Von wegen "kleine Grippe"
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Als "kleine Grippe" hat der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro die Gefahr einer Coronainfektion noch im März heruntergespielt. Heute ist Brasilien der Corona-Hotspot Lateinamerikas. Trotzdem schickt der Präsident alle zur Arbeit.
Über 25.000 Menschen sind in Brasilien am Cornavirus gestorben - Stand 28.5.2020. Und 400.000 Brasilianerinnern und Brasilianer sind offiziell infiziert. Damit gehört Brasilien neben den USA und Russland zu den drei Zentren der Pandemie. Und die Dunkelziffer dürfte hoch sein.
Nachdem die "weißen Reichen" das Virus ins Land gebracht haben, breitet es sich nun unter den "schwarzen Armen" in den Favelas rasant aus. Dort nimmt kaum einer Notiz von den Todesursachen und der Zahl der Infizierten, viele tauchen in der Statistik nie auf.
"Das Leben spielt sich draußen ab, die Kinder spielen miteinander. In den Favelas ist es schier unmöglich, Abstand zu den Nachbarn zu halten. Stattdessen versucht man hier, unter sich zu bleiben und wenigstens den Kontakt nach draußen zu vermeiden," so Korrespondent Ivo Marusczyk.
In den Favelas grassiert das Virus
Die hygienischen Bedingungen in den Favelas sind schwierig, oft gibt es nicht einmal Wasser, geschweige denn Desinfektionsmittel. Und weil sehr viele von der Hand in den Mund leben, müssen sie morgens zur Arbeit gehen, um abends zu essen. Sie können nicht zu Hause bleiben.
Wer kann, ergreift Schutzmaßnahmen und trägt eine Maske und hält Abstand. Geht es allerdings nach dem brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro, ist das sowieso alles nicht notwendig. Er verharmlost die Gefahr einer Corona-Infektion immer noch und will zur Normalität zurückkehren. Sogar Fitnessstudios und Schönheitssalons sollen wieder öffnen. Es handle sich um systemrelevante Wirtschaftszweige, so Bolsonaro letzte Woche.
Mit seiner laxen Haltung stellt sich der Präsident teilweise offen gegen das Parlament und widerspricht allen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Zwei Gesundheitsminister hat er in kürzester Zeit verschlissen - Männer, die ihm eigentlich nahe standen.
Der Onkologe Nelson Teich, der nur vier Wochen im Amt war, warf hin, als Bolsonaro ein Malariamittel gegen Covid-19 offiziell zur Behandlung empfehlen wollte, das nachweislich keine Erfolg bringt, sondern im Gegenteil sogar großen Schaden anrichten kann. Teich fürchtete wohl um seine Reputation als Mediziner und legte sein Amt nieder. Der Gesundheitsstaatssekretär folgte kurz darauf. Mangels Personal leitet nun ein General das Gesundheitsressort.
Bolsonaro bezeichnet die Gouverneure als "Stück Scheiße"
Schlechte Aussichten für die Brasilianerinnen und Brasilianer, die auf den Staat angewiesen sind. Allerdings leisten viele Gouverneure, z.B. in Rio oder Sao Paulo, dem Präsidenten nicht Folge. Sie nutzen ihr Recht auf autonomes Handeln in der Krise und verhängen Ausgangssperren, schließen Schulen und Restaurants. In einem gerade veröffentlichten Video einer Kabinettssitzung Ende April beschimpft Bolsonaro diese Gouverneure als "ein Stück Scheiße".
Tjerk Brühwiller, der in Sao Paulo als Korrespondent für die FAZ arbeitet:
"Es war nicht die erste Aggression, der sich die Gouverneure ausgesetzt sahen. Schon seit Beginn der Krise schießt Bolsonaro gegen alle, die sich ihm entgegenstellen. Aber der Gouverneur Sao Paulos bleibt gelassen, er weiß natürlich auch, dass er eine Machtposition hat, denn Sao Paulo ist mit Abstand der wirtschaftlich wichtigste Budnesstaat Brasiliens."
Im Schatten der Krise wird der Amazonas abgeholzt
Das Video entlarvt auch andere Regierungsmitglieder. Mit Kraftsprüchen profiliert sich der Bildungsminister. Er bezeichnet die Richter des Obersten Gerichtshofs als "Penner", die hinter Gitter gehören. Und der Umweltminister regt offen an, die Krise zu nutzen, um den Umweltschutz zu umgehen.
"Wir sollten die Gelegenheit nutzen, da die Presse uns gerade eine Verschnaufpause gibt, um die Reformen durchzuführen, für die wir keine Gesetzesänderung brauchen, also Deregulierung und Vereinfachung. Die meisten Dinge können wir mit Verordnungen der anwesendern Ministerien umsetzen. Wir haben gerade Ruhe, da die Presse ja nur über Covid redet, deshalb sollten wir jetzt die Rinderherde durchwinken und die ganzen Regeln ändern. Und die Normen vereinfachen."
Besonderer Fokus liegt auf dem Amazonas-Regenwald. Der wird weiter abgeholzt mit dem Ziel, ihn wirtschaftlich nutzbar zu machen. Indigene Völker ziehen sich immer mehr in den Regenwald zurück, weil sie Angst vor Ansteckung durch Goldgräber oder Viehzüchter haben. Europäische Supermarktketten haben inzwischen gedroht, keine brasilianische Waren mehr ins Sortiment zu nehmen, sollte die Beschädigung des Regenwaldes weitergehen.
Tjerk Brühwiller glaubt, dass internationaler Druck durchaus etwas bewirken kann:
"Zurzeit bestimmen die politischen Grabenkämpfe die Agenda, Amazonien spielt da gerade keine Rolle. Aber wir haben ja letztes Jahr schon gesehen, als die großen Brandrodungen waren und die ganze Welt nach Brasilien blickte, dass es nicht ohne Folgen bleibt, wenn Druck auf die mächtige Agrarindustrie ausgeübt wird. Das kommt dann auch irgendwann bei der Regierung an."
Bolsonaro soll mit der Veröffentlichung des Videos eigentlich in eigener Sache überführt werden. Er wird beschuldigt, Einfluss auf die Bundespolizei nehmen zu wollen, die gegen Mitglieder seiner Familie wegen geschäftsmäßiger Verbreitung von Fake News ermittelt. Im Video sagt er: "Wenn ich den Chef nicht austauschen kann, dann tausche ich den Minister aus. Punkt." So entlarvend die Aussagen sind und so miserabel seine Performance in der Coronakrise ausfällt - für ein Amtsenthebungsverfahren Bolsonaros dürfte es vorerst nicht reichen. Das Militär ist in die Regierung fest eingebunden und rund 30 Prozent der Brasilianerinnen und Brasilianer stehen trotz allem hinter ihrem Präsidenten.