Nils Markwardt ist leitender Redakteur des Philosophie Magazins. Als Autor schrieb er unter anderen für Zeit Online, FAZ und das Schweizer Online-Magazin Republik.
Freiheitsrufe der Rücksichtslosen
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Zehntausende protestieren gegen die Anti-Corona-Maßnahmen und berufen sich dabei auf unzulässige Einschränkungen unserer Selbstbestimmung. Diese Rufe missachten die Grundlagen unserer Freiheit, meint Nils Markwardt.
Keine Frage: Freunde nicht umarmen zu können oder mit beschlagener Brille durch den Supermarkt zu navigieren, das mag nerven. Dennoch wird im pandemischen Alltag im Grunde nur deutlich, was auch sonst gilt: Freiheit beruht immer auch auf Selbstbeschränkung, ja auf Selbstdisziplinierung.
So wie das kollektive Einhalten der Hygieneregeln vor einem neuerlichen Shutdown schützt, so fußt ein gedeihliches Zusammenleben auch ganz grundsätzlich darauf, dass man die eigene Freiheit freiwillig mit den Ansprüchen der anderen abstimmt, man Menschen also beispielsweise nicht ungefragt zu nahe kommt, auf diskriminierende Sprache verzichtet oder beim ökologischen Fußabdruck auch an kommende Generationen denkt. Und zwar gerade deshalb, damit es so wenig Verbote wie möglich gibt.
Rücksichtnahme ermöglicht Freiheit
Für eine solche Ethik der Selbstbeschränkung braucht man sich indes nicht einmal auf Hegel zu berufen, der Freiheit als die "Einsicht in die Notwendigkeit" fasste, sondern findet sie selbst im utilitaristischen Ur-Liberalismus eines John Stuart Mill. Erklärt man wie dieser das "größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl" zum philosophischen Leitprinzip, setzt das voraus, dass Freiheit immer auch die Freiheit der anderen meint. Allen voran die Freiheit, gesund zu bleiben.
Doch nicht nur benötigt Freiheit Selbstbeschränkung, sondern andersherum kann man bisweilen auch gerade bei jenen, die ihre eigene Freiheitlichkeit besonders ausstellen, einen starken Hang zum Autoritären erkennen. Das sieht man nicht nur daran, dass gerade rechtspopulistische Parteien oft die Freiheit im Namen tragen, etwa die "Freiheitliche Partei Österreichs" oder Geert Wilders' "Partei für die Freiheit" in den Niederlanden. Sondern man kann es auch bei jenen Leuten beobachten, die nun bundesweit auf Anti-Infektionsschutz-Demos gegen jedwede Kontaktbeschränkungen mobil machen und die Gefahren von Covid-19 verharmlosen.
Missverstandene Freiheit: Recht des Stärkeren
Hier offenbart sich ein Persönlichkeitstypus, den Theodor W. Adorno bereits 1950 in seinen "Studien zum autoritären Charakter" beschrieb. Ein vermeintlicher "Rebell", der im Kostüm der Freiheit seinen despotischen Sehnsüchten nachgeht, weil er, so Adorno, den Drang verspürt, "pseudorevolutionär gegen jene vorzugehen, die in seinen Augen schwach sind".
Freiheit meint hier dann also lediglich die asoziale Freiheit des Stärkeren, der sich vor einer tödlichen Lungenentzündung vermeintlich nicht zu fürchten braucht. Oder, wie Adorno ein Jahr später in seiner "Minima Moralia" schrieb: "Für jene, die die Freiheit als Privileg von der Unfreiheit beziehen, hat die Sprache einen guten Namen bereit: den des Unverschämten."
Rücksichtslosigkeit erzwingt Verbote
Beruht eine buchstäblich vernünftige Freiheit also immer auch auf Selbstbeschränkung, bedeutet das im Umkehrschluss: Wo die unverschämte Freiheit des Stärkeren die Oberhand gewinnt, kann das gedeihliche Zusammenleben bisweilen nur durch Verbote ermöglicht werden. Oder auf unseren pandemischen Alltag bezogen: Falls ein zweiter Shutdown aufgrund steigender Infektionszahlen nötig werden sollte, wird man sich dafür auch bei jenen bedanken können, die simple Hygieneregeln als unzumutbaren Freiheitsverlust verbuchten.