David Lauer ist Philosoph und lehrt an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Philosophie des Geistes- und der Erkenntnistheorie. Er lebt mit seiner Familie in Berlin.
Gefangen in der Gegenwart
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Der weitgehende Stillstand unserer Alltagswelt hat uns nicht nur die Bewegung im Raum geraubt, sondern viel schlimmer noch: diejenige in der Zeit. Wir können uns gegenwärtig schlicht unsere Zukunft nicht vorstellen, kommentiert der Philosoph David Lauer.
Das Wort "privat" stammt vom lateinischen Verb privare ab. Das bedeutet "absondern", aber auch "berauben". Der Privatbereich ist also der vom öffentlichen Raum abgesonderte Bereich des je eigenen Lebens – die eigenen vier Wände. Wenn wir jedoch in diesen Bereich unfreiwillig hineingezwungen werden, wie es gegenwärtig im Zeichen der Corona-Krise geschieht, so wird das Private tatsächlich als Deprivation erfahren: als Raub des Soziallebens und der Bewegungsfreiheit.
Abgeschnitten von der Zukunft
Aber das ist nicht alles. Offenbar fühlen sich viele Menschen auch ihrer Zukunft beraubt. Laut einer Befragung des Allensbacher Instituts für Demoskopie ist die Zahl der Menschen in Deutschland, die optimistisch in die Zukunft blicken, im März auf dramatische 24 Prozent abgestürzt. Das ist der niedrigste Wert seit dem Zweiten Weltkrieg.
Natürlich: Viele Menschen haben derzeit allen Grund, sich um ihre wirtschaftliche Zukunft Sorgen zu machen. Aber aus philosophischer Sicht lässt sich vermuten, dass hinter dieser Zahl eine fundamentalere Erfahrung steht. Es ist nicht eine bestimmte zukünftige Entwicklung, die Angst erzeugt, sondern dass wir momentan überhaupt von jeder sinnvoll erwartbaren Zukunft abgeschnitten sind. Man könnte sagen: Was die Erfahrung der Corona-Krise kennzeichnet, ist nicht primär das Eingesperrtsein zu Hause, sondern mindestens so sehr das Eingesperrtsein in der Gegenwart.
Wir können Martin Heideggers Überlegungen in "Sein und Zeit" heranziehen, um diese These zu erläutern. Heidegger erklärt dort die Einzigartigkeit der menschlichen Existenz durch ihren fundamentalen Zukunftsbezug. Unsere Existenz erleben wir als sinnvoll nur, insofern wir uns selbst aus unserer eigenen Zukunft her verstehen, aus dieser Zukunft "auf uns zurückkommen".
Jede unserer Handlungen, auch die alltäglichsten, verstehen und motivieren wir aus einem zukünftigen Zustand – aus dem nämlich, der mit dieser Handlung erst herbeigeführt werden soll, um dessentwillen sie getan wird. In diesem Sinne entspringt die Sinnhaftigkeit der Gegenwart eines Menschen seiner Zukunft. Genauer gesagt: dem Entwurf, den er sich von dieser Zukunft macht, auch wenn dieser vielleicht nie verwirklicht wird.
Wir haben nicht den Raum verloren, sondern die Zeit
Sinnhafte Existenz setzt damit allerdings voraus, dass wir uns die Zukunft, auf die hin wir unser Leben entwerfen, auch irgendwie vorstellen können. Und hier liegt derzeit das Problem. Niemand weiß, wann und wie der gegenwärtige Lockdown enden soll. Schon das Nachdenken darüber wird als potenziell moralzersetzend, misstrauisch beäugt. Das Ergebnis ist, dass wir unser gegenwärtiges Tun nicht mehr ohne weiteres als eines verstehen können, das aus einer erwartbaren Zukunft betrachtet sinnvoll gewesen sein wird.
Das bedeutet nicht, dass nichts getan wird, im Gegenteil. Es gibt genug zu tun. Das Problem ist, dass wir angesichts der Zertrümmerung aller belastbaren Zukunftsentwürfe im Moment nicht zu sagen vermögen, was wir da eigentlich tun. Abgeschnitten von der Zukunft, vollführen wir die gewohnten Bewegungen so gut wie möglich weiter, ohne zu wissen, wo das hinführen soll. Und die gerade einmal drei Wochen alte Vergangenheit, in der es sinnhafte, stabil erscheinende Pläne und Projekte für das vor uns liegende Jahr gab, scheint plötzlich einem anderen Leben anzugehören.
Dies, so meine ich, ist die eigentlich fundamentale Verunsicherungserfahrung des gegenwärtigen Lockdowns: Uns ist nicht in erster Linie der Raum abhandengekommen. Wir sind aus der Zeit gefallen. Je länger dieser Zustand dauert, desto größere Verstörung kann er bewirken. Wir müssen so schnell wie möglich zurück in die Zukunft.