Impfen und die Coronapandemie

Impfmissverständnisse aufgedeckt und erklärt

09:09 Minuten
An der Spitze einer Kanüle ist ein Tropfen zu sehen. Es handelt sich um ein Symbolbild zum Thema Impfen.
Nicht mehr nur für Ältere empfohlen. Spätestens sechs Monate nach der letzten Impfung gegen Covid-19 ist eine Auffrischung sinnvoll. © picture alliance / dpa / agrarmotive / Klaus-Dieter Esser
Von Martin Mair |
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Rund um die Corona-Impfung sind viele Missverständnisse im Umlauf. Sie sorgen für Unsicherheit und fatale Zurückhaltung beim Impfen. Unser Wissenschaftsredakteur Martin Mair erklärt die Zusammenhänge.
Das stimmt nur auf den ersten Blick. Es ist nämlich verführerisch, einfach die Zahlen von heute mit denen von vor einem Jahr zu vergleichen – etwa die 7-Tage-Inzidenz, die vor einem Jahr deutlich geringer war. Nur: Das sagt aus mehreren Gründen nichts über den Schutz der Impfstoffe.
Der Wichtigste: Im Herbst 2020 war der Wildtyp des Coronavirus unterwegs. Danach grassierte die Alpha-Variante, heute kommt in Deutschland praktisch nur noch die Delta-Variante vor. Die ist um etwa 40 bis 60 Prozent ansteckender, weshalb die Zahlen heute höher sind.
Außerdem gab es vor einem Jahr einen Lockdown light: Restaurants und Kneipen waren geschlossen, später auch Teile des Einzelhandels, der Schulen und Kitas und es galten Kontaktbeschränkungen. Das Virus konnte sich deshalb weniger verbreiten.
Zudem wird der Begriff Impfschutz oft missverstanden. Er meint, dass die Impfung einen schweren Verlauf mit Krankenhausaufenthalt, Intensivstation, Beatmung oder Tod verhindern kann. Diesen Schutz bieten alle Impfstoffe.
Aber: Geimpfte können sich trotzdem infizieren, die Wissenschaft spricht dann von einem Impfdurchbruch. Meist verläuft die Krankheit milder. Das ist gut für den Einzelnen, aber für die Pandemie bleibt das Problem: Auch Geimpfte können das Virus verbreiten. Die Wahrscheinlichkeit steigt, je länger die Impfung zurückliegt und je schwächer das Immunsystem ist – etwa bei alten Menschen oder Menschen mit Vorerkrankungen.
Deshalb rät die Ständige Impfkommission zur Booster-Impfung. Eine dritte Dosis ist nicht unüblich, sondern Standard bei vielen Krankheiten wie Tetanus, Keuchhusten oder Kinderlähmung. Die Erfahrung zeigt, dass der Booster besonders die Gedächtniszellen des Immunsystems aktiviert – sie sind wichtig, damit der Impfschutz länger anhält. Womöglich funktioniert das auch bei der Corona-Impfung.
Das Tempo von Entwicklung und Zulassung war atemberaubend und binnen weniger Monate gab es Impfstoffe. Dafür gibt es mehrere Ursachen.
Die Hersteller mussten nicht bei null anfangen, sondern konnten auf Ergebnisse aus der Impfstoffforschung mit verwandten Viren zurückgreifen. Da die Pandemie die ganze Welt betrifft, wurden auch weltweit gleichzeitig Impfstoffe entwickelt. Und für die Forschung gab es so viel Geld wie noch nie. All das hat die rasante Entwicklung ermöglicht.
Zugelassen wurden die Impfstoffe nach den üblichen Qualitätsstandards. Auch das ging schneller, weil die verschiedenen Phasen der Zulassungstests gleichzeitig ablaufen konnten, da es Hunderttausende Freiwillige für die Studien weltweit gab.
Eine Frau im weißen Kittel steht in einem Labor, in dem Impfstoffe entwickelt werden.
Die Impfstoffe wurden rasant entwickelt, die Zulassungen verliefen jedoch nach allen üblichen Qualitätsstandards.© AFP / Thibault Savary
Einzelne Schritte in den Studien wurden aber nicht übersprungen. Dabei dürfen Versuchsteilnehmer weder durch Gewalt, Druck, List oder eine andere Form der Überredung zum Mitmachen an den klinischen Tests gezwungen werden. Festgelegt ist das in Gesetzen und dem sogenannten Nürnberger Kodex – in einem Urteil der Prozesse zu den NS-Verbrechen wurde diese medizinethische Grundlinie formuliert. Sie setzt Freiwilligkeit für die Teilnahme an medizinischen Experimenten zwingend voraus.
Inzwischen haben weltweit mehrere Milliarden Menschen einen zugelassenen Impfstoff bekommen. Deshalb sind auch selbst sehr seltene Nebenwirkungen wie Hirnvenenthrombosen bekannt, weil in wenigen Monaten so viele Menschen wie noch nie in der Geschichte geimpft wurden.
Langzeitfolgen sind nicht zu erwarten, denn bei Impfstoffen treten Nebenwirkungen innerhalb von Stunden oder Tagen, manchmal nach Wochen auf – nicht aber erst nach Jahren.
Das Risiko der Impfung ist immer sehr viel kleiner als die Folgen der Erkrankung. Das wiederum wissen wir, weil die Entwicklung der Corona-Impfstoffe das größte und wissenschaftlich am besten begleitete Impfprojekt in der Menschheitsgeschichte ist. Deshalb sind die Vakzine so gut getestet wie kein Impfstoff zuvor – trotz Rekordtempo.
Es ist richtig, dass das Coronavirus nicht wieder verschwinden wird. Es wird also auch künftig vor allem in den Herbst- und Wintermonaten Corona-Infektionen geben, sodass früher oder später praktisch jeder Mensch damit Kontakt haben wird.
Hier gibt es zwei Gruppen: Die Ungeimpften erkranken in jedem Fall an Covid-19. Je nach Alter, Gesundheitszustand und Risikofaktoren verläuft die Krankheit leicht, mittel oder schwer. Wer die Krankheit übersteht, ist danach eine gewisse Zeit geschützt, weil die Infektion das Immunsystem trainiert, sodass es das Virus bei einem erneuten Kontakt in Schach halten kann.
Geimpfte sind beim Erstkontakt schon einen entscheidenden Schritt weiter: Ihr Immunsystem wurde durch die Impfung trainiert, ohne dass es eine Covid-19-Erkrankung mit den entsprechenden Risiken gab. Zwar können sich auch Geimpfte anstecken, aber: Die Wahrscheinlichkeit für einen schweren Verlauf ist sehr viel kleiner, weil das Immunsystem schon im Trainingslager war. Und: Geimpfte sind kürzere Zeit ansteckend als Ungeimpfte.
Im Profil ist ein Gesicht mit Maske zu sehen, davor fliegen winzige Wassertröpfchen wie von einem Nieser.
Ungeimpfte werden künftig an Covid-19 erkranken. Geimpfte können sich zwar ebenfalls anstecken, bei ihnen ist jedoch die Gefahr für einen schweren Verlauf wesentlich geringer.© picture alliance / Andreas Franke
Vorbei ist die Pandemie, wenn genügend Menschen immun geworden sind: Entweder dank einer Impfung oder wegen einer Erkrankung, die allerdings die gefährlichere Alternative ist. Etwa zehn Prozent der Coronapatienten in Deutschland müssen ins Krankenhaus. Das Risiko für eine schwere Impfnebenwirkung liegt demgegenüber bei maximal 0,02 Prozent.
Ein weiteres Missverständnis lauert in der Annahme, dass die natürliche Infektion besser ist als die künstliche Impfung: Wie bei Corona wird das oft im Zusammenhang mit sogenannten Kinderkrankheiten behauptet.
Ein Blick auf die Fakten zeichnet aber ein anders Bild: Beispiel Masern, gegen die es kein Medikament gibt. Etwa eines von 1000 Kindern bekommt eine Entzündung des Gehirns, die in etwa jedem fünften Fall zu bleibenden Schäden führt oder sogar tödlich verläuft. Die Masern-Impfung dagegen verhindert zu etwa 99 Prozent, dass die Krankheit überhaupt ausbrechen kann.
Tatsächlich müssen zunehmend auch Geimpfte ins Krankenhaus, weil sie sich mit dem Coronavirus anstecken. Das Robert-Koch-Institut veröffentlicht die Zahlen regelmäßig, zuletzt etwa vor einer Woche. Und die sind auf den ersten Blick verwirrend.
Betrachtet man zum Beispiel die Über-60-Jährigen im Krankenhaus zeigt sich: 45 Prozent der Erkrankten waren geimpft, 55 Prozent waren nicht geimpft. Das klingt so, als mache die Impfung keinen wirklichen Unterschied. Das ist aber falsch, weil man das entscheidende Detail übersieht: In dieser Altersgruppe sind in Deutschland derzeit 87 Prozent vollständig geimpft. Es gibt also viel mehr Geimpfte als Ungeimpfte. Berücksichtigt man diesen entscheidenden Punkt, ergibt sich rechnerisch richtig folgendes Bild: Ungeimpfte haben das achtfache Risiko, ins Krankenhaus zu müssen.
Ein Zimmer auf der Intensivstation der Uniklinik Leipzig mit vier Coronaviruspatienten.
Ungeimpfte haben das achtfache Risiko, wegen Covid-19 ins Krankenhaus zu müssen.© picture alliance / dpa / Jan Woitas
Wem das zu viel Mathematik ist, kann sich vielleicht mit folgender Überlegung weiterhelfen: Angenommen, jeder Mensch wäre gegen Corona geimpft – dann wären auch 100 Prozent der Menschen im Krankenhaus geimpft. Das heißt aber eben nicht, dass die Impfung nichts bringt, sondern nur, dass sie nicht zu 100 Prozent funktioniert. Die absolute Zahl der Patientinnen und Patienten aber ist sehr viel kleiner, als sie ohne Impfung wäre.
Die steigende Impfquote ist übrigens auch der Grund, weshalb es immer mehr Menschen gibt, die sich trotz Impfung mit Corona infizieren: Da die Mehrheit der Bevölkerung geschützt ist, summieren sich selbst vergleichsweise seltene Impfdurchbrüche zu nennenswerten Zahlen auf.
Aber: Das ist ein rein mathematischer Effekt, der nichts über die Qualität der Impfstoffe aussagt.
Ganz sicher wollen die großen Pharma-Firmen mit ihren Impfstoffen Geld verdienen. Das unterscheidet sie zunächst von keinem anderen Wirtschaftsunternehmen. Das Gewinnstreben ist unterschiedlich: AstraZeneca hat laut Unternehmensangaben den Impfstoff bislang zum Selbstkostenpreis abgegeben und will erst im kommenden Jahr moderate Gewinne erzielen. Die Konkurrenten von Biontech/Pfizer, Moderna und Johnson&Johnson haben das nicht getan.
Im Fall der Corona-Impfungen hat der Staat Milliarden ausgegeben – für das Vakzin ebenso wie für die Logistik der Impfzentren und die Ärztinnen und Ärzte, die impfen. Das ist viel Geld, aber unter dem Strich billig: Das Münchner ifo Institut schätzt nämlich, dass zwei Monate Lockdown bis zu einer halben Billion* Euro kosten.
Eine Frau lässt sich in einer provisorischen Holzkabine auf den Coronavirus testen.
Tests können nur ein Baustein von vielen sein, um die Pandemie in Schach zu halten.© AFP / Christof Stache
Dass diese volkswirtschaftlichen Kosten allein durch konsequentes Testen vermeidbar wären, ist ebenfalls ein Missverständnis: Von Anfang an haben Forschende vor der Annahme gewarnt, dass sich die Pandemie wegtesten lasse. Tests sind immer nur eine Momentaufnahme: Wer am Morgen negativ getestet ist, kann womöglich schon am Abend infiziert sein.
Gerade Schnelltests können am Anfang der Infektion negativ sein, obwohl man bereits andere anstecken kann. Und die Qualität der verkauften Schnelltests ist sehr unterschiedlich. Testen – so stellte jüngst eine Gruppe von 21 Forschenden aus verschiedenen Disziplinen klar – könne deshalb nur ein Baustein von vielen sein, um die Pandemie in Schach zu halten.
* Wir haben an dieser Stelle eine falsche Zahl korrigiert. 
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