Corona und die Nachrichten

Vom Leben mit der Infodemie

04:39 Minuten
Eine digitale Karte zeigt Zahlen und Ausmaß der Corona-Epidemie.
Virus-Infektionen - oder doch das virale Aufkommen von Corona-Nachrichten? Die Karte zur Corona-Epidemie der Johns-Hopkins-Universität in den USA. © imago/xim.gs
Leitfragen von Bernhard Pörksen |
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Noch nie in der Mediengeschichte hat sich ein globales Publikum so konzentriert um ein Thema herum gebildet wie momentan in der Coronakrise. Souveräne Mediennutzung wird da zur Bürgerpflicht. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen gibt Tipps.
Am 3. Januar 1919 bekam man in den Münchner Neuesten Nachrichten zu lesen: "Es ist seltsam, wie gelassen die Welt die furchtbare Influenza-Epidemie, die sie während der letzten Monate heimgesucht, hingenommen hat, und wie wenig Aufsehen auch die schlimmsten Sensationsblätter von ihr gemacht haben." Das sind, ganz offensichtlich, Sätze, die aus einer anderen Medienepoche stammen. Damals gab es Papierknappheit, vergleichsweise träge Printmedien, Zensur.
Heute stellt die Welt auf den Live-Modus der Berichterstattung um. Und die Tatsache, dass Vernetzung verstört, den Behaglichkeitskosmos der individuellen Existenz aufbricht, wird zur allgemeinen Erfahrung. Wir erleben, was es heißt, mit der dem ernsten Risiko der Virusinfektion und gleichzeitig inmitten einer Infodemie zu leben: Fakten und sehr reale Gefahren, die im Verbund mit Spekulationen und Falschmeldungen Angst und Schrecken verbreiten, Unsicherheit erzeugen oder aber vorschnell Entwarnung geben. Ganz so, als sei alles nur ein Ausbruch kollektiver, mediengemachter Hysterie.

Gefühlsansteckung im Selbstbestätigungsmilieu

Das Prinzip, das hier regiert, ist die Gefühlansteckung, die emotionale Infektion im eigenen Selbstbestätigungsmileu. Und in jedem Fall gilt: Wir leiden unter der Überdosis an Ereignis- und Krisenkonzentration, die uns im Moment auf allen Kanälen erreicht. Alles wird jetzt öffentlich: die seriöse Information, die irrwitzige Verschwörungstheorie, das TikTok-Spaßvideo, auf dem Menschen ihre Angst wegtanzen. Wenn es noch einen Beleg für die Macht der Medien bräuchte – er wäre hiermit im globalen Maßstab erbracht.
Entscheidend ist jetzt: Wie mit der Überdosis Weltgeschehen umgehen, wie sich dem Panikmodus der Live-Ticker entziehen, aber doch gleichzeitig engagiert und informiert bleiben, wie also die gefahrenbewusste Achtsamkeit mit ruhiger Besonnenheit kombinieren?

Informationskonsum und Irrtumswahrscheinlichkeit

Noch vor dreißig Jahren war das heilige Mantra der Netzutopien schwer in Mode, das da hieß: Mehr Information macht uns automatisch mündiger.
Heute müssen wir anerkennen: Immer mehr Informationen unklarer Herkunft und Qualität erhöht die Chancen effektiver Desinformation. Weil wir im frei umher wirbelnden Informationskonfetti auf das zurückgreifen, was wir ohnehin glauben und glauben wollen. Weil wir uns – im Versuch, Orientierung zu gewinnen – an das Geländer unserer persönlich-privaten Vorurteile klammern.
Und das heißt in der Konsequenz: Je unruhiger die Zeiten, desto wichtiger der besonnene, reflektierte Informationskonsum, der die Irrtumswahrscheinlichkeit minimiert und auf behutsame Weise die Selbstirritation eigener Gewissheiten programmiert.

Leitfragen für die Medienmündigkeit

Drei Hinweise und Vorschläge auf diesem Weg. Zum einen ist das Quellenbewusstsein gerade in diesen Zeiten zentral – die Leitfrage: Woher stammt die Information, wird sie von unterschiedlichen Experten bestätigt und gibt es robuste Gründe der Quelle zu vertrauen?
Zum anderen gewinnt die Uralt-Tugend des Zögerns und der skeptischen Reflexion an Bedeutung. Es gilt Abschied zu nehmen vom Reflex des kommentierenden Sofortismus, um nicht einfach nur zur sinnlosen Überhitzung des Kommunikationsklimas beizutragen – die Leitfrage: Muss ich wirklich sofort posten und teilen, was mich gerade erst selbst an neuen, spektakulären, aber vielleicht irreführenden oder schlicht falschen Nachrichten erreicht?
Und schließlich muss jeder für sich das richtige Maß entdecken, um nicht in eine Stimmung der permanenten Verstörung (das wäre das eine Extrem) oder in einen Zustand der egozentrischen Gleichgültigkeit (das wäre das andere Extrem) hinein zu driften – die Leitfrage: Wie gelingt eine gute Mischung aus engagierter Anteilnahme und abgrenzungsfähiger Selektion?
Wir sind, soviel ist klar, alle zu Sendern geworden. Und es ist das Gebot der Stunde, unter Live-Bedingungen und im Tremolo der verstörenden Nachrichten medienmündig zu werden.

Bernhard Pörksen, Jahrgang 1969, ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. In diesem Essay greift auf Überlegungen zur Katastrophen- und Krisenkommunikation zurück, die er und der Kommunikationspsychologe Friedemann Schulz von Thun in ihrem Buch "Die Kunst des Miteinander-Redens. Über den Dialog in Gesellschaft und Politik" entfalten. Es ist dieser Tage im Carl Hanser Verlag erschienen.

© Bild: Peter-Andreas Hassiepen
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