Corona-Tote
Die Trauer bleibt, weil sich ein Abschied nicht nachholen lässt, sagt Bernhard Pörksen. © AFP / Patricia de Melo Moreira
Die vergessene Trauer
Während der Pandemie hat man sich von sterbenden Angehörigen oft nur am Bildschirm verabschieden können. Für Betroffene sei das schwer fassbar gewesen, sagt der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen. Wie soll die Gesellschaft damit umgehen?
Kürzlich fand sich im Lokalblättchen einer kleinen Gemeinde im Schwäbischen eine Todesanzeige eigener Art, berührend und verstörend zugleich. Man trauere um den Verstorbenen, so hieß es. Und wolle sich nun gemeinsam seiner erinnern.
Alle seien herzlich zur Abschiedsfeier eingeladen. Allerdings gab es keinen Hinweis auf einen konkreten Ort oder ein Begräbnis, keine Adresse eines Friedhofs, absolut nichts. Nur eine Zoom-Meeting-ID und einen Kenncode für die virtuelle Begegnung an einem Samstagnachmittag im September.
Der Bildschirm, das iPad, der eigene Rechner – all das verwandelt sich hier in etwas, was die Internetsoziologin Sherry Turkle ein evokatives Objekt nennt. Sie meint mit diesem Ausdruck Objekte, die große, schwere Fragen hervorbringen, Fragen, die von der Realität des Virtuellen und der Natur der Intimität handeln. Zum Beispiel: Was fehlt, wenn Beerdigungen gestreamt werden, man sich nur am Bildschirm sieht? Und man letzte Worte und Wünsche nur über Facetime austauscht?
Vor einiger Zeit erzählte mir einer der Begründer der amerikanischen Hospizbewegung, Frank Ostaseski, eine Geschichte. Ostaseski hatte in San Francisco mehrere Tausend Menschen bis zum Ende begleitet. Und er hatte die Corona-Pandemie, inzwischen selbst ein alter Mann, halb blind und gebeutelt von mehreren Schlaganfällen, wesentlich vor dem Bildschirm sitzend erlebt, Vorträge gehalten und versucht, Menschen durch seine Erfahrung zu unterstützen.
Abschied nehmen am iPad
Eines Tages, so berichtete er, habe eine Frau seinen Rat gesucht, die die letzten Atemzüge ihres Vaters auf dem iPad erlebt hatte, getrieben von dem verzweifelten Versuch, ihm, der in einem anderen Land und halb bewusstlos im Krankenhaus lag, noch einen Kuss zu geben, ihm also, die Lippen auf den Bildschirm gepresst, noch irgendwie nahe zu sein. In diesem Moment sei der Vater dann gestorben. Die Folge: ein diffuser, seltsam uneindeutiger Schmerz, auch ausgelöst durch eine virtuell nicht vollständig einlösbare Erfahrung und den eben nicht wirklich geglückten Abschied.
An diesem Beispiel wird zum einen das Doppelgesicht digitaler Medien offenbar, ihre Zwitternatur. Sie bieten einerseits wunderbare Möglichkeiten, über Zeit- und Raumgrenzen hinweg Kontakte zu pflegen und sich auszutauschen. Sie engen jedoch andererseits das Spektrum der menschlichen Erfahrungen unvermeidlich ein. Und erzeugen eine seltsam paradoxe Fern-Nähe – ohne körperliche Berührung und eben auch ohne die plötzliche, überraschende Tiefe, die vielleicht nur face to face möglich ist und die ein Abschied eigentlich braucht.
Über Verluste zu sprechen, ist nicht leicht
Zum anderen wird klar, dass ganze Gesellschaften, wie die Psychologin Pauline Boss in ihrem aktuellen Buch “The Myth of Closure“ (2022) diagnostiziert, mit einer Fülle uneindeutiger, schwer quantifizierbarer Verluste konfrontiert sind, die diese Pandemie im Verbund mit den unbedingt notwendigen Schutzmaßnahmen verursacht hat. Über diese Verluste zu sprechen, ist nicht leicht. Sie haben keinen Namen. Sie tauchen in den offiziellen Schadensbilanzen nicht auf.
Und es fehlt, zumal im öffentlichen Raum, eine Sprache, die sie jenseits von Gefühlskitsch und Sonntagspredigt überhaupt entzifferbar und besprechbar machen könnte. Aber diese Verluste sind doch da. Und sie münden, eben aufgrund ihres schwerfasslichen, diffusen Charakters, in eine zweite, eine vergessene Trauer, die bleibt, weil sich ein Abschied nicht nachholen lässt.
Soll man kollektive Rituale des Erinnerns fordern?
Es wäre jetzt im Duktus dieses kleinen Essays ganz leicht, mit ein paar Forderungen zu schließen, die vermeintlich sofortige Besserung verheißen. Man könnte beispielsweise kollektive Rituale des Erinnerns fordern, eine öffentliche Debatte verlangen, vielleicht gar eine Rede des Bundespräsidenten anmahnen, die für die Sichtbarmachung diffuser Schmerzerfahrungen plädiert.
Aber dies wäre zu einfach, zu schnell. Vielleicht besteht der entscheidende Schritt schlicht darin, anzuerkennen, dass es die uneindeutigen Verluste und die vergessene Trauer überhaupt gibt.