regulativen Idee", als etwas Formbarem, der man sich gemeinsam annähern muss – nach bestimmten Prinzipien. “Es geht darum, dass wir Gründe liefern, Begründungen liefern, Argumente liefern und uns in einen Diskurs mit dem anderen begeben. Denn Wahrheit lässt sich nur in der Auseinandersetzung mit dem anderen finden. Man muss bereit sein, sich eben auf verschiedene Perspektiven und Positionen einzulassen, und versuchen, sich der Idee der Wahrheit anzunähern. Das ist ein offener Prozess, der immer weitergeführt wird. Und der Glaube, dass wir dann eines Tages die Wahrheit gefunden haben, der wird sicherlich immer wieder enttäuscht werden.” Das klingt so, als würden uns die Debatten über Corona und das Impfen noch lange beschäftigen.
(lkn)