Literaturtipp:
Norbert Bolz: "Die Avantgarde der Angst", Matthes & Seitz Verlag, Berlin, 192 Seiten, 14 Euro.
„Auf Sicht fahren ist die einzige Möglichkeit“
29:56 Minuten
Ob Lockdown oder Lockerungen: Weder Virologen noch Politiker wissen wirklich, welches die richtige Strategie ist. Für den Medientheoretiker Norbert Bolz muss sich jeder einzelne Mensch dieser existentiellen Situation des Lebens im Ungewissen stellen.
"Ich bin enttäuscht von den Wissenschaftlern, die offenbar der Suggestion und der Verführungskraft erliegen, Medienstars zu werden", sagt Norbert Bolz. Doch weder Wissenschaftler noch Politiker können derzeit mit Sicherheit handeln. Wir leben nun einmal in einer Zeit prinzipieller Ungewissheit. Und weil es uns im Ausnahmezustand nicht gelungen ist, die Coronagefahr in ein kalkulierbares Risiko zu überführen, erleben viele Menschen den Alltag als Überforderung. Dass gleichzeitig mit den drastischen Bedrohungsszenarien einer dritten Welle der Pandemie der Wunsch nach Lockerungen und Normalität wächst, ist für Norbert Bolz wenig überraschend: "Das ist nicht Ungehorsam oder Uneinsichtigkeit, sondern das ist tatsächlich eine Ermüdung der Aufmerksamkeit und eine Ermüdung des Aufregungsbedarfs."
Das Gespräch im Wortlaut:
Deutschlandfunk Kultur: Was für eine komische Corona-Woche! Die Inzidenzzahlen steigen wieder. Die Kanzlerin warnt vor der dritten Coronawelle. Der Bundesgesundheitsminister verspricht massenhafte Schnelltests und lässt sich dann als "Bundesankündigungsminister" schelten, weil die doch nicht so schnell kommen werden. Derweil öffnen Schulen und Kitas und leibhaftige Ministerpräsidenten sprechen über die Öffnung von Baumärkten, weil die womöglich auf ihren Blumen sitzen bleiben könnten.
Norbert Bolz, in Ihrem jüngsten Buch "Avantgarde der Angst" attestieren Sie der deutschen Gesellschaft eine "gewisse Neigung zu Angst- und Katastrophenszenarien". Eine angstgetriebene Gesellschaft kann ich eben gerade nicht erkennen, sondern eher eine geradezu epidemisch um sich greifende Leichtsinnigkeit.
Bolz: Ja, Sie müssen auch ein bisschen im Auge behalten, dass wir diesen Ausnahmezustand nun schon seit fast einem Jahr haben. Jetzt gibt es natürlich Ermüdungserscheinungen. Ich denke, die Deutschen waren doch "brav" über die letzten Monate, fast bis vor wenigen Wochen und haben sich im Grunde doch alles zumuten lassen an Auflagen und Verboten. Dass jetzt bei den drei, vier schönen Tagen, die wir jedenfalls hier in Berlin hatten, die Leute endlich mal raus wollen und das endlich auch mal wieder genießen wollen, zu leben, überhaupt zu leben im eigentlichen Sinn, finde ich nicht so überraschend. Ich kann daraus keinen Leichtsinn ablesen.
Sie haben ja gesagt, es gibt die unterschiedlichsten Signale von der Politik. Das könnte natürlich auch gerade Wasser auf die Mühlen derjenigen sein, die sagen: "Niemand weiß doch Bescheid, was wirklich funktioniert und was wirklich richtig ist. Ich mache mir jetzt meinen eigenen Reim auf Corona." – Das ist eher mein Eindruck.
Corona als Ausnahmezustand
Deutschlandfunk Kultur: Was würde das denn bedeuten für die Gesellschaft? Sie haben selbst das Wort genannt, "Ausnahmezustand", eine Gesellschaft im Ausnahmezustand, ein Katastrophenszenario, in dem eigentlich die normalen Funktionsbedingungen von Gesellschaften ausgehebelt sind.
Bolz: Ja. Das ist richtig. Ausnahmezustand ist natürlich ein sehr harter Begriff. Mir ist nun gerade kein "zarterer" eingefallen. Aber das heißt ja im Wesentlichen, und darum geht es, dass Rechte außer Kraft gesetzt werden, nicht das ganze Rechtssystem, Gott sei Dank, wie in extremen Fällen eines Ausnahmezustands, aber doch wichtige Grundrechte. Das ist ja eine der großen Diskussionen gerade der letzten Wochen. Solange das der Fall ist, kann man auch tatsächlich von einem Ausnahmezustand reden.
Was aber eben auch bedeutet: Der dürfte nur überschaubare Zeit lang andauern. Einen Ausnahmezustand in Permanenz zu erklären, ja, das würde schon fast an die Nazi-Zeit erinnern oder an einige diktatorische Länder. Das wird bei uns sicher nicht möglich sein. Und es wird auch nicht ertragen werden von der Bevölkerung.
Aber, wie gesagt, ich möchte nochmal betonen, und das meinte ich eben auch mit dem Titel meines Buches: Die Deutschen sind viel duldsamer als viele andere Länder. Sie sind sehr viel mehr bereit, sich auch ein bisschen obrigkeitsstaatlichen Maßnahmen zu unterwerfen als viele unserer Nachbarländer. Insofern darf man über dieses Volk jetzt eigentlich nicht klagen, wenn es mal ein bisschen über die Stränge schlägt.
Deutschlandfunk Kultur: Das wollte ich auch nicht tun. Ich hatte nur den Eindruck, dass dieses Über-die-Stränge-Schlagen, ich meine das auch gar nicht so, dass man jetzt nicht – gerade bei dem schönen Wetter – mal rausgeht, in den Park geht und mit vielen anderen im Park sich unvernünftig verhält, sondern ich sehe halt auch, dass diese sogenannte "Pande-Müdigkeit" dazu führt, dass man sehr viel schneller sich als Elternteil sagt: "Ja, die Notbetreuung muss ich jetzt in Kauf nehmen. Ich schaffe es einfach nicht mehr zu Hause mit den Kindern." Das stimmt auch. Das erlebe ich an mir selber.
Aber dass natürlich auf der anderen Seite dann die Angst vor der eigenen Überlastung ähnlich irrationale Folgen nach sich ziehen kann, die sich dann wiederum in einem erhöhten Infektionsgeschehen ausdrücken.
Corona trifft jeden Menschen anders
Bolz: Ich glaube, es ist bei der Frage wirklich sinnvoll, so wie Sie das gerade getan haben, auch mal von den eigenen Erfahrungen auszugehen, um zu verstehen, was dann gesamtgesellschaftlich sich da ereignet. Zu meinen Erfahrungen gehört übrigens, dass ich keinen einzigen Menschen kenne, der an Corona erkrankt ist. Ich glaube, das geht sehr, sehr vielen Menschen so. Und auf die Dauer, über die Monate hinweg schleicht sich dann natürlich dieses Gefühl ein, das man nicht artikuliert, aber das einen doch immer mehr bedrängt: "So schlimm kann’s eigentlich gar nicht sein. Ist der Lebensverlust, den ich erleide unter diesen Zwangsmaßnahmen vielleicht größer als die Gefahr, der ich mich aussetze, wenn ich das Ganze ein bisschen lockerer und leichter nehme?"
Ich will das nicht rechtfertigen. Ich halte das weder für klug, noch für dumm. Aber ich glaube, es ist nachvollziehbar. Es ist verständlich. Es gibt so etwas, ich glaube, das haben Sie mit Pandemiemüdigkeit auch gemeint, wie ein ganz natürliches Erschlaffen der Aufmerksamkeit, wenn man ständig alarmiert wird.
Man kann die Daueraufregung, wenn Sie so wollen, eine Corona-Sendung nach der anderen im Fernsehen, man kann die Erregung nicht stabil halten, nicht aufrechterhalten. Man muss ab und zu mal durchatmen. Und man muss dann alles niedriger hängen, rein psychologisch betrachtet. Ich glaube, das ist das, was wir im Moment erleben. Das ist nicht Ungehorsam oder Uneinsichtigkeit, sondern das ist zum einen tatsächlich eine Ermüdung der Aufmerksamkeit und eine Ermüdung des Aufregungsbedarfs und auf der anderen Seite dann auch diese unbändige Lust, endlich mal wieder normal zu leben – und nach einem Jahr, finde ich, gut nachvollziehbar.
Die Irrationalität der Erschöpfung
Deutschlandfunk Kultur: Ja, das kann ich total gut nachvollziehen. Ich habe ja gesagt, ich erlebe es auch. Ich erlebe es sogar noch in einer anderen Hinsicht, weil ich jetzt mit ganz vielen Leuten auch spreche, die gesagt haben: "Mann, ich kann einfach nicht mehr! Also gar nicht dieses "Ich will jetzt unbedingt erleben, erleben, erleben", sondern "Ich bin einfach jetzt durch. Ich wäre bereit", und das finde ich auch einen sehr irrationalen Zug, aber einen sehr verständlichen Zug, "ich wäre bereit, mich dem Schicksal einer Erkrankung zu ergeben. Also, ich nehme es jetzt einfach so hin. Ich muss jetzt mal raus und die Kinder müssen jetzt mal Kontakt haben. Wir lassen das Risiko bewusst steigen." – Ob das jetzt Schicksalsergebenheit ist oder zu sagen, "wir spielen ein bisschen mit dem Risiko", sei mal dahingestellt.
Bolz: Das sehe ich genauso wie Sie. Ich würde es auch genauso beschreiben. Wenn Sie den Begriff "irrational" gebracht haben, finde ich, genau an der richtigen Stelle. Nur man muss eben bedenken: Wir sind das vielfach, nicht nur in dieser Frage. Ich denke, das menschliche Verhalten ist insgesamt viel irrationaler als unser Selbstbild als rational aufgeklärter Mensch uns das immer wieder vorspiegelt. Und wenn dann eben noch dieses Zweite hinzukommt, dass man die Zumutungen, die psychologische Belastung einfach nicht mehr erträgt, dann ist ja die irrationale Reaktion eigentlich sehr, sehr naheliegend.
Im Übrigen haben Sie auch erwähnt, und ich glaube, das ist enorm wichtig, dass nicht alle gleichermaßen belastet sind von dieser Entwicklung. Ich habe es relativ einfach. Ich bin pensioniert. Ich habe meine Bücher zu Hause. Wir haben sogar einen kleinen Garten. Ich kann fast ein normales Leben leben – ganz anders meine vier Kinder.
Um die tut es mir leid. Das ist zu schwach ausgedrückt. Ich halte es für eine Katastrophe für junge Leute. Ob sie jetzt drei, vier, fünf oder vierzehn, fünfzehn, sechszehn sind, es muss eine Katastrophe sein für die, ein Jahr lang ja fast unter Gefängnisbedingungen zu leben, überall mit Masken zu sein, in der Schule mit Masken. Ich stelle mir das grauenhaft vor. Ja, dass die dann, wenn mal ein bisschen Schnee fällt, ihren Schlitten rausholen und rodeln, bis sie von der Polizei abgeholt werden, das kann ich natürlich weiß Gott auch sehr gut verstehen. Da wird’s dann auch schwierig.
Corona in der Risikogesellschaft
Auch um Ihr drittes Stichwort aufzugreifen, Risiko: Da wird es dann schwierig zu fragen: Was ist denn eigentlich vernünftig? Ist es wirklich vernünftig, jede Lebenslust und jede Lebensfreude zu opfern auf dem Altar des gesellschaftlich allgemein vielleicht Guten? Oder habe ich auch mein persönliches Recht auf ein bisschen Lebensfreude?
Ja, Risikobereitschaft gehört mit da rein. Wenn ich von den Deutschen als "Avantgarde Angst" gesprochen habe in meinem Buch, dann auch immer im Blick darauf, dass die Deutschen sehr, sehr viel weniger risikobereit sind als viele andere Länder. Das ist manchmal gut. Das erzeugt ein hohes Maß an Sicherheit und Ordnung. Aber es bringt auch Schwierigkeiten in die Entwicklungsfähigkeit einer Gesellschaft. Und ich glaube, in der Not der Coronakrise spüren manche Leute, dass sie tatsächlich riskant leben, ob sie ein Risiko eingehen oder nicht. Denn man lebt auch riskant, wenn man alle Risiken vermeidet. Man verpasst dann nämlich Chancen, Lebenschancen.
Das Risiko, das Leben zu verpassen
Ich glaube, das kommt den meisten jetzt nicht theoretisch zu Bewusstsein, aber sie spüren das, worum es hier geht, vor allen Dingen, wenn die Aussicht derart ist, dass man noch nicht mal weiß, ob es im Sommer oder im Herbst wesentlich anders sein wird, also, dass niemand einem halbwegs verbindlich sagen kann: "Ja, reiß dich zusammen. Halte noch ein halbes Jahr durch. Dann ist die Welt wieder in Ordnung." – Das wagt niemand, zu Recht, denke ich. Aber das bedeutet eben für die meisten oder für viele: "Jetzt nehme ich die Sache selbst in die Hand. Ich entscheide selbst, was riskant oder zu gefährlich ist."
Deutschlandfunk Kultur: Wenn wir jetzt mal den Blick von den Beteiligten, also von den Betroffenen, von uns selber hin auf eine Beschreibung dieses von Ihnen so genannten Ausnahmezustands lenken oder die Katastrophe, dann ist das ja eine von einer merkwürdigen Art: Der Gegner ist nicht so klar konturiert. Der Ausnahmezustand, dass uns Rechte entzogen sind, ja, das ist so, aber es ist doch eine sehr komfortable Art des Rechteentzugs. Also dass wir jetzt nicht täglich auf Demonstrationen gehen können und wenn, dann nur mit Abstandsregeln, ist jetzt kein – sagen wir – elementarer Rechteentzug. Es ist ganz, ganz schwierig, die ökonomische Situation zum Beispiel von Solo-Selbständigen aufrechtzuerhalten und zu ertragen oder Kurzarbeit. Aber letztendlich zu Hause festgekettet zu sein, ist eher eine Situation oft der Langeweile oder der Überlastung mit Familie oder so was. Aber das ist eine ganz merkwürdige Art von katastrophischem Selbstverständnis. Es ist keine Kriegssituation oder Nachkriegssituation, wo man wirklich Hunger leiden musste und viele andere Entbehrungen hatte.
Also, diese besondere Art der Entbehrung, was heißt das eigentlich im Blick auf diesen sogenannten Ausnahmezustand oder die Katastrophe?
Der unsichtbare Feind
Bolz: Wenn Sie das nicht falsch verstehen, sage ich zum Stichwort Krieg: Das ist gerade das entscheidende Kriterium der Differenz zu unserer gegenwärtigen Situation. Wären wir im Krieg – Gott möge es verhüten! –, würde fast jeder sofort erkennen, worum es geht, welche Einschränkungen notwendig und gerechtfertigt sind. Man würde sich nicht mit der Situation abfinden oder sie womöglich gar gut finden, aber man würde verstehen, was vorgeschrieben wird, was nicht mehr geht.
Wir haben es aber in gewisser Weise mit einer viel komplizierteren Situation zu tun, als etwa mit einer Kriegslage. Wir haben es mit einem unsichtbaren Feind zu tun.
Buchstäblich ist Corona nicht zu sehen. Es ist nicht zu erkennen. Man kann nicht sehen, wer infiziert ist. Es ist fast wie in gewissen Science-Fiction-Filmen und so, dass man das Gefühl hat, jeder könnte ein potenzieller Träger sein, von jedem ginge vielleicht eine Bedrohung aus – vor allen Dingen unter dieser wirklich wahnsinnigen Situation, dass es eine Menge Leute gibt, die infiziert sind, ohne Krankheitssymptome zu haben, also übertragen können, ohne selber irgendwie affiziert zu werden. Das gibt ein so hohes Maß an Unsicherheit und Ungewissheit in der Einschätzung dessen, womit habe ich es eigentlich zu tun, dass im Grunde beide Extremreaktionen nachvollziehbar sind. Also die Extremreaktion, wenn Sie so wollen, die "Lauterbach-Reaktion": riesige Katastrophe, wir müssen im Grunde alles verbieten, totaler Lockdown. Die letzte Patrone müssen wir jetzt noch haben - und die wird jetzt bald verschossen.
Und auf der anderen Seite die Extremreaktion: "Das ist alles übertrieben! Das ist nur eine Grippe. Mit ähnlichen Dingen haben wir schon tausendmal zu tun gehabt, ohne uns aufzuregen."
Das hängt damit zusammen, dass niemand das Risiko wirklich einschätzen kann. Das ist ja auch das Faszinierende, mit Anführungszeichen "faszinierend" gesagt, dass natürlich nicht die Politiker, das sind ja keine Fachleute, aber auch die Virologen, auch die sogenannten Experten und im Grunde keine beruhigende oder klare Auskunft geben können. Es gibt die unterschiedlichsten Meinungen, Gutachten und Gegengutachten. Es gibt im Grunde nur Diversität, was Meinungsbildung betrifft. – Da zieht natürlich jeder seine eigenen Konsequenzen und sagt: "Okay, wenn selbst die Experten nicht wissen, worum es geht und was da auf uns zugekommen ist, wie ernst die Sache ist, dann mache ich mir meinen eigenen Reim draus."
Das ist eigentlich gar nicht irrational, sondern es ist im Grunde auch eine Art Notwehr, dass ganz normale Menschen angesichts einer Situation, wo weder die Wissenschaft, noch die Politik eine echte Handreichung geben können.
Unsicherheit in der riskanten Moderne
Deutschlandfunk Kultur: Sie haben es eben angesprochen: dieser Zustand der latenten Ungewissheit, also, man würde sagen, die Erfahrung der Kontingenz, das ist eine Bedingung der Neuzeit, der Moderne, mit der wir eigentlich sonst auch umgehen können. – Was macht diese Situation als Kontingenzerfahrung jetzt noch so besonders, dass wir vom Katastrophenfall sprechen?
Bolz: Das Besondere ist, denke ich, tatsächlich der Kampf gegen den unsichtbaren Feind, die Unmöglichkeit, die Gefährdung realistisch einzuschätzen und natürlich auch die Kakophonie der Stimmen zu diesem Thema. Wir haben ja nicht nur seit einem Jahr das Problem selbst, sondern wir haben auch seit einem Jahr im Grunde eine Dauersendung über Corona. In allen Kanälen, nicht nur in allen Talkshows, in allen Nachrichtensendungen gab es neben Corona – sehen wir mal von Trump ab, aber das wäre jetzt auch das große Superthema – so gut wie kein anderes Thema, das wirklich durchgeschlagen hat.
Deutschlandfunk Kultur: Da machen wir doch gerade mit.
Bolz: Sie haben vollkommen Recht. Ich habe auch schon einige Sendungen zu diesem Thema gemacht. Sie haben vollkommen Recht. Aber es wäre ja auch nun wirklich zynisch zu sagen: "Leute, legt euch mal zurück. Hört mal Beethoven oder lest Goethe oder irgendetwas und ignoriert mal das Problem, denn wir kommen da keinen Schritt weiter."
Ich weiß auch keinen Ausweg. Es ist nur so, dass vielleicht die Möglichkeit des Nachdenkens, die Sie ja angestoßen haben mit Ihrem Begriff Kontingenz-Bewusstsein, dass man die vielleicht tatsächlich nutzen könnte oder nutzen müsste, nämlich sich klarzumachen, dass Riskanz offenbar die Normalausstattung eines modernen Lebens ist.
Das hängt im Wesentlichen damit zusammen, dass es uns gelungen ist, und das ist das Großartige unserer Welt, jedenfalls der technisch-wissenschaftlichen Welt, in der wir leben, dass wir eine Fülle von Gefahren, unter denen frühere Menschen gelitten haben, in Risiken transformieren konnten. Also man kann in vielen Dingen sich versichern oder sich fast gegen jede Unbill des Schicksals versichern. Man kann fast alles, was früher gefährlich war, in Risiko, das man übernimmt oder nicht übernimmt, nach freier Entscheidung verwandeln.
Aber bei Corona haben wir das eben noch nicht geschafft. Wir wissen nicht, wie wir die reale Gefahr Corona als Risiko wirklich einschätzen können, damit wir es kalkulieren können und damit wir entscheiden können, ob wir es eingehen wollen oder nicht. Das bleibt im Grunde jedem einzelnen Menschen heute überlassen. Dadurch werden wir überfordert. Ich fühle mich dadurch auch überfordert und habe mich deshalb immer geweigert, auf die Frage, "wie ernst ist es denn nun mit Corona, wird es übertrieben oder nicht", eine Antwort zu geben, weil ich es nicht weiß.
Das Einzige, was einigermaßen beruhigend ist für einen Wissenschaftler wie mich, ist, dass ich niemanden kenne, der es weiß.
Politik im Ungewissen
Deutschlandfunk Kultur: Selbst die Virologen nicht, die zwar Einschätzungen geben können, aber das auch immer revidieren, und wir als Öffentlichkeit einem Prozess beiwohnen des tatsächlich wissenschaftlichen Nachdenkens mit Fehlern und Irrtümern und neuen Erkenntnissen. – Lassen Sie uns dabei mal einen Blick auf den anderen Agenten, den Staat, werfen.
Wie agiert denn der Staat in dieser Richtung? Ich merke immer, dass in der Öffentlichkeit gesagt wird: "Mensch, wir brauchen doch jetzt mal eine Strategie, die nicht nur kurzfristig reagiert und einen Lockdown in Scheiben macht, sondern eine Gesamtöffnungs-, Lockerungs- oder Sonst-was-Strategie entfaltet, eine Impfstrategie und so weiter. Das heißt, das strategische Handeln ist eines, das im Normalzustand normalerweise entworfen wird.
Jetzt sind wir aber in einer anderen Situation. Sie haben es "Ausnahmezustand" genannt. – Heißt das, dass der Staat eigentlich völlig zu Recht so reagiert, wie er reagiert, nämlich quasi von Woche zu Woche, und dass wir uns nur bewusst werden müssen, dass das vielleicht für diese Situation eine ganz angemessene Haltung ist?
Bolz: Kurz gesagt: Ich sehe es genauso. Aber man muss dabei eines im Auge behalten. Der Staat oder, sagen wir mal, die Regierung genauer gesagt, überhaupt führende Politiker können eines nicht, was eigentlich Aufgabe auch der Wissenschaftler wäre, nämlich die eigene Ungewissheit zuzugeben. Es kann sich kein Politiker hinstellen und sagen: "Ich weiß es nicht." – Egal, um welche Frage es geht. Niemand kann erfolgreich an der Regierung bleiben oder zur Macht kommen, der sagt: "Das ist ungewiss. Das ist eine Möglichkeit." – Frau Merkel hat das, glaube ich, mal mit der Metapher des "Tag für Tag Vorantastens" irgendwann mal versucht. Aber das ist nicht sehr gut angekommen.
Wir sind auch als Bürger eigentlich nicht bereit, Politiker zu akzeptieren, die diese Ungewissheit ausstrahlen, sondern wir wollen, dass sie Projekte, Programme haben, dass sie Lösungen für Probleme anzubieten haben, auch wenn das noch so unrealistisch ist. Also im Grunde ist dieses "Auf Sicht Fahren" die einzige Möglichkeit. Darüber hinaus müsste man zugeben, dass man nicht weiß, wie es weitergeht, und dass man nicht weiß, höchstwahrscheinlich nicht weiß, wie lange dieses Problem noch andauern wird.
Aber das sind Botschaften, die man – glaube ich – den meisten Bürgern nicht so ohne Weiteres von Regierungsseite zumuten kann. Jedenfalls riskiert das, denke ich, kein führender und regierender Politiker, so dass wir diese unbefriedigende Mischung haben von Ankündigungen, dann Zurücknehmen von Ankündigungen, Verheißungen, dass es dann und dann vielleicht wieder ganz normal läuft, dass man den Leuten, die verzweifelt sind über ihre wirtschaftliche Existenz, zunächst mal Geld-Versprechen macht. Die muss man dann auch wieder relativieren.
Dieses Hin und Her, diese Unklarheit, das, was die Leute heute – glaube ich – an der Politik am meisten ärgert, ist im Grunde ein Strukturproblem und eben das Strukturproblem, dass man als Politiker nicht wie ein Wissenschaftler mit Hypothesen arbeiten kann. Also, man darf nicht sagen, "ich vermute, ich denke, es könnte so sein", sondern man muss immer auftreten, als hätte man die Lösung und als hätte man den Durchblick.
In solchen Situationen, wie wir es jetzt haben, ist eben alles völlig unklar. Und weil wir alle persönlich betroffen sind von dieser Drohung Corona, sind wir auch nicht so leicht bereit zu vergessen, was Politiker gesagt haben. Bei allen anderen großen Themen, denken Sie etwa an Eurobonds oder so irgendetwas, Wirtschaftsthemen, andere politische Themen, da können Politiker was sagen und ein halbes Jahr später das Gegenteil sagen. Und wir haben es schon wieder vergessen oder nehmen das einfach hin.
Hier bei Corona, weil wir existenziell betroffen sind, sind wir nicht bereit zu vergessen. Und die regierenden Politiker müssen geradestehen für das, was sie versprochen oder angekündigt haben. Ich glaube, das beobachten wir gerade. Ein besonders trauriges Bild gibt da ja Herr Spahn ab. Ich glaube, ohne dass er selber schuld daran wäre. Aber bei dem ist es eben so. Er wollte mal was zusagen. Er wollte mal ein Datum nennen, konnte es wiederholt nicht halten. Das macht für einen Politiker einen denkbar schlechten Eindruck. Aber das ist, wie gesagt, ein Strukturproblem von populistischer Politik.
Und es gibt keine andere als populistische Politik. Man muss sich ans Volk wenden. Man muss sich an Leute wenden, die nicht wissenschaftliches Bewusstsein haben bei ihren eigenen Lebensfragen und Lebensproblemen.
Die Versuchungen der Wissenschaft
Aber, wenn ich das noch sagen darf: Das macht mich so traurig in dieser Situation, dass auf der anderen Seite die Wissenschaftler nicht da korrigierend eingreifen und sagen: "Wir können nur Szenarien entwickeln. Alles, was wir sagen, ist mit höchster Unsicherheit behaftet. Das sind Hochrechnungen. Statistiken kann man so und so interpretieren." – Gerade die Wissenschaftler sind verführt durch die Suggestion der Massenmedien nämlich zu Medienstars zu werden, die den großen Durchblick haben und uns sagen, wie die Zukunft aussehen wird. Ob die apokalyptisch ausgemalt wird oder als baldige wieder Sonnenseite des Lebens auf Mallorca, das ist dann Geschmackssache.
Aber das ist das, was mich an der ganzen Sache am meisten enttäuscht. – Nicht die Journalisten, nicht die Politiker, die tun, was die Logik ihres Geschäfts ihnen aufträgt. Aber ich bin enttäuscht von den Wissenschaftlern, die offenbar der Suggestion und der Verführungskraft erliegen, Medienstars zu werden.
Deutschlandfunk Kultur: Funktionieren da Apokalypse, Horrorszenarien natürlich besser als – sagen wir – "in acht Wochen ist alles okay"?
Lust an der Apokalypse?
Bolz: Wenn jemand sagen würde als Wissenschaftler oder Politiker, "in acht Wochen ist alles okay", käme er auch in die Schlagzeilen, weil das so sensationell wäre im Moment, dass man sich das gerne einmal anhören würde. Aber Sie haben natürlich vollkommen recht. Apokalyptische Visionen funktionieren immer besser. Das hängt ganz einfach daran, und jetzt müsste ich etwas in aller Kürze sagen, was natürlich sehr missverständlich klingen könnte, dass es bei vielen Menschen auch so etwa wie eine "Angst-Lust" gibt. Also gerade, wenn man sich langweilt, gerade, wenn man in einem außerordentlich tristen Alltagsleben gefangen ist, dann gibt es im Grunde nur zwei Dinge, die einen exaltieren könnten. Das eine wäre ein großes Heilsversprechen, so wie das früher die Religion und beispielsweise auch Säkular-Religionen, Marxismus und Ähnliches mal hatten, zu sagen: "Hier, das Reich der Freiheit kommt. Das Reich Gottes kommt." – Das funktioniert heute eben nicht mehr.
Aber das Umgekehrte funktioniert hervorragend, nämlich dass man das Unheil ankündigt, um dann natürlich in einem Nebensatz zu sagen: "Es ist zwar fünf vor Zwölf oder, ich glaube, die Weltuntergangsuhr steht mittlerweile auf zehn Sekunden vor Zwölf, aber ihr könnt noch etwas tun. Ihr könnt noch eingreifen. Du als Bürger kannst konkret etwas tun, um die Katastrophe noch zu vermeiden und zu verhindern." Und das hat eine große Suggestionskraft. Das merkt man nicht nur beim Thema Corona. Das gilt auch für die Klimakrise und ähnliche Krisen. Überall wird der Teufel an die Wand gemalt. Die Katastrophe wird an die Wand gemalt, aber immer mit dem Nebensatz: "Es ist noch alles zu retten, wenn du nur vernünftig bist in dem Sinne, wie wir das uns vorstellen."
Deutschlandfunk Kultur: Ja. Auf der anderen Seite würde das Vernünftige aber auch die Grundbedingung wiederum der Moderne ansprechen, indem man sagt: "Ja, es bringt jetzt nichts, dass ich Plastiktüten sammle, das bringt auch was, also, einen FCKW-freien Kühlschrank gegen den Klimawandel kaufe, sondern wir brauchen da Hochtechnologie", genauso wie wir jetzt Gentechnik - ganz schlimmes Feld! -, aber natürlich haben wir Gentechnik gebraucht, um schnell einen Impfstoff zu entwickeln. Das ist Hochtechnologie und das ist ja sozusagen die Rationalität der Moderne, auf die wir setzen müssen."
Sind wir da oft zu – sagen wir – "wissenschafts- und technikfern" vor allem als deutsche Gesellschaft?
Naturanbetung und Technikfeindschaft
Bolz: Vor allen Dingen als deutsche Gesellschaft! Das gehört auch zu den Hauptthesen meines Buchs, dass die Risiko-Aversion noch begleitet wird von einer Technik-Aversion. Das hat eine lange Tradition. Jeder kann sich natürlich an Schulzeiten und die Lektion über die Romantik erinnern. Also die Naturidolatrie, die Anbetung der Natur geht immer Hand in Hand mit Technikfeindschaft oder Technikangst. Und das Kuriose ist ja, dass gerade das die Domäne der deutschen Ingenieure war und ist. Wir sind ja bis zum heutigen Tag immer noch – ja vielleicht nicht die Weltmeister, aber mit führend in Technologieentwicklung und technischen Innovationen, Maschinenbau und ähnlichem mehr. Wir sind immer noch hervorragend in vielen dieser berühmten MINT-Fächer. Aber das spielt im öffentlichen Diskurs überhaupt keine Rolle.
Ich sage immer: Der deutsche Ingenieur arbeitet, und zwar hervorragend, und schweigt. Öffentlichkeit gestiftet wird nur von Leuten, die von Technik entweder keine Ahnung haben oder sie verabscheuen. Und das ist wirklich ein Riesenproblem. Das führt ja auch dazu, dass die Universitäten immer wieder melden, dass die Zahlen schrumpfen derjenigen, die sich in solche Fächer einschreiben. Und die Zahl derer wächst, die sich in Orchideen-Fächer einschreiben. Das ist wirklich eine gefährliche Entwicklung.
Ich sehe es hundertprozentig wie Sie, dass bei allen großen Themen unserer Zeit, die vielleicht auch durch Technik, wenn Sie so wollen, verursacht sind, im Grunde immer nur technische Lösungen möglich sind und nicht etwa Askese, Verzicht, Zurückhaltung und Ähnliches mehr. Das kann man einer modernen Gesellschaft auch gar nicht mehr zumuten. Es ist auch, Gott sei Dank, nicht nötig.
Wir bräuchten im Grunde wirklich so eine Art Initiative, zurück zu diesem technischen Stolz, der uns mal geprägt hat im 19. Jahrhundert, und anknüpfen jedenfalls in Deutschland an diese fantastische Tradition, statt genau das Gegenteil zu machen und in der Technik immer nur Bedrohungen der Natur und der menschlichen Integrität zu sehen. Das ist eins der für mich zentralen Probleme unserer Zeit.
Deutschlandfunk Kultur: Das klingt aber so, als wollten Sie so schlicht eine Forschungsbegeisterung gegen den – sagen wir – ethisch reflektierten Zugang zu Technikthemen setzen. Natürlich, Umweltzerstörung ist auch technisch induziert und ist moralisch durchaus fragwürdig und auch wahrscheinlich technisch in den Blick zu nehmen. – Aber hat sozusagen in unseren Diskursen die Moralität eine zu starke Dimension eingenommen Ihrer Meinung nach?
Die Dominanz des Moralismus
Bolz: Auf jeden Fall. Ich halte den politischen Moralismus für eine unserer größten Blockaden. Also die Blockade eines Diskurses, wie es doch immer so schön heißt, oder einer Debatte, die wir doch führen sollten als aufgeklärte Gesellschaft, weil es ständig diese Intervention des politischen Moralismus gibt. Denken Sie nur, um es mal technisch handfest zu machen, an dieses berühmt-berüchtigte precautionary principle. Das heißt: ein Vorsichtsprinzip, das von vielen internationalen Organisationen mehr oder minder durchgedrückt worden ist und das besagt: "Wenn du heute eine technische Erfindung, eine technische Innovation auf den Markt bringen willst, musst du erst zeigen, dass diese Innovation, diese Erfindung keine gefährlichen Risiken birgt und keine gefährlichen Nebenwirkungen hat."
Würde man das wirklich ernst nehmen, dieses precautionary principle, gäbe es überhaupt keine Erfindungen mehr. Und wir sind, Gott sei Dank, noch nicht so weit, aber der Geist, der dahintersteckt, also, diese Vorstellung, Technik ist so gefährlich, stellt so sehr unsere Existenz infrage, dass wir eher darauf verzichten sollten, als in ihr die Chance zu sehen, große Probleme der Welt zu lösen. Das ist wirklich eine, wie ich finde, sehr bedenkliche Entwicklung.
Nehmen Sie etwa ein handfestes Beispiel wie Welternährung, also die Ernährung der immer mehr wachsenden Weltbevölkerung. Jeder, der sich mit diesem Thema mal ein bisschen beschäftigt hat, weiß, dass es ohne Gentechnologie überhaupt nicht möglich sein wird, diese immer mehr wachsende Weltbevölkerung zu ernähren. Gerade Menschen, die Mitleid haben mit Lebensbedingungen in der Dritten Welt, gerade die müssten eigentlich erkennen bei einigem Nachdenken, dass deren Probleme nicht durch Askese in Deutschland, sondern nur durch technische Innovationen, biochemische Innovationen zu lösen sind.
Das Gleiche gilt für jede Menge anderer großer Weltprobleme. Gott sei Dank ist es so, dass diese Technikangst und Technikaversion, wie wir sie in Deutschland haben, in anderen Weltteilen wirklich nicht so verbreitet ist. Aber das bedeutet eben auch, dass wir befürchten müssen, dass wir allmählich abgehängt werden von dieser ja intellektuell-technischen Entwicklung.