Ab Veilchendienstag war fast alles anders
12:16 Minuten
Bis Februar war Gangelt kaum jemand außerhalb der Region Aachen ein Begriff. Doch nach der dortigen Karnevalsfeier wurde der Ort zum ersten deutschen Corona-Hotspot. Mit der Pandemie änderte sich fast alles. Zwei Einheimische erinnern sich.
Jens Fleischer dreht den Schlüssel im Schloss, öffnet die Tür: "Hier ist ja keine Veranstaltung – nix, ne?" Zusammen mit Stefan Keulen betritt er den Bürgertreff Langbroich, jene Bürgerhalle, in der Mitte Februar die Kappensitzung der Karnevalsvereinigung "Dicke Flaa" in Langbroich-Harzelt stattgefunden hat.
Die beiden, 39 und 43 Jahre alt, stehen an der Theke in der leeren Halle. Dort liegt ein Formular.
– "Ach, guck mal hier. Müssen wir auch ausfüllen."
– "Ach ja, stimmt. Das wir hier drin waren, und sei es nur mit drei Leuten: Viertelstunde, zwanzig Minuten, halbe Stunde getroffen."
– "Ach ja, stimmt. Das wir hier drin waren, und sei es nur mit drei Leuten: Viertelstunde, zwanzig Minuten, halbe Stunde getroffen."
Er fängt an zu schreiben.
Ein Samstagabend im Februar
Damals, an jenem Samstagabend Mitte Februar, waren es gut 300 Menschen, die hier in der Halle waren. Die beiden zeigen in den Raum: "Tische, Bänke links und rechts, ich glaube sieben Reihen Tische, die natürlich beidseitig mit Bänken gestellt sind. Oben der klassische Elferrat mit Prinzenpaar."
Sowie Keulen und Fleischer. Denn: Die beiden waren die Sitzungspräsidenten.
"Wir beide sind quasi diejenigen, die durchs Programm führen, als Sitzungspräsidenten. Das hat sich so ergeben. Ja, wir sind ein sehr kleiner Verein mit 30 Mitgliedern und wir stemmen diese Veranstaltung komplett alleine. Das heißt: Wir müssen die Theke bedienen, müssen da arbeiten. Wir müssen kellnern, wir müssen den Elferrat besetzen und wir müssen die Auftritte haben."
Dann spricht er zur Arbeitsteilung der beiden: "Und da wir eigentlich auch in unterschiedlichen Gruppen tätig sind, das heißt, er macht schon mal eine Rede alleine oder ist in einer Gesangsgruppe mit dabei, und ich mach auch was anderes. Wenn ich dann unterwegs bin, dann moderiert er. Ein bisschen lockerer. Das hat schon einen gewissen Charme, dass man das zu zweit macht."
Ab Veilchendienstag war alles anders
Rund 850 Menschen leben in Langbroich-Harzelt, einem Ortsteil der Gemeinde Gangelt im Kreis Heinsberg. Im Dorf gibt es keine Kneipe mehr, stattdessen kommen die Menschen hier, in dieser Halle, zusammen. Es gibt Jugendgruppen, Theaterproben, Aufführungen, Feste – Alltag in der Provinz eben.
Doch vor knapp einem halben Jahr war hier auf einmal alles anders. Die beiden Karnevalisten, nun wegen der Sommer-Hitze im August in kurzen Hosen, nicken.
Bis Rosenmontag war ihre Welt eigentlich noch in Ordnung: "Ja, Veilchendienstag bis zum späten Nachmittag auch noch."
"Oder frühen Abend. Die Kinder lagen schon im Bett, weil sie am nächsten Tag zur Schule mussten und dann kam der Anruf."
Es war der 25. Februar, eben Veilchendienstag, an dem die Corona-Nachricht hier alles grundlegend änderte:
"Zum Corona-Hotspot wird der Landkreis Heinsberg in NRW", hieß es da im Radio und die Berichterstattung überschlug sich: "Hotspot Heinsberg" oder "In Gangelt fing alles an…", "das deutsche Ischgl", hieß es da, "Ground Zero des Coronavirus".
Heinsberg und Wuhan
"Aus Heinsberg", hieß es im Radio, "jenem kleinen Landkreis mit rund 250.000 Einwohnern nördlich von Aachen, der Ort in Deutschland, der fast in einem Atemzug mit chinesischen Wuhan genannt wird."
"Wir wollten nie groß berühmt werden mit unserer Kappensitzung. Sind wir jetzt leider doch geworden", sagt Keulen rückblickend. Leider sei es heute so in der Welt: "Die Nachricht 'Flugzeug gelandet' ist ja keine Nachricht, sondern 'Flugzeug abgestürzt'. Das ist die Nachricht und leider ist dann hier ein Flugzeug abgestürzt im übertragenen Sinne. Und von daher stehen wir jetzt hier so ein bisschen im Fokus."
Die Kappensitzung Mitte Februar, die Nachricht von zahlreichen positiven Corona-Fällen gut zwei Wochen später, richteten fast alle medialen Scheinwerfer auf die Ortschaft im tiefsten Westen der Republik: "Ich finde, wir haben das alle gemeinschaftlich ganz gut gehandelt hier". – "Also, das fing an vom Krisenstab her, ob es Bürgermeister Tholen war oder Landrat Pusch. Hier im Kreis Heinsberg wurde das sehr gut gehandelt."
Der Krisenstab kam zusammen, die Schulen wurden geschlossen.
– "Alle, die auf der Sitzung waren, sollen sich melden beim Gesundheitsamt."
– "Genau."
– "Und Quarantäne. Und. Und. Und."
– "Genau."
– "Und Quarantäne. Und. Und. Und."
Eine Medienwelle schwappt über das Dorf
Der Kreis Heinsberg war die erste Region in Deutschland, die zurückgefahren wurde, in der es öffentliche Einschränkungen gab – die aber auch am Pranger stand. Keulen nickt.
Jetzt Monate danach, wollen sie reden, über die Zeit, in der sie "wie eine Sau durchs Dorf gejagt worden, als ob das hier die Quelle allen Übels ist."
– "Das wollen wir jetzt ein bisschen aufarbeiten mit dem Hintergrund, dass es dem einen oder anderen auch wieder besser geht."
Damals schwappte die mediale Welle durch und über das Dorf: "Ab 9 Uhr klingelt das Telefon im Zehn-Minuten-Takt. Angefangen von Printmedien, erstmal die lokale oder örtliche Presse, in dem Fall bei uns hier, 'Heinsberger Zeitung', 'Geilenkirchener Zeitung', übergeordnet 'Aachener Zeitung'. 'Rheinische Post', 'Bild'-Zeitung, 'Welt am Sonntag', nachher auch 'FAZ', 'Süddeutsche'. Dann kamen die TV-Sender, ProSieben, RTL, Sat.1, und so weiter und so fort. WDR. Das Telefon hörte nicht auf, jeder wollte was zur Sitzung wissen."
Er schmunzelt. Heute.
Facebook-Seite vom Netz genommen
Doch damals, unter Druck, in Quarantäne, war es weniger lustig. Nach ein paar Stunden verwies der Verein auf die Pressestelle des Kreises – und schwieg:
– "Hoch clever im Nachhinein."
– "Und dann haben wir auch gesagt: Komm, nimm die Homepage vom Netz, nimm unsere Facebook-Seite vom Netz. Das nimmt langsam Ausmaße an. Wie gesagt: Schon nach wenigen Stunden. Da haben wir gesagt, bevor uns das jetzt weiter überrollt: Nimm das schon mal vom Netz."
– "Und dann haben wir auch gesagt: Komm, nimm die Homepage vom Netz, nimm unsere Facebook-Seite vom Netz. Das nimmt langsam Ausmaße an. Wie gesagt: Schon nach wenigen Stunden. Da haben wir gesagt, bevor uns das jetzt weiter überrollt: Nimm das schon mal vom Netz."
Journalisten, die an Haustüren klingelten, in Gärten eindrangen, am Kindergarten fotografierten. Falsche Berichte, dass Menschen im Dorf gemieden würden.
– "Das war schon Belästigung."
– "Grenzte schon an Belästigung."
– "Grenzte schon an Belästigung."
"Man ist ja emotional ganz woanders, man möchte einfach nur in Ruhe gelassen werden. Man weiß nicht, wie geht es den Leuten, die erkrankt sind, die schwer erkrankt sind? Wie sieht die Zukunft aus? Man ist da ja mehrfach belastet: Was ist mit dem Karneval? Was ist mit den Leuten? Was ist beruflich?"
Offene Fragen.
Dorfinterne Kommunikation
Doch parallel zu dem grellen öffentlichen Scheinwerferlicht gab es dorfinterne Kommunikation: "Man hat ja wirklich das ganze Geschehen hier mitbekommen: Wer ist infiziert, wie schlimm ist es. Wir waren ja über sämtliche WhatsApp-Gruppen wirklich sehr gut untereinander vernetzt und wussten auch, was hier Stand der Dinge ist. Wenn man die Zeitung aufmacht, da stand wieder was ganz anderes und da denkt man sich auch: Woah. Vielleicht hätten wir… Wenn wir mehr Informationen rausgegeben hätten, vielleicht wäre es dann anders gewesen, ich glaube es aber nicht."
Man half sich untereinander: "Also, ich glaube, wir sind enger zusammengerückt. Das ist ganz klar."
"Das war wie bei der WhatsApp-Gruppe im Karnevalsverein. Da hieß es: 'Oh, der und der ist ins Krankenhaus gekommen'. Uh, ja. Da haben wir Daumen hoch oder irgendwie so: 'Komm, ich bin aus dem Krankenhaus zurück. Weiter gute Besserung. Und mach's gut.' Und Daumen hoch und wirklich auch viel, viel Aufbauarbeit gegenseitig geleistet. Und es waren ja doch einige aus dem Verein auch im Krankenhaus."
Ein Dorf kämpfte. Auch Keulen und Fleischer haben Antikörper, wie ein Test später zeigte. Damals, in der Quarantäne, sollten sie einzig Fiebertagebuch führen. Das zeigt: Deutschland lernte damals noch, auch von Heinsberg: "Alle waren unerfahren. Das war ja wirklich alles ganz neu."
Videos vom Landrat
Doch vor allem der örtliche Landrat Stephan Pusch von der CDU bekam viel Lob. Er wurde – bundesweit – ein Gesicht der Krise – aber auch nach innen, für die Menschen vor Ort, mit seinen Handy-Videos: "Vor allem auch so blöde Sachen, wo er Samstagsabend dann nochmal gesagt hatte: 'Hör mal, die Labore, die wir momentan haben, die die Tests auswerten, die sind am Anschlag momentan. Wir werden über den Sonntag nicht alle Proben, die wir jetzt genommen haben, auswerten können. Das heißt: Die Zahlen am Sonntag, die werden abflachen, dann werden die am Montag natürlich alle ausgewertet und dann geht es am Montag wieder hoch. Bitte, macht euch keine Gedanken'."
Im Kreis Heinsberg funktionierte das. Doch: Angenehm war diese Phase wirklich nicht. Es tauchten alte Fotos in Zeitungen auf, die den mutmaßlichen "Patienten 0" zeigten, der später starb. Gut 40 Prozent sollen auf der Kappensitzung letztendlich infiziert gewesen sein oder sich da angesteckt haben, so der heutige Wissenstand – doch "Patient 0"?
"Wer derjenige war, der es verteilt hat, das ist vollkommen offen. Das kann ich gewesen sein, das kann er gewesen sein, das kann jeder andere gewesen sein."
"Es gibt auch Vermutungen, dass dieses Virus schon viel, viel länger hier war, weil ganz viele, auch meine Kinder beispielsweise, im Januar schon sehr, sehr krank waren. Also, fiebrig krank waren. Mit hohem Fieber, mit Husten und, und, und… Aber das war damals eine Erkältung, da lässt man die Kinder vielleicht eine Woche oder so aus Kindergarten, Schule, weil Corona… Für mich war Corona auch noch Rosenmontag Lichtjahre weg. Ich hab' an vieles gedacht, aber nicht an Corona."
Ungeklärte Fragen bis heute
Und dessen Folgen: Fleischer und Keulen können stundenlang erzählen, was die Nachricht von dem Virus mit dem Ort und den Menschen gemacht hat. Auch von Ungereimtheiten.
Das gilt auch für den Karnevalsumzug im Dorf: Eine Woche nach der Kappensitzung und eine Woche vor den ersten positiven Fällen, fand dieser Umzug statt. Über 4000 Menschen waren da, der Zug endete hier, an der Halle, mit einer Abschlussfeier.
Fleischer nickt:
– "Dann sind in dieser Halle, was schätztest Du?"
– "600, 700, 800 Leute."
– "Das ist hier proppenvoll."
– "Dann sind in dieser Halle, was schätztest Du?"
– "600, 700, 800 Leute."
– "Das ist hier proppenvoll."
– "Das ist hier der Eingang, dann wird hier mit Ordnern, die stehen dann da. Hier ist dann der Ausgang."
– "Dann befinden sich im maximalen Fall zu Spitzenzeiten, und wenn es nur für eine halbe Stunde, Stunde ist, vielleicht 600 bis 700 Leute hier drin. Das war eine Woche später. Da hat bisher nie einer nachgefragt oder einer gesagt: Vielleicht hat sich da auch noch einer angesteckt. Die Auflösung nach dem Zug war völlig egal…"
– "Dann befinden sich im maximalen Fall zu Spitzenzeiten, und wenn es nur für eine halbe Stunde, Stunde ist, vielleicht 600 bis 700 Leute hier drin. Das war eine Woche später. Da hat bisher nie einer nachgefragt oder einer gesagt: Vielleicht hat sich da auch noch einer angesteckt. Die Auflösung nach dem Zug war völlig egal…"
Noch so eine Wendung. Dennoch: Die Gemeinschaft blieb stark:
"Das schweißt auf jeden Fall zusammen, auch vom Verein."
Der Humor der Karnevalisten bleibt
In diesem Jahr wollen sie sich hier in der Halle noch einmal treffen. Das Fischessen an Aschermittwoch fiel ja aus. Und Keulen und Fleischer denken bereits an die Sitzung im nächsten Jahr:
– "Es muss ja weitergehen. Wir sind doch Karnevalisten, das heißt, wir sind ja Berufsoptimisten."
– "Genau."
– "Von daher: Ich glaube, das Lachen verbieten lassen wir uns auf gar keinen Fall."
– "Genau."
– "Von daher: Ich glaube, das Lachen verbieten lassen wir uns auf gar keinen Fall."
Auch erste inhaltliche Gedanken machen sie sich schon: "Ich glaub, wir haben Stoff genug für die nächsten Sitzungen."
Und sie überlegen, erstmals in der 40-jährigen Geschichte eine Neuerung einzuführen:
"Naja, bei dem Bekanntheitsgrad müssen wir uns, glaub ich, wirklich mal überlegen, ob wir nicht für die nächste Sitzung vielleicht auch einen Kartenvorverkauf brauchen."
"Mit personalisierten Karten."
"Das sollten wir wirklich mal. Wenn es soweit ist und wir wieder eine Sitzung machen können, muss man da wirklich mal drüber nachdenken. Selbst wenn es jetzt 2022 werden würde, ich glaub, das ist bis dahin doch immer noch soweit in den Köpfen drin ist, dass der eine oder andere noch sagt: Da muss ich mal hin."
Sie können schon wieder lachen. Auch wenn das Erlebte wirklich erst ein paar Monate her und eigentlich immer noch unglaublich ist.
Jedes Jahr fährt Keulen mit Freunden zu Silvester weg – auch Ende 2019: "Zum neuen Jahr ging es ja in den Medien um, dass, wenn man jetzt zum Bäcker geht, dass man da so einen Bon bekommt. Für jedes Brötchen bekommt man einen Bon. Und da haben wir noch gesagt: Oh mein Gott, was wird das für ein beklopptes Jahr, jetzt kriegt man überall einen Bon.'"
Er macht eine Pause: "Es wäre schön, wenn es nur das Bon wäre, was uns jetzt so beeinträchtigt. Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Da ist was dran."
"Jawohl. Allerdings, besonders dieses Jahr."
Und sie wissen wirklich, wovon sie sprechen.