Vom Lockdown zum Knockdown?
22:23 Minuten
Der türkische Präsident hat Anfang Mai eine Lockerung der Coronamaßnahmen verkündet. Die Infektionszahlen sinken, doch die Wirtschaft ist angeschlagen: Lira, Handel und Tourismus sind am Boden. Eine Gefahr für Recep Tayyip Erdoğan?
"Bitte warten Sie, bleiben Sie zu Hause, gemeinsam werden wir es schaffen", mahnt diese Fußgängerampel in Istanbul diejenigen, die trotz Coronakrise in der Stadt unterwegs sind. Zumindest nach offiziellen Angaben lohnen sich die Maßnahmen.
Die Zahl der Covid-19-Infektionen sinkt, sodass die Regierung Erdoğan erste Einschränkungen wieder gelockert hat. Zwei Monate nach dem offiziellen Ausbruch der Pandemie in der Türkei dürfen Menschen unter 20 und über 65 wenigstens stundenweise vor die Tür.
Ansonsten gibt es Lockerungen nur dort, wo die Wirtschaft profitiert: Während die Schulen und Moscheen noch geschlossen bleiben, durften Einkaufszentren und Friseure wieder öffnen. All das unter Vorbehalt, wie Staatspräsident Erdoğan betonte:
"Wir haben einen Plan für Lockerungen innerhalb der kommenden Wochen. Den können wir aber jederzeit anpassen. Diese Epidemie zu überwinden liegt in den Händen von allen 83 Millionen Bürgern."
Der Kampf um die Existenz
Einer davon ist Sinan. Der 45-Jährige aus dem westtürkischen Ayvacik hat zwar kein Corona aber sonst alles, was mit der Krise verbunden ist. Weil die Kunden wegblieben, musste er seine kleine Marketingfirma schließen, er hat im Moment gar keine Einnahmen, seine Miete zahlt er nur noch zur Hälfte.
"Unser Sohn ist gerade 18 geworden. Das einzige, was wir ihm schenken konnten, waren eine Tüte Pinienkerne und eine Flasche Wasser."
Eine ordentliche Feier, zum Beispiel in einer Bar, wäre sowieso nicht möglich gewesen. Denn am 16. März verfügte die Regierung, dass alle Restaurants geschlossen werden.
Seitdem kämpft auch der Istanbuler Gastronom Aycan Ceki um seine Existenz. "Vom 16. bis zum 23. März haben wir noch versucht, uns mit einem Lieferservice über Wasser zu halten. Aber die Kosten waren zu hoch und die Nachfrage zu gering. Deshalb haben wir dann ganz dicht gemacht."
Anders in der Industrie: Dort wurde zum Teil weitergearbeitet, wenn auch mit Einschränkungen. In der Autoindustrie fiel die Produktion im April um 90 Prozent. Bei den Automobilzulieferern, die zu den wichtigsten Industriezweigen der Türkei zählen, hätten mehr als die Hälfte der Betriebe ihre Produktion runtergefahren, sagt der Präsident des Branchenverbandes, Alper Kanca.
"Drei bis vier Prozent der Mitgliedsbetriebe haben ohne Einschränkungen weitergearbeitet, dank Aufträgen aus Fernost. Die übrigen haben ganz dicht gemacht für zwei, drei oder fünf Wochen."
Glück im Unglück für die Türkei
Zu letzteren gehört auch Kancas Nachbar im Industriepark von Gebze vor den Toren Istanbuls, der ostwestfälische Autozulieferer Benteler. Seit ein paar Tagen laufen die Bänder in der türkischen Autobranche wieder. Insgesamt hätte die Türkei Glück im Unglück gehabt, meint Kanca.
"Erstens hatten wir Glück, dass unser Gesundheitssystem und unsere Bürokratie zum ersten Mal vergleichsweise gut zusammengearbeitet hatten. Zweitens: Die Regierung hat schnell reagiert mit dem Kurzarbeitssystem, das war ausschlaggebend."
Für das Kurzarbeitergeld plünderte die Regierung kurzerhand die Arbeitslosenkasse. Und zahlte das Geld schnell und unbürokratisch an die Industrie aus. Kleinere Unternehmen bekamen diesen Vertrauensvorschuss nicht. Sie mussten zum Teil mehr als einen Monat warten. Andere Beschäftigte gehen leer aus, weil sie die Kriterien nicht erfüllen oder schwarzarbeiten. Der Wirtschaftsjournalist Baris Soydan vom unabhängigen Nachrichtenportal T24 rechnet unter anderem deshalb mit einem drastischen Anstieg der Arbeitslosigkeit:
"Die Türkei hat schon 4,5 Millionen Arbeitslose. Geschätzt wird, dass durch die Pandemie rund 3 Millionen Arbeitslose hinzukommen werden."
"Ich mache mir Sorgen um die Zukunft"
Angst davor arbeitslos zu werden, hat auch Sinan. Er denkt nicht, dass er seine Firma wieder aufmachen kann. Momentan hat er noch umgerechnet knapp 400 Euro. Wie es danach weitergehen soll, weiß er nicht.
"Die Welt wird nach Corona nicht mehr die alte sein. Ich mache mir Sorgen um die Zukunft, meine Familie, meine Freunde, um die, die ich liebe und die, die ich nicht liebe, um mein Land und den Planeten."
Zumindest die Sorgen um sein Land möchte ihm einer nehmen: Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan. Weil dessen Regierung aber schon vor Corona knapp bei Kasse war, drehte Erdoğan den Spieß Anfang April einfach um und rief die Bürger auf: "Wir starten eine Kampagne für nationale Solidarität. Das Motto: Die Türkei ist sich selbst genug. Ich leite diese Kampagne ein, indem ich persönlich sieben Monatsgehälter spende."
Bitte spenden für Corona!
Wie viel jeweils Unternehmer, Lehrer, Richter und andere Berufsgruppen spenden sollen, das legte die Regierung in einer Liste fest. Und der einfache Bürger bekommt alle paar Tage eine Kurznachricht vom Staat aufs Handy. Wer die SMS beantwortet, spendet automatisch 10 Lira. Bisher brachte diese Aktion rund zwei Milliarden Lira – aber auch viel Spott und Häme.
So schrieb zum Beispiel der ehemalige Ministerpräident und frühere Erdoğan-Weggefährte Ahmet Davutoğlu bei Twitter: "Angesichts des Coronavirus verteilen andere Länder Geld an ihre Bürger, aber wir sammeln Geld von den Bürgern. Läuft hier nicht etwas falsch?"
Ein anderer Nutzer kommentierte: "Trauen Sie keinem Menschen, der sich als Präsident ausgibt und um Geld bittet."
Für Unmut sorgte auch, dass die Regierung fast zeitgleich Spendenkonten der von der Opposition regierten Städte Ankara und Istanbul einfror. Die gesammelte Millionenspende kann damit nicht an Bedürftige verteilt werden.
Für den Wirtschaftsjournalisten Baris Soydan offenbart das Theater um die Spendenhoheit: Die Regierung steht unter massivem Finanzdruck. Und greift zu einer Lösung, die unter Fachleuten als naiv angesehen wird.
"Der Staat druckt Geld. Das Problem liegt aber an anderer Stelle: Die Auslandsschulden des Landes – die Türkei muss bis Jahresende insgesamt 172 Milliarden Dollar zurückzahlen."
Der Tourismus als wichtige Einnahmequelle bricht weg
Da passt es überhaupt nicht, dass durch die Coronakrise eine wichtige Einnahmequelle gerade versiegt – der Tourismus. Es ist idyllisch ruhig auf der Halbinsel von Kaş, ganz im Südwesten der Türkei. Die Hotels in der Stadt sind zu, die Restaurants, Cafes und Bars verbarrikadiert. Für die, die ihr Geld mit Urlaubern verdienen, hat die Ruhe wenig Idyllisches. Denn normalerweise wäre jetzt schon gut Betrieb.
Der junge Hotelier Yusuf Soral hat die Saison mehr oder weniger abgehakt: "Ich will nicht pessimistisch sein, aber: wir werden uns über Wasser halten dieses Jahr, aber nicht groß verdienen. Wenn wir dieses Jahr keine Verluste machen, dann war es für mich schon ein gutes Jahr."
Corona trifft auch Meral Senerdi. Sie vermietet drei Ferienhäuser am Meer, meistens an Urlauber aus dem Ausland. Vor Corona hatte sie schon einige Buchungen.
"Wir haben allen unseren Gästen geschrieben, sie können jederzeit ihre Pläne ändern und stornieren, ohne Geld zu verlieren. Wir zahlen ihnen die Buchungsgebühren zurück. Wir sitzen vielleicht nicht im selben Boot, aber leben auf demselben Planeten. Wir leiden alle gemeinsam unter Covid-19. Sie sind uns jeder Zeit willkommen, haben wir unseren Gästen gesagt."
In Urlaubsgebieten hängt fast jeder am Tourismus, vom Gemüsebauern, der Restaurants beliefert, über den Friseur, den der Umsatz vom Sommer durch den Rest des Jahres trägt, bis hin zu den vielen Saisonkräften. Von ihnen sind jetzt viele ohne Job und ohne Perspektive. Das macht Munise Ozan Sorgen. Sie ist die Vorsitzende des Tourismusverbandes von Kaş.
"Die Kellner, das Reinigungspersonal in Hotels und andere arbeiten normalerweise nur während der Saison. Im Winter haben nur wenige einen Job. Jetzt haben sie keine Versicherung und keinen Lohn, auch wenn die Regierung versucht, ihnen etwas Geld zu zahlen."
Letzte Saison kamen 50 Millionen Urlauber in die Türkei
Letzte Saison kamen mehr als 50 Millionen Urlauber in die Türkei. Dieses Jahr sollten es eigentlich noch mehr werden. Ab Juni will die Türkei die Grenzen langsam wieder aufmachen und auch internationale Urlauber ins Land lassen, unter bestimmten Bedingungen.
Tourismusminister Mehmet Ersoy hat im türkischen Fernsehen ein Programm mit rund 130 Kriterien vorgestellt. "Die Kriterien werden an einigen Grundregeln festgemacht: Erstens, anderthalb Meter sozialer Abstand, zweitens: zusätzliche Hygiene-Maßnahmen, drittens: die Ausbildung des Personals. Das Personal muss eine nachhaltige Pandemie-Ausbildung bekommen."
Wenn Urlauber in der Türkei landen, sollen sie gleich auf Symptome untersucht werden, Corona-Schnelltests direkt am Flughafen sind im Gespräch. Alles soll desinfiziert werden, angefangen beim Flughafenshuttle bis zu den Räumen im Hotel. All-Inclusiv-Hotels gibt es weiter und auch Buffets, allerdings ohne Selbstbedienung. Geplant ist, die Gäste mit Masken auszurüsten. Die sind in vielen Provinzen Pflicht. Mit Mundschutz auf der Sonnenliege und anderthalb Meter Abstand an der Hotelbar? Ob Urlaub so noch Spaß macht?
Tourismusminister Ersoy ist sich der Probleme bewusst: "Man darf die Erwartungen nicht zu hoch hängen. Ich denke, es wäre schon eine gute Saison, wenn 50 bis 60 Prozent der Hotels aufmachen. Ich kenne viele Tourismusunternehmer persönlich. Manche haben bis zu zehn Hotels und ich weiß, dass sie überlegen nur fünf oder sechs davon zu öffnen."
Möglichst bald sollen auch Deutsche kommen
Masken, Desinfektionsmittel, zusätzliches Personal am Buffet – das kostet alles Geld. Präsident Erdoğan hat die Mehrwertsteuer auf Reisen innerhalb der Türkei von 18 auf ein Prozent gesenkt. Die Bettensteuer für Hoteliers ist ganz ausgesetzt. Aber ob das reicht? Für Tourismusminister Ersoy ist erstmal wichtig, dass überhaupt wieder Urlauber ins Land kommen, und möglichst bald auch Deutsche.
"An der Zahl der Fälle und der Reproduktionsrate gemessen gehört Deutschland zu den Ländern, die die Pandemie relativ schnell in den Griff bekommen haben. Nachdem wir einige Länder ausgewählt haben, fragen wir unseren Wissenschaftsrat, ob es okay ist, wenn wir ab dann und dann wieder mit diesen Ländern loslegen. Ich denke, wir werden mit Deutschland wohl recht früh wieder anfangen."
Dass Ersoy Druck macht und möglichst bald in die Saison starten will, ist verständlich. Das Werben der Regierungsvertreter um kurzentschlossene oder späte Urlauber hält der Wirtschaftsjournalist Baris Soydan für einen verzweifelten Versuch zu retten, was nicht mehr zu retten ist.
"Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass dieses Jahr Touristen aus Europa kommen werden, außer vielleicht ein paar Abenteuerlustige. Die Türkei nimmt rund 35 Milliarden Dollar mit dem Tourismus ein. Davon werden mindestens zwei Drittel wegfallen."
In der Automobilzulieferindustrie liegen die Umsatzeinbußen während der Coronaphase bei 60 Prozent. Übers Jahr gerechnet wäre es aber weit weniger, sagt Verbandspräsident Kanca.
"Wenn alles nach Plan läuft, werden wir Ende des Jahres Minimum 20 Prozent des Umsatzes verloren haben, das sind ungefähr fünf Milliarden Euro für die Industrie."
Für die Gastronomie stellt sich dagegen die Frage, wie lange die Restaurants und Cafes überhaupt durchhalten können, selbst wenn sie bald wieder öffnen dürfen. Der Istanbuler Wirt Aycan Ceki befürchtet:
"Die nächsten Monate werden viele kleine Betriebe kaum überleben. Auch wegen der notwendigen Auflagen. Wer vorher Platz für 50 Gäste hatte, wird künftig nur noch maximal 25 Gäste bedienen bei gleichbleibenden Ausgaben für Personal, Steuern etc. Das kann man nicht lange durchhalten."
Eine Regierungskrise als Folge der Wirtschaftskrise?
Nicht nur das Volk, auch die Regierung hat seit Corona mit weiteren Problemen zu kämpfen. Zunächst zerfällt Erdoğans AKP immer mehr von innen. Um sie zusammenzuhalten, lasse der Staatspräsident gerade keine Möglichkeit aus, die Opposition zu attackieren und streue bewusst Gerüchte über Neuwahlen, meint der Journalist und Analyst Murat Yetkin. Das sei aber alles nur Show.
"Die Menschen fragen sich, ob Neuwahlen darauf gestützt werden sollen, dass die Coronabekämpfung hier erfolgreicher zu sein scheint als in anderen Ländern, vor allem im Westen. Nun, ich stimme nicht zu. Die wirtschaftliche Lage ist nicht gut genug für vorgezogene Wahlen."
Und auch wenn Erdoğan jetzt Corona nutze, um sich als starken Führer zu präsentieren, stecke seine Regierung – vor allem wegen der Wirtschaft – in einer nachhaltigen Vertrauenskrise. Das könnte schon bald Konsequenzen haben.
"Corona hat zu mehr Kritik am Präsidialsystem geführt, also an der autoritären Ein-Mann-Verwaltung hier, bei der alle Behörden sich nur um den Präsidenten drehen. Das System wird neu diskutiert."
Das Präsidialsystem steht auf der Kippe
Kommt nach Corona also eine Kehrtwende Erdoğans, der erst vor zwei Jahren das Parlament quasi entmachtet hat, um sich allein ins Zentrum der Staatsgewalt zu stellen? Einer aktuellen Umfrage nach würden sich das mehr als 60 Prozent der Türken wünschen.
Nicht nur das Präsidialsystem steht auf der Kippe, sondern auch die Zusammensetzung der Regierung. Nach der ersten Ausgangssperre in der Türkei, die nur zwei Stunden vorher angekündigt wurde und deswegen zu Panikkäufen von Menschenmassen führte, wollte Innenminister Süleyman Soylu zurücktreten. Verhindert wurde das durch Druck von Erdoğans Bündnispartner Bahceli, Chef der nationalistischen MHP.
Der schrieb bei Twitter: "Herr Süleyman Soylu hat mit seiner ehrlichen, treuen und klugen sowie kämpferischen Persönlichkeit die Türkei erfolgreich durch schwierige Zeiten geführt. Wir wünschen uns, dass er diese Mission mit Entschlossenheit fortsetzt."
Es dürfte aber nur eine Frage der Zeit sein, bis Erdoğan sich durchsetzt und Soylu gehen muss. Denn er ist einer der populärsten Politiker im Land und droht damit eine wichtige Regel zu brechen: Sei niemals beliebter als Erdoğan. Dasselbe gilt für Gesundheitsminister Koca, dessen Umfragewerte durch Corona gestiegen sind.
Verurteilte Kriminelle aus dem Gefängnis entlassen
Auch an anderer Stelle wurde deutlich, wie geschwächt Erdoğans AKP ist. Um sich die Unterstützung des Bündnispartners MHP zu sichern, brachte die Regierung ein von der MHP seit Jahren gewolltes Gesetz durchs Parlament: Etwa 90.000 Diebe, Drogendealer, Mafiabosse und andere verurteilte Kriminelle wurden aus dem Gefängnis entlassen. Offizielle Begründung: Coronagefahr in den überfüllten Haftanstalten.
Drinnen bleiben müssen dagegen vor allem Untersuchungshäftlinge, obwohl die laut Artikel 38 der Verfassung unschuldig sind – weil ein Urteil fehlt. Betroffen seien davon etwa 60.000 Menschen – darunter Oppositionelle wie der ehemalige Vorsitzende der pro-kurdischen Partei HDP, Selahattin Demirtas, Kulturschaffende wie der Unternehmer und Mäzen Osman Kavala, Journalisten und Akademiker, sagt der Istanbuler Anwalt Murat Budoroglu.
"Genau an dieser Stelle sieht man, dass das Gesetz völlig verfassungswidrig ist. Denn durch die Anwendung werden alle politischen verhafteten Personen offensichtlich mit dem Coronavirus gefährdet."
Damit verstoße das Gesetz noch gegen zwei weitere Artikel der Verfassung: Denn einmal hat die Regierung eine Schutzpflicht für alle Menschen im Land und außerdem sind alle Menschen gleich zu behandeln. Doch selbst wenn das Verfassungsgericht das Gesetz kippt: Die Kriminellen sind längst draußen. Bis dahin war die Kriminalität in der Türkei insgesamt aufgrund von Ausgangsbeschränkungen gesunken.
Häusliche Gewalt in Istanbul um 38 Prozent gestiegen
Allerdings hat die Gewalt in den eigenen vier Wänden seit Corona brutal zugenommen: Allein in Istanbul nach Angaben der Polizei um 38 Prozent. Betroffen sind vor allem Frauen und Kinder. Nur wenige schaffen es, sich in Sicherheit zu bringen, wie zum Beispiel die 24-Järhige Burcu Keskin, die in Wirklichkeit anders heißt. Sie ist mit ihrer kleinen Tochter in ein Frauenhaus in Izmir geflohen.
"Weil mein Mann keine Arbeit mehr hat, war er die ganze Zeit zuhause, zu Tode gelangweilt und hat sich dann irgendwie Drogen besorgt."
Daran sei Corona schuld, sagt sie. Mit Mühe und unter Tränen spricht die junge Frau weiter.
"Er hat angefangen, mich zu schlagen und zu missbrauchen. Hat gesagt, er wird mich an ein Bordell verkaufen. Ich sei eine Hure und er würde mich töten und unsere Tochter auch und den Rest der Familie."
Für Frauen wie Burcu Keskin wird sich die Lage frühstens nach Corona entspannen. Bis dahin geht es für sie ums nackte Überleben.
Die Natur und die Delfine freuen sich
Corona bringt viel Leid über die Menschen in der Türkei. Die Natur allerdings freut sich über weniger Lärm und Luftverschmutzung. In Istanbul trauen sich die Delfine in diesen Wochen erstaunlich nah ans Ufer. Delfine im Bosporus sind keine Seltenheit, doch man bekommt sie nie so häufig zu Gesicht, wie seit Beginn der Coronakrise. Der Meeresbiologe Arda Tonay von der Istanbul Universität gehört einer Forschungsgruppe an, die das Leben der Bosporus-Delfine seit zehn Jahren genau untersucht.
Der Große Tümmler ist hier im Bosporus heimisch. Es gibt eine Population von 40 bis 50 Tieren. Sie entfernen sich kaum, schwimmen allenfalls mal bis zu den Prinzeninseln. Den Gemeinen Delfin kann man nicht als heimisch bezeichnen. Er liebt das weite Meer und man kann ihn nur beobachten, wenn er den Bosporus durchquert, er hat es aber immer sehr eilig.
Die nicht heimischen Arten ziehen jetzt im Frühjahr vom Mittelmeer ins kühlere, nahrungsreichere Schwarze Meer. Die Bosporus-Delfine bleiben. Auch sie sind stattliche Tiere. Bis zu 2,50 Meter wird der Große Tümmler hier lang. Adil beobachtet sie zurzeit jeden Morgen. Der 43-Jährige ist so etwas wie der Bewacher eines geschlossenen Restaurants direkt am Ufer in Ortaköy. Wegen Corona bleiben die Gäste zwangsweise aus. Dafür lassen sich umso mehr Delfine blicken.
"Es sind erstmals so große Gruppen, das war vorher noch nie so. Oder vielleicht war es so und wir haben sie nicht gesehen. Sie kommen ständig vorbei. Vor allem in den frühen Morgenstunden oder nachts tauchen sie auf."
Grund dafür ist nach Überzeugung von Wissenschaftlern verringerter Stress: Weil wegen der Coronakrise weniger Schiffe auf dem Bosporus unterwegs sind und auch der Autoverkehr auf der Uferstraße zurückgegangen ist. Sogar die vielen Angler, die sonst das Ufer säumen, müssen zu Hause bleiben – und machen den Delfinen die Beute nicht streitig.
Das ist allerdings ein vorübergehendes Phänomen. Denn mit den sinkenden Infektionszahlen kehrt allmählich der Alltag in die türkischen Städte zurück. Doch an den offiziellen Zahlen äußert der Türkische Ärzteverband Zweifel. Dessen Vorstandsmitglied Prof. Dr. Kayihan Pala geht von einer hohen Dunkelziffer aufgrund ungenauer Testverfahren aus.
"Nach unseren Erkenntnissen ist die Zahl der Bürger mit Covid-19-Symptomen und negativem Testergebnis drei- bis viermal so hoch, wie die Zahl der positiv getesteten Fälle."
Noch andere Fragen drängen sich auf. Etwa: Wie kann die Türkei zur gleichen Zeit mit Lockerungen beginnen wie Deutschland, obwohl die Pandemie das Land am Bosporus erst Wochen später erreicht hat?
Solche Fragen in der Öffentlichkeit zu stellen, gilt als Risiko. Sogar dem Türkischen Ärzteverband drohen für seine kritischen Äußerungen Konsequenzen: Die Regierung plant mehr Einfluss darauf zu nehmen, wer in Zukunft im Ärzteverband sitzt und wer nicht. Noch darf Professor Pala aber im Namen der Vereinigung sagen, was ihm und seinen Kollegen Sorgen bereitet: zum Beispiel mangelnde Transparenz.
"Selbst heute haben wir immer noch keine Informationen darüber, wie sich die Zahl der Toten und Infizierten auf die Provinzen verteilt, ob es mehr Frauen oder Männer sind, die gestorben oder infiziert sind, welcher Altersgruppen sie angehören oder welche Vorerkrankungen sie hatten."
Sicher ist: Hotspot der Infektionen ist Istanbul. Dort lässt die Regierung zwei Behelfskrankenhäuser mit je 1000 Betten bauen. Sie sollen Ende Mai fertig sein – also dann, wenn die Krise eigentlich überstanden sein soll. Überflüssig seien sie dann aber nicht, sagt der außenpolitische Sprecher der Regierungspartei AKP, Cevdet Yilmaz.
"Die Türkei will gesunden Tourismus und Gesundheitstourismus bieten. Die neuen Pandemie-Krankenhäuser werden zum Beispiel sehr wichtige Einrichtungen dafür werden. Und ich glaube, in der kommenden Periode wird dieser Gesundheitstourismus für die Türkei sehr wichtig werden."
500 Ermittlungen wegen Posts zu Corona
So werde aus der Not eine Tugend gemacht. Überhaupt leiste die Regierung in der Krise gute Arbeit, sagt Yilmaz. Wer das anders sieht und zum Beispiel in sozialen Medien kritische Fragen stellt, läuft Gefahr, Ärger zu bekommen. Nach Angaben des Innenministeriums wurden von Mitte März bis Ende April 500 Ermittlungen wegen provokanter Posts zu Corona eingeleitet und 10 Verdächtige festgenommen. Nichts und niemand soll stören, wenn die Türkei in diesen Tagen in eine neue Phase eintritt, wies es Gesundheitsminister Fahrettin Koca ausdrückt.
"Ich finde es wichtig, dieser Phase einen Namen zu geben. Denn er macht deutlich, wie unser Kampf gegen das Virus aussieht: Der Name lautet 'Kontrolliertes soziales Leben'."
Das Motto schützt vielleicht vor Ansteckungen aber nicht vor der Wirtschafts- und Finanzkrise. Die gab es schon vor Corona. Nun droht sie durch die Pandemie außer Kontrolle zu geraten.