"Manchmal denke ich, es ist Krieg"
28:04 Minuten
Vor Corona gab es in einem Alten- und Pflegeheim in der Nähe von Heidelberg regelmäßig Modenschauen, Bastelstunden und Ausflüge. Seit März werden alte Menschen von der Welt und voneinander abgeschottet. Was macht das mit ihnen?
Durch kleine Fenster am Ende des Flurs dringt warmes Licht der Nachmittagssonne. Nicht viel davon erreicht die weit auseinander geschobenen Tische. An jedem sitzt eine alte Frau oder ein alter Mann, gebeugt über ein Liederheft. Und Betreuerin Lina Grünberg gibt alles, um ein wenig romantische Stimmung zu verbreiten.
Singstunde zu Coronazeiten im Anna-Scherer-Haus – einem Alten- und Pflegeheim der paritätischen Sozialdienste in Bammental bei Heidelberg. Fast alle singen mit, und einem der Bewohner, der früher im Chor gesungen hat, steigen hinter dicken Brillengläsern Tränen in die Augen. Das sei so bei ihm, erzählt später Lina Grünberg.
"Wenn ich sage: ‚So, heute singen wir‘, sehe ich schon das Strahlen in den Augen. Das ist so verankert bei ihm. Klar, es geht emotionell auch ihm an die Substanz. Das merkt man dann schon."
Abgeschottet - von der Welt und voneinander
Ein Heim aus vier-, fünfstöckigen Häusern in warmem Orange, gebettet in einen kleinen Park, wo viel blüht, aber niemand auf einer Bank sitzt und sich daran freut. Ich habe das Anna-Scherer-Haus Anfang Mai das erste Mal besucht und bis Mitte Juni immer wieder – in diesen Wochen der Corona-Beschränkungen. Was geschieht mit alten Menschen, die weitgehend abgeschottet werden – von der Welt und voneinander? Was macht das mit ihnen und was mit Pflegekräften, Betreuerinnen und Angehörigen?
Nach der Singstunde sitzen mehrere Frauen schweigend im Aufenthaltsraum, löffeln ihren Apfelkuchen. Wieder jede für sich allein an einem Tisch in dem weiten Raum mit idyllischen Landschaftsfotografien an den Wänden.
Mit Frau M. könne ich sprechen, hat Heimleiter Michael Nicolaus gesagt. Da sitzt sie neben dem Aquarium und schaut dem Treiben bunter Fische zu. Als ich sie anspreche, lächelt sie und lädt mich, den maskierten Fremden im giftgrünen Kittel, in ihr Zimmer ein. An den Wänden viele Bilder: die beiden Söhne, die Tochter, drei Enkel. Eigentlich sei sie gar nicht pflegebedürftig, sagt die 82-Jährige.
"Irgendwie habe ich mal einen Schock gekriegt - und ich weiß aber nicht, woher es kommt. Ich kann nicht mehr laufen. Ich brauche Hilfe zum Laufen. Und so ist das gekommen, dass ich dann im Rollstuhl gelandet bin."
Einsamkeit, die greifbar ist
Wir reden, und schnell sind wir beim Krieg, ihrer Mutter, die den Mann an der Front besuchen wollte – ohne das sechsjährige Kind.
"Und dann hat sie mich nach Magdeburg gebracht. Und da habe ich den Krieg miterlebt: Bombenangriffe, Bombenangriffe fast jede Nacht. Und das war für mich die Hölle. Seitdem hatte ich dann auch Angst, in den Keller zu gehen. Ich bin nicht mehr allein in den Keller gegangen vor lauter Angst. Die besteht auch heute noch."
Frau M. vertraut sich mir an. Ihre Einsamkeit ist mit Händen zu greifen. Und Besucher sind selten in diesen Zeiten.
"Ich war immer sehr, sehr allein und sehr einsam. Ich hab nur für die Kinder gelebt. Mein Mann war ja fast nie da."
Eine Ehe, die keine war. Frau M. hat die drei Kinder allein großgezogen und das Beste daraus gemacht.
Frau M. fehlen die Umarmungen
"Ich habe viel erlebt mit den Kindern, hab viel unternommen mit den Kindern – die ganzen Ferien über. Wir kamen ja nicht in Urlaub. Kein Geld. Und dann habe ich viel unternommen. Wir waren viel dann in Heidelberg. Ich bin mit denen in den Zoo, ich bin mit denen ins Schwimmbad. Oder wir sind in den Wald, ganz tief in den Wald rein, bis Kohlhof oder so. Und so habe ich die Kinder dann über die Ferien darüber gebracht, wissen Sie?"
Und Corona? Sie habe keine Angst vor dem Virus, sagt Frau M. - wen es erwische, den erwische es halt. Ihr machen eher die ganzen Vorschriften und Vorsichtsmaßnahmen Angst. Die erinnern sie an früher.
"Manchmal denke ich, es ist Krieg. Manchmal denke ich, es hat mich wieder eingeholt. Damals durfte man ja auch gar nichts. Ist egal, wo man gespielt hat – in den Keller musste man."
Heute muss Frau M. in keinen Keller. Sie telefoniert viel mit den Kindern und freut sich, wenn sie mal kommen – leider einzeln, mit Maske und zwei Metern Abstand. Ihr fehlten so sehr die Umarmungen der Kinder, das Drücken der Enkel, sagt sie. Ab und zu darf sie mit einer Betreuerin hinunter in den kleinen Park, um frische Luft zu schnappen und den Vögeln zuzuhören.
Mit Musik die Stille übertönen
Zusammen Tee trinken aber, sich dabei erzählen, und so in geborgener Atmosphäre auch mal die Zeit zu vergessen - das fehle ihr, sagt sie, das sei im Moment einfach nicht möglich. Und all die Regeln und Verbote - die hätten auch mache Heimbewohner verändert.
"Zum Beispiel: Vor Kurzem kam Sonntagmorgens unten ein Konzert. Da war ich hier am Fenster. Und da war eine Frau mit mir, die haben sie mir ins Zimmer mit reingebracht. Eine Frau vom Stock hier. Dann habe ich gesagt: 'Kommen Sie her zum Fenster.' 'Nee, nee, nee' hat sie gemacht und ist immer weiter zurück. Sie hat Logenplatz gehabt. Ne, das hat ihr nicht behagt. Und dann habe ich sie gelassen."
Frau M. braucht jetzt eine Pause, wir hören gemeinsam Radio: das Sonntagskonzert auf SWR 4, das sie so liebt.
Auch draußen, im Aufenthaltsbereich, läuft das Radio. Betreuerin Claudia Schönfelder will damit die Stille übertönen.
Betreuerinnen im Altenheim sind zuständig für das seelische Wohl der Bewohner. Die meisten sind Quereinsteigerinnen. Sie waren Friseurin, Sekretärin oder Verkäuferin – bevor sie beschlossen, etwas zu tun, was sie als wirklich sinnvoll erleben. Claudia Schönfelder macht keinen Hehl daraus, wie sehr auch ihr die Corona-Distanz zu schaffen macht.
"Man fragt sich heute: Darf ich den jetzt in den Arm nehmen, weil viele sind, wo man die mal tröstet oder die mal in den Arm nimmt, wenn sie weinen. Ich frag mich: Darf ich das jetzt oder? Ich mach‘s nicht, im Moment – aus Rücksicht."
Keine Modenschauen, keine Bastelkurse
Die Betreuerin erlebt die Distanz, auch die Maske, die sie tragen muss, als Sabotage an ihrer Arbeit mit den Menschen.
"Ich hab auch immer das Gefühl: Die Bewohner sehen unser Lachen gar nicht, was wir im Gesicht haben. Es fehlt. Man geht vorbei, man lächelt mal, dann sind die auch froh, wenn man sie anlächelt. Und unter der Maske sieht man gar nix."
Die Maske, sagt Claudia Schönfelder, fördere Einsamkeit – so wie das Verbot fast aller sozialen Aktivitäten. Vor Corona, erzählt sie, habe es Frühlingsfeste gegeben im Heim, Pop-Konzerte, Modenschauen, wo auch Bewohnerinnen elegante Kleider vorführten, Bastelstunden, Malkurse, Gymnastik, Theateraufführungen - und mindestens dreimal im Jahr einen Ausflug.
"Die Leute waren beschäftigt. Die hatten ihre bunten Nachmittage oder Veranstaltungen und sitzen jetzt halt den ganzen Tag hier oben und warten, ob sie betreut werden oder nicht, ob jemand kommt, ob man mit ihnen was macht, warten auf Mittagessen, auf Abendessen."
Ein Drittel der Bewohner bekam schon früher nie Besuch, schätzt Claudia Schönfelder. Um andere aber kümmern sich Angehörige, insbesondere auch um Demenzerkrankte.
Zu Hause abschalten geht nicht
"Wir haben, zum Beispiel, oben eine Bewohnerin, da ist der Mann jeden Abend gekommen und hat seine Frau bespeist. Und der darf jetzt nicht mehr kommen, und diese Frau ist auch dement. Und die weint natürlich nur. Der Mann weint, weil er nicht zu seiner Frau kann. Der ruft dann immer an. Die Frau war immer für ihn da, als er krank war. Und sagt er: 'Wie soll meine Frau das jetzt verstehen? Ich komme jetzt plötzlich nicht mehr.' Und sie versteht aber nicht. Sie denkt einfach nur: 'Ah, der kommt nicht mehr. Jetzt hat er mich auch abgeschoben.' Weint und weint, also die Frau. 'Warum kommt der jetzt nicht mehr?'"
Claudia Schönfelder schluckt, als sie von dem Ehepaar redet. Sie wirkt erschöpft, mitgenommen von unserem Gespräch, dass binnen Minuten so vieles hochgespült hat.
"Ich nehme vieles auch mit nach Hause, muss ich ganz ehrlich sagen. Weil mich das berührt. Oder ich denke darüber nach, mach mir meine Gedanken zu Hause noch. Ich kann nicht so abschalten, wenn ich dann daheim bin. Manche Bewohner gehen mir einfach durch den Kopf – noch lange, wenn ich schon Feierabend habe."
"Wir sind keine Anstalt"
Die Tür des Büros von Heimleiter Michael Nicolaus steht immer offen. Nicolaus ist 48 Jahre alt, leitet das Anna-Scherer-Haus mit seinen 90 Betten seit elf Jahren. Als er von den Einschränkungen erzählt, die er seit Mitte März umsetzen muss, klingt der sonst so lockere und unkomplizierte Mann plötzlich bitter. Nachdem zunächst die Tagespflege schließen musste, kam vom Sozialministerium in Stuttgart die Anweisung…
"…dass einfach die Leute ihre Angehörigen hier in der Pflegeeinrichtung nicht mehr besuchen durften, bloß noch in begründeten Ausnahmen – wobei wir den Begriff der begründeten Ausnahme relativ weit gefasst haben, um doch noch möglichst viel Kontakt zwischen Bewohnern und Angehörigen zu ermöglichen. Aber das hat schon auch bei den Angehörigen dazu geführt, dass viele so in vorauseilenden Gehorsam auch nicht besuchen wollten, um ja niemanden zu gefährden oder irgendwie da in falsches Licht gerückt zu werden."
Und die Ausgangssperre? Michael Nicolaus schaut mich leicht irritiert an.
"Wir sind keine Anstalt. Wir haben keine Befugnisse, irgendwelche Türen zu verschließen. Wir haben keine Gewahrsamnahme irgendwie zu vollziehen. Da geht es um freiheitsbeschränkende Maßnahmen, die müssen richterlich angeordnet und genehmigt werden, ja. Auch wenn die Verordnung sagt, der Bewohner soll in der Einrichtung bleiben – in dem Moment, wo der zur Türe raus geht, kann ich ihm sagen, dass er das doch bitte unterlassen soll. Alles andere darf ich schon nicht mehr machen – weil er, ein rechtlich selbstständiger Mensch, ohne richterliche Anordnung nicht eingesperrt werden darf."
Da ist zum Beispiel Herr B. 83 Jahre alt, ein wortkarger, aber willensstarker Mann, der seit Jahren seine Freundin im Nachbardorf besucht.
"Die holt mich ab mit dem Auto und bringt mich auch abends wieder daher."
Corona? Ausgangssperre? "Mir wurde nichts gesagt, überhaupt nichts. Ich bin weggegangen und wiedergekommen wie normal."
Mundschutz? "Ich habe noch nie einen Mundschutz getragen – noch nie."
Und was hält Herr B. überhaupt von all den Schutzmaßnahmen für Ältere? "Schlimm, dass es so weit gekommen ist – wirklich schlimm. Gott sei Dank hier nicht. Gott sei Dank. Ich bin froh, dass ich hier gelandet bin."
Pflege ohne Körperkontakt geht nicht
Zwei Tage später servieren Antje und Martin Grünbacher den Heimbewohnern Kaffee. In der verglasten Stationsregie nehmen sie erleichtert die Maske ab. Die Arbeit sei anstrengend, sagt sie, aber zum Glück sei das Verhältnis zu den meisten Bewohnern gut. Nur manche Angehörige seien, mit ihrem ewigen Meckern, eine Katastrophe. Martin Grünbacher zuckt nur mit den Schultern.
"Muss man an sich abprallen lassen, sag ich immer. Wir sind ja für die Bewohner dar, nicht für die Angehörigen."
Die Grünbachers sind, sagen sie, regelmäßig platt nach der Arbeit. Waschen, Anziehen, Medikamente verabreichen - so ganz ohne Körperkontakt sei ihr Job gar nicht machbar, sagen sie. Über schlechte Bezahlung beschweren sie sich in Baden-Württemberg aber nicht. Dass sie neuerdings als "Alltagshelden" gelten, ist ihnen relativ egal. Sie machen ihren Job, tragen Maske und halten auch draußen Abstand so gut es geht. Deswegen haben sie auch keine Angst, dass sie das Virus ins Anna-Scherer-Hauses hineintragen.
"Angst habe ich jetzt nicht – weil, wir halten uns an die Regeln. Wir fahren an die Arbeit, wir fahren nach Hause, wir bleiben zu Hause. Und wenn wir einkaufen gehen, dann nur mit Mundschutz. Also, wir haben auch keinen Kontakt zur Familie, was natürlich für uns auch äußerst schwierig ist."
Doppelbelastung in Coronazeiten
Jetzt müssen beide wieder los, das Kaffeegeschirr abräumen. Dafür kann Kollegin Marta Watuszko kurz mal Pause machen. Eine junge, energisch wirkende Pflegerin, verheiratet mit einem Handwerker. Die siebenjährige Tochter geht, Corona-bedingt, nicht zur Schule. Marta Watuszko hat folglich als Mutter und Ehefrau mindestens so viel Arbeit und Stress wie im Pflegeheim.
"Er geht ja schon um fünf Uhr aus dem Haus, also muss da schon jemand für die Kleine da sein. In dieser Zeit mache ich halt Haushalt, Hausaufgaben mit ihr, kochen, putzen - dann renne ich schon in die Arbeit."
Ein paar Stunden verbringt die Tochter bei Verwandten. Dann kommt der Vater, müde von der Arbeit. Keine Spielkameraden, kein Toben draußen, zu wenig Struktur im Leben. Da werde, sagt Marta, das Kind schon mal renitent.
"Da kommt halt manchmal so: 'Nee, du bist nicht meine Lehrerin. Und meine Lehrerin hat soundso gesagt.' Ja, das Kind ist schon anders zu Hause wie bei den Lehrern jetzt. Vor den Lehrern haben sie bisschen mehr Respekt wie vor den Eltern, wenn es um die Schule geht."
Ihr Mann und sie täten alles, die Tochter in der Spur zu halten, sagt Marta.
"Aber es sind auch Tage, wo wir auch keine Kraft haben, wo ich jetzt nach der Arbeit kaputt bin. Und dann denke ich mir: Ach Gott, die ist noch so viel in Rückstand. Wie schaffe ich das? Und dann, an einem Tag, setze ich mich halt mit ihr hin und hole den Rückstand halt auf und noch die Hausaufgaben, die sie noch dazu bekommen haben."
Bald hat ihre Tochter Geburtstag und den würde sie gern wieder mit ihren Freundinnen im Freibad feiern. Ein Wunsch, der wahrscheinlich nur schwer zu erfüllen sein wird - wegen Corona. An der Schalttafel der Stationsregie leuchtet plötzlich eine Lampe auf: Frau K. braucht Hilfe. Marta steht auf. Jetzt wird sie wieder hier gebraucht.
Wundersalben und Kuscheltiere
Während sie den Gang entlang hastet, verteilt Martin Grünbacher die Post. Eine schmale Frau öffnet strahlend wie ein Kind den Umschlag eines Versandhauses. Kataloge sind eine willkommene Abwechslung im Heim. Aufgeregt durchblättert sie die Seiten voller Wundersalben, Wäsche und Kuscheltiere. Dann schlurft sie mit dem Katalog zu einem ehemaligen Seemann, der stets auf einem Stuhl im Zentrum des Aufenthaltsraums thront, alles im Blick.
Christine Kadner, 88 Jahre alt, hat nach Kräften mitgesungen in der heutigen Singstunde mit Betreuerin Lina Grünberg. Sie hasse Langeweile, sagt die aus Sachsen stammende Frau. Niemand habe sie ins Heim gebracht, erzählt sie. Vor einigen Monaten sei sie gestürzt und habe stundenlang da gelegen.
"Ich hab eben das von mir aus alleine eingeschätzt. Wo ich auf dem Fußboden gelegen bin und nicht hochkam, da habe ich gesagt: Das geht so nicht, ich muss in irgendein Heim."
Die 88-Jährige läuft ohne Rollator durch ihr geräumiges Zimmer. Sie staubt die vielen Fotos ihrer sechs Enkel und drei Urenkel ab. Sie läuft gelegentlich auch die Treppe rauf und runter: Man muss fit bleiben. Hat sie keine Angst vor Corona? – "Ach, machen Sie die Maske runter, junger Mann", antwortet sie nur.
"Wissen Sie was: ich bin so alt. Und da hat es immer schon mal irgendeine Epidemie oder was gegeben. Ich habe da überhaupt keine Bedenken dazu. Meine jungen Leute natürlich, meine Enkel und Urenkel, die sehen das ganz anders. Aber ich sehe das überhaupt nicht verbissen. Ich nehme es, wie es kommt – und fertig."
Pragmatisch durch die auferlegte Einsamkeit
Die beiden Töchter Christine Kadners sind selbst schon im Rentenalter. Die jüngere betreut jetzt – Corona hin, Corona her – ihre Enkel. Die Ältere ihren kranken Mann, der zurzeit nicht zur Tagespflege kann. Deshalb können die Töchter die Mutter zurzeit nicht oft besuchen. Telefonieren aber geht.
"Man muss das Beste draus machen. Und wir wissen ja: die Mutter ist gut versorgt, das sagt sie uns immer wieder. Und da ist eine Last schon mal von uns genommen. Und mit meinem Mann ist das zwar ein bisschen beschwerlicher, aber es geht noch. Wenn mein Mann mal schläft, dann gehe ich ein Stück spazieren bei uns im Wald, und ist alles gut."
In dieser Zeit der Kontaktsperren und Abstandsregeln sind für manche Bewohner Singstunden oder Versandhauskataloge Höhepunkte der Woche. Andere bewältigen pragmatisch die auferlegte Einsamkeit - oder reißen aus zu ihrer Freundin wie Herr B. Wieder andere würden so etwas nie tun - weil sie innerhalb des Heims schon immer wie auf einer Insel in Quarantäne leben.
Im Anna-Scherer-Haus leben so die Schwestern Klara und Dorothea Gade. Drei Tage später führt mich eine Betreuerin in ihr Zimmer. Klara, 95 Jahre alt, ist eine Frau mit einem kantigem Charakterkopf, wie gemeißelt von einem Bildhauer. Schwer atmend sitzt sie auf der Kante ihres Bettes.
"Ich bin das neunte von zehn Kindern. Ich bin aus einer ganz katholischen Familie. Zwei meiner Brüder waren Priester. Wir wurden einfach erzogen, aber zum Gehorsam und zur Ordnung."
Keines der zehn Geschwister habe je geheiratet, erzählt Klara Gade und deutet auf ein Bild an der Wand: ein großgewachsener Mann im Priestertalar mit Papst Johannes Paul dem Zweiten.
"1948 kam ich zu meinem Bruder. Der ist hier, als er dem Heiligen Vater die Reliquien auf dem Annaberg überreicht. Und dann wurde ich Katechetin und Organistin. Und das war ich sehr lange Zeit – bis zum Tode meines Bruders."
Rosenkranz und Tagesschau
Klaras 88-jährige Schwester Dorothea ist seit acht Jahren bettlägerig und hat auch geistig abgebaut. Acht Jahre hat Klara Dorothea gepflegt. Heute kann sie nur noch mit dem Rollator zu ihr hinübergehen, einen Fuß oder den Kopf zurechtrücken und der Schwester die Hand halten. Zwischen den Betten der beiden steht ein Tisch: darauf Heiligenfiguren, Kerzen und ein Bild Jesu gruppiert um eine Vase voller Rosen. An der Wand darüber ein Bild der Madonna mit dem Kind.
"Wir glauben und beten auch. Deshalb haben wir auch hier dieses kleine Altärchen uns gemacht. In der Nacht ist es dann beleuchtet. Und da leben wir friedlich und zufrieden und sind dankbar für alles, auch für die Betreuung in dem Haus, versuchen, so gut wir können, so wenig Belastung wie möglich zu sein, bloß einfach dankbar zu sein und zu helfen."
Jeden Abend um 19 Uhr 45 beten die Gade-Schwestern den Rosenkranz. Anschließend schauen sie die Tagesschau. Gott wisse, was er tue, sagt Klara Gade. Er wisse auch, warum er den Menschen das Coronavirus geschickt habe.
"Es ist eben vielleicht eine Prüfung, aber zugleich auch eine Chance für alle, dass einer dem anderen hilft – wissen Sie. Und was vernünftig ist, an das soll man sich eben halten und nicht Extravaganzen machen. Und vor allen Dingen auch – ich habe eine gewisse Ehrfurcht vor den Entscheidungen, die die Politiker führen müssen. Denn das ist ein sehr, sehr schweres Amt, sich zu entscheiden. Kritisieren ist einfach, aber Verantwortung übernehmen, das ist eine schwere Sache."
Leise öffnet sich die Tür. Eine junge Pflegerin tritt herein, zwei Tassen Suppe in der Hand.
Mitte Juni ist wieder Besuch erlaubt
14 Tage später gehe ich ein letztes Mal durch den Park des Anna-Scherer-Hauses. Auf einer Bank sitzt jetzt eine Frau, vertieft in ein Buch. Ein alter Mann setzt sich auf die Bank gegenüber.
In zwei Pflegeheimen sind in den letzten Tagen etliche Bewohner am Coronavirus gestorben, Dutzende sind infiziert. Auf Station des Anna-Scherer-Hauses stehen die Tische zwar nach wie vor weit entfernt voneinander, aber viele Bewohner unterhalten sich jetzt. Die Atmosphäre wirkt entspannter als vor zwei Wochen. Der Grund seien begrenzte Lockerungen des Lockdowns für Altenheime in Baden-Württemberg, berichtet Betreuerin Claudia Schönfelder.
Besucher dürfen jetzt ohne triftigen Grund kommen. Maske und Abstand seien aber weiterhin Pflicht. Auch der Mann der demenzkranken Frau, die gar nicht verstanden hat, warum sie plötzlich keinen Besuch mehr bekommt, darf jetzt wieder zu ihr.
"Er ist jetzt wieder öfter da. Ich glaube, jeden zweiten Tag kommt er. Er hat immer noch ein Leckerchen hinterher, dass sie ein Stückchen Schokolade oder irgend sowas noch kriegt. Und die genießen das alle beide. Und sie freut sich, er freut sich. Ist alles wieder gut."
Für Heimleiter Michael Nicolaus aber noch lange nicht. "Begrenzte Lockerungen" sind ihm zu wenig.
"Das, was hier an Maßnahmen betrieben wird mit allen Konsequenzen, sei es medizinischer, sozialer oder wirtschaftlicher Art, steht für mich in keinerlei Verhältnis zu dem, was an Infektionsrisiken und Auswirkungen da in der anderen Waagschale liegt."
Natürlich hätten ältere Menschen ein erhöhtes Risiko, am Coronavirus schwer zu erkranken oder gar zu sterben, meint Nicolaus. Aber Ältere hätten auch ein erhöhtes Risiko, an allen möglichen anderen Dingen zu sterben.
Entwürdigender Massentest
Ein trauriger Höhepunkt: der Corona-Massentest im Heim am 27. Mai. Vier Mitarbeiter des Gesundheitsamtes seien gekommen, um jene 50 Bewohner zu testen, für die eine Zustimmungserklärung vorlag. Ohne nähere Begründung habe es dann der Arzt der Delegation abgelehnt, bei den Bewohnern lediglich einen Rachenabstrich vorzunehmen, was relativ unproblematisch sei. Nein, kategorisch habe der Arzt auf einem sogenannten nasalen Abstrich beharrt – ein höchst traumatisches Erlebnis für schwache, ängstliche und vor allem demente Heimbewohner.
"Wenn Sie einen nasalen Abstrich machen, führen Sie 15 Zentimeter Holzstäbchen in die Nase ein. Und wenn der Bewohner dann auf einmal Panik kriegt und da anfängt sich zu wehren, dann müssen Sie versuchen, den Stängel wieder rauszukriegen, indem man mit viel Personal da irgendwie eine Form der Ruhigstellung erzielt, die es möglich macht, den Stängel wieder aus der Nase zu ziehen, ja. Da redet man über Gewalt, über Fixierung – um eine Situation wieder zu entschärfen, die man eigentlich wohlwissend vorher gar nicht hätte eingehen brauchen. Und das fand ich nicht in Ordnung."
Entwürdigend findet er das und hat dem Gesundheitsamt der Stadt Heidelberg einen Brief geschrieben.
"Und ich habe jetzt angefangen, auf die Straße zu gehen und mich zu beschweren und zu sagen: So kann das eigentlich nicht in Zukunft funktionieren, wenn man einen vernünftigen Staat und eine vernünftige Entwicklung haben will."
Einziger Trost: Keiner der am 27. Mai getesteten Heimbewohner ist infiziert.