Hubert Schmidt (Hg.): "Covid-19 – Rechtsfragen zur Corona-Krise"
Beck Verlag, München 2020
718 Seiten, 44,90 Euro
Wie gut funktioniert das Recht im Ausnahmezustand?
30:06 Minuten
Eine Fülle von Gesetzen und Verordnungen sind in der Coronazeit erlassen worden. Wie sehr sie mittlerweile den Alltag im Ausnahmezustand prägen und Rechtssicherheit in unsicheren Zeiten stiften, erklärt der Rechtswissenschaftler Hubert Schmidt.
"Die Exekutive und die Legislative haben in beachtlicher Schnelligkeit gegengesteuert", glaubt der an der Hochschule und der Universität in Trier lehrende Rechtswissenschaftler und Anwalt Hubert Schmidt. Er sieht darin eine beachtliche Leistung, um mit den Folgen der Corona-Pandemie zurecht zu kommen. Auch wenn in der öffentlichen Wahrnehmung das Verhältnis von Staat und Bürger im Vordergrund steht, wenn es etwa um die Einschränkung des Demonstrations- und Versammlungsrechts geht, so entstehen doch im alltäglichen Leben unendlich viele juristische Fragen, die das Kredit- und Darlehensrecht betreffen, wenn Schuldnern die Einkünfte fehlten, um Kredite zu bedienen, oder Mieter Corona-bedingt ihre Miete nicht zahlen können, oder ob und in welchem Umfang private Räume fürs Homeoffice genutzt werden können. Die Folgen der Pandemie sind mittlerweile tief ins Rechtssystem eingesickert und das zeigt, wie lebendig und anpassungsfähig das Recht auch in Zeiten des Ausnahmezustands ist, wie Rechtssicherheit immer wieder hergestellt werden kann.
Sind die Corona-Gesetze gelungen?
Deutschlandfunk Kultur: Was sind denn eigentlich die drängendsten Rechtsfragen innerhalb der Corona-Krise?
Hubert Schmidt: Im Moment sind das natürlich die Fragen, wie man der Krise entgegenwirkt, also insbesondere, das war ja am Anfang das Entscheidende, wie man die Ausbreitung des Virus verhindern kann.
Die Exekutive und die Legislative haben in beachtlicher Schnelligkeit gegengesteuert, wenn Sie etwa das Beispiel Rheinland-Pfalz sehen. Wir hatten die erste Corona-Bekämpfungsverordnung hier in Rheinland-Pfalz am 20. März. Die achte Corona-Bekämpfungsverordnung ist jetzt am 25. Mai in Kraft getreten. Vor dem 20. März gab es schon verschiedene Allgemeinverfügungen nicht nur in Rheinland-Pfalz, auch in anderen Bundesländern.
Wenn Sie dann die Gesetzgebungsaktivitäten in Berlin verfolgt haben, das Bundesgesetzblatt vom 27. März hat einen ganzen Strauß von in kürzester Zeit vom Bundestag unter Zustimmung des Bundesrates verabschiedeten Gesetzen erlassen. Also, die Gesetzgebungsgeschichte in diesen Fällen dauerte nicht länger als zwei, drei Tage.
Deutschlandfunk Kultur: Das ist allerdings beachtlich. Schnelligkeit ist ja nicht immer ein Vorteil, gerade wenn es um Gesetze geht. Also, wie beurteilen Sie denn die Schnelligkeit? Was ist da hergestellt worden? Ist das juristisch einwandfrei aus Ihrer Perspektive? Oder sind da doch Sachen sehr, sehr schnell verabschiedet worden?
Schmidt: Man tut sich so ein bisschen schwer, wenn man als Außenstehender jetzt sagt: "Naja, das eine oder andere hätte besser sein können." Natürlich hätte das eine oder andere besser sein können. Aber im Nachhinein ist man halt immer klüger. Ich finde es beachtlich, dass die Politikerinnen und Politiker und die Verwaltungsleute in so kurzer Zeit so verhältnismäßig vernünftige Sachen "auf den Markt" – hätte ich jetzt beinahe gesagt – gebracht haben.
Natürlich muss man das später auch bei der Auslegung dieser Vorschriften berücksichtigen, dass da einfach nicht jedes Wort auf die Goldwaage gelegt werden kann. Das ist vielleicht bedauerlich, aber ich würde da eher sagen, das ist menschlich verständlich. Und wir müssen jetzt sehen, dass wir mit dem allgemeinen juristischen Handwerkszeug an die Dinge herangehen.
Was mich eher stört, ist nicht so sehr die Eile jetzt in einer solchen Krisensituation, sondern dass das eine oder andere Mal die Gesetzgebung in Berlin überstürzt handelt, ohne dass eine Krisensituation vorläge. Das ist aber ein anderes Thema. Da würde auch die Sendung wahrscheinlich nicht ausreichen. Also, hier in dieser Situation finde ich es im Großen und Ganzen beachtlich. Natürlich ist das eine oder andere vielleicht nicht so gut formuliert und nicht so durchdacht formuliert, aber aufs Große und Ganze gesehen, bin ich der Meinung, kann man damit arbeiten.
Deutschlandfunk Kultur: Wenn ich mir diesen Band "Covid-19 – Rechtsfragen zur Corona-Krise", den Sie herausgegeben haben, anschaue, dann ist natürlich auf der einen Seite beachtlich, was da überhaupt zustande gekommen ist von der Bundesgesetzgebung. Also, da wurde ja nicht nur im März oder Ende März so ein milliardenschweres Rettungspaket für alles Mögliche verabschiedet, sondern eben auch ein ganzer Strauß von Gesetzen. Gibt es da irgendetwas, was heraussticht?
Schmidt: Ja, also: Wir haben uns im Band an verschiedener Stelle mit dem in Abkürzung COVFAG, also dem Gesetz zur Abmilderung der Folgen der Covid-19-Pandemie in Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht beschäftigt. Das war das, was relativ weitreichend in zivilrechtliche Gestaltungen eingegriffen hat – von der Verbandsstruktur über die Verbandswillensbildung, Verband meine ich Aktiengesellschaft, GmbH, Verein, Genossenschaft, auch ein Schlenker in die Stiftungen. Sie haben Insolvenzantragsregelungen, also Aussetzung der Insolvenzantragspflicht. Also, das ist sicherlich etwas, was weitreichende zivilrechtliche Folgen hat, mit denen wir uns auch noch eine ganze Zeitlang beschäftigen müssen.
Das ist jetzt sozusagen abgerundet worden am 15. Mai durch das Gesetz über die Gutscheinlösung in Veranstaltungen, Freizeit-, Musik-, Kulturveranstaltungen.
Deutschlandfunk Kultur: Was heißt das?
Schmidt: Es war in der Diskussion, Sie haben das vielleicht verfolgt, einerseits die Gutscheinlösung im Reisevertragsrecht. Das konnte Berlin allerdings nicht machen, weil das europäisches vereinheitlichtes Richtlinienrecht ist. Und die Brüsseler Kommission hat die Gutscheinlösung im Pauschalreiserecht abgelehnt. Die kleine Münze davon ist jetzt im Pauschalreiserecht die freiwillige Gutscheinlösung.
Was das Veranstaltungsrecht anbelangt, ist es so, dass jetzt durch die Corona-Pandemie ja viele Musik-, Kultur-, Sportveranstaltungen schlicht ausgefallen sind, dass auch insbesondere Fitness-Studios etwa geschlossen wurden. Da stellt sich die Frage: Wie sieht denn das mit den Beiträgen, mit den "Mitgliedsbeiträgen" – in Anführungszeiten – in den Fitness-Studios oder mit den Eintrittskarten aus? Wenn sämtliche Veranstalter das Geld zurückzahlen müssen, bekommen die möglicherweise ein Problem, was dann die Insolvenzabteilung wieder interessiert.
Deswegen hat man gesagt: Also, das Gesetz sieht das vor, dass statt der Rückzahlung der Beiträge die Gutscheinlösung kommt. Das heißt, die Veranstalter können den "Kunden" – in Anführungszeichen – Gutscheine ausstellen, es sei denn, die Gutscheinlösung ist für den Einzelnen wegen seiner persönlichen Lebensumstände unzumutbar. Oder auszuzahlen ist das Gutscheinguthaben dann auch, wenn es bis zum 31. Dezember 2021 nicht eingelöst wird.
Das stellt so ein bisschen auf den Kopf, was wir sonst aus dem allgemeinen Zivilrecht kennen, dass man, wenn man in einem Vertragsverhältnis eine Leistung nicht erbringt, man dann auch keinen Anspruch auf die Gegenleistung hat. Und wenn schon etwas gezahlt worden ist, ist das zurückzuzahlen.
Aus dieser wirtschaftlichen Notlage heraus, Interessenlage heraus hat man gesagt: "Nee, das machen wir jetzt nicht, sondern eröffnen dem Veranstalter die Möglichkeit der Gutscheine." Da kann man tausend und ein Fragezeichen dran machen. Dadurch wird letztlich ein zinsloser Kredit mehr oder minder freiwillig gewährt und das Insolvenzrisiko trägt natürlich dann der Kunde. Aber das hat man in Kauf genommen.
Deutschlandfunk Kultur: Ja, das ist total interessant, was Sie erzählen. Weil, normalerweise, wenn man auf das Recht in Corona-Zeiten schaut, hat man die ganz großen Themen an der Hacke. Das heißt also, wir schauen in der öffentlichen Diskussion andauernd auf die Grundrechte, die Versammlungs- und Demonstrationsrecht, die dann eingeschränkt werden. Aber so der ganze Bodensatz des juristischen Alltags haben wir gar nicht im Blick in Corona-Zeiten. Insofern stellt sich natürlich die Frage: Wie entwickelt sich so ein Rechtssystem im Einzelnen, wenn wir jetzt auf die alltags- und zivilrechtlichen Gegenstände schauen?
Schmidt: Das ist eine schwierige Frage. Also, in der Tat ist zunächst mal richtig: Was die öffentliche Befassung mit dem Thema anbelangt, stehen natürlich die öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten, die vielen einstweiligen Anordnungen, die beantragt worden sind, gegen verschiedene Corona-Verordnungen – bis hin zu Anträgen auf Erlass einstweiliger Anordnungen beim Bundesverfassungsgericht, und zwar hinüber wie herüber, also, nicht nur gegen die Beschränkungen, sondern etwa auch in die entgegengesetzte Richtung.
Das Bundesverfassungsgericht hatte unlängst zu entscheiden, ich meine, 20. Mai war das, über einen Antrag eines 65-Jährigen, der sich gegen die Schnelligkeit der Öffnung wehrte. Auch dieser Antrag wurde als unzulässig abgewiesen, eher aus formellen Gründen. Da haben wir sicherlich die eine Baustelle. Aber unterm Schirm läuft dann tatsächlich etwas, dass man etwa auch im Gewerbemietrecht inzwischen die Fälle auch gerichtsanhängig gemacht hat, dass die Gewerbemieter nicht zahlen im Hinblick auf die Regelungen in § 2 von Art. 240 BGB, und die Vermieter sagen: "Wir brauchen aber das Geld! Wir können zwar nicht kündigen, aber wir brauchen das Geld."
Das geht dann auch bis zum Umgangsrecht. Ich habe gesehen, dass es schon vereinzelt Entscheidungen der Familiengerichte gibt zur Frage, ob wegen der Corona-Pandemie das Umgangsrecht des nicht betreuenden Elternteils eingeschränkt werden könne. – Die Gerichte haben das bisher verneint, aber das schlägt auf. Wie sich das Rechtssystem unter dem Eindruck solcher Sonderregelungen entwickelt, das kann ich Ihnen – offen gestanden – gar nicht, schon gar nicht amtlich sagen.
Mein Eindruck oder mein Wunsch wäre es, dass wir solche Sonderregelungen nicht unbedingt als Maßstab für den Normalfall nehmen, dass wir also aus diesen vielen Entscheidungen, die es schon gibt, die Situation jetzt beleuchtet sehen, aber nicht die Situation, wie es vielleicht in zwei Jahren ist.
Mietrecht in Zeiten von Corona
Deutschlandfunk Kultur: Herr Schmidt, lassen Sie uns doch mal dann konkreter in einzelne Bereiche reinschauen, weil unser alltägliches Leben dadurch betroffen ist. Also, zum Beispiel das Mietrecht: In Deutschland, wenn ich richtig orientiert bin, wohnen 54 Prozent aller Menschen zur Miete. Das ist die höchste Quote in ganz Europa.
Nun kann man den Bürgerinnen und Bürgern zwar zumuten, nicht ins Kino oder in ein Restaurant zu gehen, also nichts zu konsumieren, aber eine Wohnung zu haben und zu mieten, kann man ihnen schwer vorenthalten, selbst wenn sie sie sich nicht leisten können, weil sie zum Beispiel gerade ein Kino oder eine Kneipe betreiben und einfach keine Einkünfte haben.
Wie geht da der Gesetzgeber vor im Verhältnis, also im rechtlichen Verhältnis von Mieter und Vermieter?
Schmidt: Das ist in der Tat geregelt. Das Gesetz vom 27. März hat das Einführungsgesetzbuch zum Bürgerlichen Gesetzbuch um einen Art. 240 "aufgefüllt" sozusagen. Es ist vorgesehen, dass die Mieten in der Zeit zwischen dem 1. April 2020 und vorläufig 30.06.2020 zwar grundsätzlich weiter zu zahlen sind, das sagt das Gesetz so gar nicht. Das Gesetz kehrt um und sagt: Wenn diese Mieten nicht gezahlt worden sind, kann der Vermieter nicht kündigen. - Das heißt, dieser Punkt ergab sich auch aus der Historie, also aus der Bundestagsdiskussion und der zugrundeliegenden Begründung des Gesetzes. Die Miete ist an sich weiter zu zahlen, nur, wenn sie nicht kommt, kann der Vermieter nicht – was ja sonst als wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung gilt – die verzugsbedingte fristlose Kündigung aussprechen.
Insofern ist also ein stückweit dem Vermieter der Schwarze Peter zugewiesen, während der Mieter im Moment mal folgenlos die Miete zurückhalten oder einfach nicht zahlen kann. Ob er ein wirkliches Zurückbehaltungsrecht hat, ist die Frage, aber er muss einfach nicht zahlen. Und wenn er nicht zahlt, muss er nicht die Kündigung befürchten.
Sie merken, das Gesetz hat also eine gewisse Herausforderung für den Juristen, dass wir sagen, "naja also, zahlen musst du, aber wenn du nicht zahlst, passiert nicht". Das ist so eine etwas eigenwillige Regelung. Auch das sollte natürlich nicht Schule machen für die Zeit nach der Krise.
Deutschlandfunk Kultur: Ja. Zugleich mutet der Gesetzgeber ja dadurch, dass er in das Vertragsrecht zwischen Vermieter und Mieter eingreift, den Parteien eine ganze Menge zu. Also, normalerweise ist ja Vertragsfreiheit in Deutschland, also fast grundrechtlich geschützt.
Schmidt: Ja. Das ist nicht "fast", sondern das ist grundrechtlich geschützt.
Deutschlandfunk Kultur: Ich wollte es nur vorsichtig sagen. Ich bin ja totaler Laie.
Schmidt: Ja, deswegen: Das ist Teil der allgemeinen grundrechtlich geschützten Verhandlungsfreiheit im Art. 2 Grundgesetz. Das ist in der Tat ein Punkt, der aber schon vor der Corona-Krise immer wieder kritisiert worden ist, dass die regulatorischen Ansätze im Zivilrecht noch deutlich zunehmen. Das ist möglicherweise sozialstaatsbedingt.
Im Mietrecht haben Sie es ja ganz stark. Sie haben im Mietrecht, zumindest im Wohnungsmietrecht, ja ganz starke sozialstaatliche Einschränkungen der Vertragsfreiheit, die ich persönlich auch für geboten und für richtig erachte. Das sehen manche anders oder vielleicht auch viele anders, aber das ist halt Juristerei. Sie kennen den Satz: "Zwei Juristen, drei Meinungen." Das ist auch hier so. Aber vom Grundansatz finde ich das richtig, gerade in so neuralgischen Gebieten. Hier ist es natürlich ganz stark.
Wenn ich sage, "der Schwarze Peter wird dem Vermieter insofern ein wenig zugespielt", hat man einen kleinen Trost dadurch, dass wir eine Regelung im Darlehensvertragsrecht haben. Bei Verbraucherdarlehen sind Kraft Gesetzes im § 3 dieses Art. 240 EGBGB die Darlehensraten in dem Zeitraum vom 1. April bis zum 30. Juni 2020 auch von Gesetzeswegen gestundet.
Das Problem ist natürlich, dass auch eine nicht gezahlte Miete oder eine gestundete Darlehensrate irgendwann zu zahlen sein wird. Das heißt, das kann dann durchaus, dass das dem Menschen nach Ablauf der Krise auf die Füße fällt. Aber im Moment mal ist insofern ein gewisser Stillstand eingetreten.
Diese Regelung im Mietrecht ist – ich habe das mal durch Nachfrage in unserer Praxis so ein bisschen verifiziert und durch Blick in Onlinedatenbanken – ich habe den Eindruck, dass das im Moment fast mehr ein Problem ist im gewerbemietrechtlichen Bereich als im wohnungsmietrechtlichen Bereich. Da könnte ich mir eher vorstellen, dass gerade im wohnungsmietrechtlichen Bereich, wenn Sie diese eher vertrauten Mietverhältnisse ansehen, die Leute da eine vernünftige Regelung suchen.
Man hat das ja teilweise auch im kleingewerblichen Bereich gesehen. Da wurde dann in den Medien – ich weiß nicht, wo es war, aber ich habe es in Erinnerung – berichtet, dass ein Vermieter freiwillig seinem kleinen Friseurladen die Miete erlassen hat. Das ist gar nicht Inhalt dieser Regelung im EGBGB. Da geht’s nicht um Erlass, sondern zunächst mal nur um Aussetzung sozusagen, Aussetzung der Nichtzahlungsfolgen.
Ich glaube schon, dass – derzeit jedenfalls – noch das Bestreben da ist, gerade in vertrauten Mietverhältnissen vernünftige Lösungen zu finden. Natürlich da, wo womöglich der Mieter, das ging ja auch durch die Medien, sich auf den Standpunkt stellt, "wir haben Corona und ich muss gar nix zahlen", dass dann die Vermieter vielleicht auch ein bisschen angefressen sind und sagen: "Na, das wollen wir doch mal genauer wissen."
Wenn die Wohnung zum Büro wird
Deutschlandfunk Kultur: Aber wenn Mietverhältnisse noch nicht vertraut sind, also, diese Corona-Situation bringt ja merkwürdige Blüten hervor, also praktische, ganz lebenspraktische Blüten. Zum Beispiel, ich möchte eine neue Wohnung mieten, habe meine alte gekündigt. Der Umzug ist geplant. Und dann teilt mir der zukünftige Vermieter mit: "Ich kann in die Wohnung nicht einziehen, weil die Leute, die drin wohnen, gerade in Quarantäne sind und nicht ausziehen können." – Gibt’s da eine rechtliche Betrachtung für so einen fast absurden Fall, der aber – ich wette – gar nicht so selten stattfindet?
Schmidt: Na ja, der Vermieter ist ja zunächst mal, wenn der Vertrag abgeschlossen ist, verpflichtet, dem Mieter die Wohnung zur Verfügung zu stellen.
Deutschlandfunk Kultur: "Pacta sunt servanda" würde ich als zukünftiger Mieter sagen. Verträge sind einzuhalten!
Schmidt: So. Verträge sind einzuhalten. Also, er hat deswegen sicherlich kein Kündigungsrecht. Ob Sie gegen ihn Schadenersatzansprüche geltend machen können, ist eher die Frage. Schadenersatz gibt’s grundsätzlich – von anfänglichen Mietmängeln abgesehen – nur bei Verschulden des Vermieters. Verschulden des Vermieters wird man hier nicht annehmen können. Das heißt, das kann also durchaus gut sein, dass der neue Mieter sich jetzt irgendwie eine Zwischenbliebe suchen muss für die Zeit bis zur Beendigung der Quarantäne.
Deutschlandfunk Kultur: Also besser nicht umziehen. - Viele der privaten Wohnungen werden ja im Moment zu etwas ganz anderem, nämlich zu Büros, weil das Home Officing flächendeckend um sich greift. – Beeinflusst so was die Rechtsbeziehung zwischen Vermieter und Mieter? Könnte der zum Beispiel sagen: "Lieber Freund, unser Internet, ich habe zwar einen tollen Vertrag mit der Firma XY, aber da kommt nichts durch die Dose. Ich brauche hier ein richtiges fettes Breitband-Internet."
Schmidt: Also, in der Tat, die Home-Office-Komponente strahlt ins Mietrecht aus. Ich glaube aber nicht, dass aus dieser Situation heraus oder generell der Mieter einen Anspruch gegen den Vermieter hat, dass der ihm, womöglich auch noch auf Kosten des Vermieters, da eine Breitbandleitung hinlegen lässt. Sondern allenfalls könnte der Mieter das Einverständnis des Vermieters verlangen, dass der Mieter das einrichten lässt. Aber weitergehende Ansprüche dürften da nicht gegeben sein.
Auf der anderen Seite ist allerdings, gerade in diesem Home-Office-Bereich, die Frage: Sie haben ja die Wohnung zu Wohnzwecken gemietet. Das ist etwas, was auch über die Corona-Krise hinaus ausstrahlt. Wie weit gehen denn die Wohnzwecke? Das ist teilweise schon vor Corona entschieden worden. Also, die berufliche Tätigkeit, die nach außen hin ausstrahlt, die also die anderen sozusagen – ich fasse es mal kurz zusammen – "merken", also, wenn Sie da umfassenden Publikumsverkehr haben, das können Sie ohne weiteres nicht Ihrer Wohnung tun.
Wenn Sie aber – das ist ja bei lehrenden Leuten oder auch möglicherweise bei Redakteuren auch nicht anders – zu Hause am Schreibtisch sitzen, dann arbeiten Sie da zwar, aber das hat der Vermieter hinzunehmen.
Die interessante Seite jetzt der Krise, wenn ich das mal so sagen darf, ist ja vielleicht der Ausbau der Betrachtung auf das Home-Office-Wesen. Das hat man ja immer so ein bisschen als exotisch angesehen. Und die Arbeitgeber hatten da – glaube ich – eher mehr Last als die Arbeitnehmer damit. Und jetzt sieht man: es funktioniert. Das könnte durchaus Schule machen und insofern als vielleicht ansatzweise positive Wirkung aus der Krise herausgehen, dass man das verfestigt. Dann wird das Mietrecht sicherlich irgendwann mal möglicherweise andere Antworten finden. Aber derzeit ist es wohl so, dass das zunächst einmal in der Verantwortung des Mieters liegt.
Deutschlandfunk Kultur: Ich glaube aber, dass das deutliche Auswirkungen auf einen ganz anderen Bereich hat, nämlich auf das Steuerrecht. Also, wenn Sie sich vorstellen, wie schwierig es ist, ein häusliches Arbeitszimmer anerkannt zu bekommen, das wird in diesem Jahr, denke ich, kein Problem mehr sein.
Schmidt: Das wollen wir hoffen, dass die Finanzverwaltung da mitgeht. Also, es gibt ja genügend jetzt schon Schreiben des BMF, was Erleichterungen im Steuerwesen anbelangt. Also: Herabsetzung der Vorauszahlung. Das geht dieses Jahr alles ganz problemlos, alles keine Frage. Und in der Tat, das häusliche Arbeitszimmer ist ja so ein bisschen der Ritt auf der Rasierklinge des Einkommenssteuerrechts. Sie haben da möglicherweise allerdings die Schwierigkeit, dass Sie schon kein häusliches Arbeitszimmer haben, sondern das im Wohnzimmer oder Esszimmer machen.
Deutschlandfunk Kultur: Das kommt noch dazu.
Schmidt: Dann wird’s natürlich mit der Absetzung, also den Esszimmertisch, die Prognose würde ich wagen, werden Sie nicht abgesetzt bekommen.
Die andere Frage ist: Wenn Sie für den Arbeitgeber einen tüchtigen Internetzugang haben müssen und Sie müssen sich den irgendwie beschaffen auf Ihre Kosten, da würde ich sagen, das muss als Werbungskostenabzug zugelassen sein.
Schulden: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben!
Deutschlandfunk Kultur: Sie haben eben schon innerhalb dieser ganzen Mietrechtsdebatte auch die Stundung von Krediten und so was ins Feld geführt. Da haben Sie gesagt: "Das wird wahrscheinlich den Verbrauchern dann auch irgendwann mal auf die Füße fallen." – Nun ist es ja in Deutschland so, dass rund sieben Millionen Erwachsene sowieso schon überschuldet sind, also vor Corona-Zeit. Und mittlerweile höre ich ganz oft Menschen, die sagen: "Ich steckt schon knietief im Dispo und lande in so einer Zinsfalle, weil ich immer versuche, mich mit Geld von der Bank aufrecht zu erhalten."
Was passiert denn eigentlich, wenn die Menschen nicht mehr zahlen können im Verhältnis von Kreditgeber und Schuldner? Denn, wie ich Sie verstanden habe, ist es auch da nur so, dass die Schulden aufgeschoben, aber nicht aufgehoben werden. Und wenn man das sich überlegt, könnte man ja auf die Idee kommen: Moment, Soloselbständige zum Beispiel bekommen Unterstützung, die wird zwar auch noch überprüft werden, aber erstmal ist das Geld, das da ist, das einfach ein Einkommen symbolisiert, während die Schuldner auf ihren Schulden sitzen bleiben, nur ein bisschen Zeit gewinnen.
Schmidt: Ja, das ist aber in der Tat so vorgesehen, dass sich die Darlehensverträge dann eben nach hinten verschieben, wenn keine Lösung gefunden wird. Man kann ja auch, das Gesetz lässt das zu, über Teilstundungen sprechen, dass sich das nicht so hoch aufbaut. Aber zunächst mal sind diese Darlehensverträge einzuhalten, wenn auch modifiziert einzuhalten. Aber die Modifikation geht jetzt nicht dahin, dass sozusagen die Banken staatlich verpflichtet werden, Zuschussleistungen zu erbringen. Also, das wird in die Länge gezogen, aber da gilt der Satz: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.
Und am langen Ende, ob das jetzt im Moment kurzfristig kommt oder irgendwann mal, wird man sich mit der Verbraucherinsolvenz zu beschäftigen haben. Wir haben in Deutschland ja eigentlich keine ausgeprägte Insolvenzkultur. Ob man das jetzt beklagen will oder nicht, ist die Frage. Es ist ja immer noch so ein bisschen so, dass die Insolvenz fast so ein bisschen ehrenrührig rüberkommt.
Deutschlandfunk Kultur: Persönliches Scheitern.
Schmidt: Ja. Das ist es aber nicht. Es ist eine wirtschaftliche Delle, in der man sich befindet, und möglicherweise auch eine Situation, in der im Moment kein anderer Ausweg da ist. Aber dieser Gedanke des persönlichen Scheiterns und des Versagens führt dann letztlich dazu, dass die Leute eigentlich sich über Jahre quälen, auch im unternehmerischen Bereich haben Sie das übrigens, obwohl dann eigentlich eine geregelte Insolvenz mit Sanierungsmöglichkeit das viel bessere Instrument wäre. Aber wenn der Karren richtig im Dreck steckt, wenn ich das mal so sagen darf, da kann auch der klügste Insolvenzverwalter nichts mehr tun, als nur noch zu zerschlagen. "Zerschlagen" jetzt bezogen auf die Unternehmensinsolvenz.
Vor dem Hintergrund sollten wir also durchaus da ein bisschen offener sein und sagen: "Da gab es halt einen wirtschaftlich nicht so erfolgreichen Abschnitt im Leben eines Menschen oder einer Unternehmung. Und die bereinigen wir jetzt. Und dann gibt’s eben neues Spiel, neues Glück – in Anführungszeichen." Ich will es nicht gar so flapsig sagen. Aber dann gibt’s eben neue Chancen, auch durch die Restschuldbefreiung, die wir dann da haben, dass da ein Schnitt gemacht wird und man wieder loslegen kann.
Digitale Willensbildung in Organisationen
Deutschlandfunk Kultur: Herr Schmidt, lassen Sie uns am Ende unseres Gesprächs nochmal einen ganz kurzen Seitenblick auch auf etwas lenken, was Sie schon angesprochen haben, nämlich die Strukturen von Genossenschaften, Vereinen. Greifen wir mal die Vereine raus. In Deutschland gibt es unzählige Vereine. Ich weiß gar nicht, in wie vielen ich eigentlich genau bin. Das reicht von den allein 88.000 Sportvereinen in Deutschland, und das ist nicht nur Werder Bremen, sondern auch Turbine Halle und sonst was, über die Kunstvereine bis hin auch zu den Elternvereinen, in dem ich übrigens auch Mitglied und auch im Vorstand bin. Da wird ein Hort betrieben, wo Schüler betreut werden. Also, man ist auch Arbeitgeber, hat auch eine wirtschaftliche Situation und eine arbeitsrechtliche Situation in Corona Zeiten zu bewältigen, aber eben auch eine zentrale Fragestellung. Also, wenn man so einen Verein anschaut, braucht es ja zwei Organe, den geschäftsführenden Vorstand und – in Anführungsstrichen – "die gesetzgebende" Mitgliederversammlung.
Jetzt ist aber Corona und Mitgliederversammlung nicht so einfach zu haben, es sei denn, man weicht auf das Internet oder das Telefon aus. Da stellen sich eine ganze Menge Fragen. Normalerweise geht man immer bei Mitgliederversammlungen davon aus, und das ist das zentrale Organ im Verein, dass es eine Präsenzveranstaltung ist, oder?
Schmidt: Ja, das hat sich so eingebürgert. Wenn man die Vorschriften des BGB zur Mitgliederversammlung liest, dann hat man auch so ein bisschen den Eindruck, dass der Gesetzgeber seinerzeit, also, wir sprechen vom letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, das so gedacht hat. Das wird wahrscheinlich auch so gewesen sein. Das ist aber überhaupt nicht zwingend.
Es gibt eine Vorschrift an einer ganz anderen Stelle des BGB, nämlich im Vertragsrecht. Da hat auch der Gesetzgeber von 1900 schon eine, das imponiert mir heute noch, dass der Gesetzgeber da in die Vorschrift reinschreibt, "eine mittels Fernsprecher abgegebene Erklärung gilt als Erklärung unter Anwesenden". Man hat damals gesagt: "Das Fernsprechwesen" … Ich glaube, damals war das Telefonbuch von Berlin ungefähr so dick wie heute eine mittlere Speisekarte eines gutbürgerlichen Lokals, das war also eher noch vereinzelt, aber man hat damals schon gesehen, "das wird wahnsinnig wichtig. Und müssen wir jetzt hier schon einen Pflock reinschreiben". Man hat ausdrücklich dieses Motiv hineingebracht und gesagt: "Also, wir würden das ja gern auch weitergehend regeln, aber das kriegen wir jetzt hier so nicht hin." Ich sage es ein bisschen vereinfacht. "Das überlassen wir Rechtsprechung und Literatur, also Rechtsprechung und Wissenschaft, wie die das dann hinbekommen."
Das kann man eigentlich fürs Vereinsrecht benutzen, indem man sagt: "Warum hängen wir so an der persönlichen Präsenz?" Ich bin nicht in einem Elternverein, das müsste eigentlich ein Großelternverein sein, aber ich bin Mitglied eines Karnevalsvereins. Das ist am Rhein sozusagen Pflicht. Und wir hatten immer, wenn Mitgliederversammlungen stattfinden, das Problem, dass genügend Leute kommen. Das liegt noch nicht mal unbedingt am Desinteresse, sondern auch an logistischen Punkten. Da sollte man schon die Chance nutzen und diese telekommunikativen Möglichkeiten anwenden, die eben – genau wie bei der persönlichen Anwesenheit – dieses Interaktive, so wie wir das jetzt machen, wir sehen uns nicht, wir sprühen uns wechselseitig keine Aerosole um die Ohren und in die Nase, aber wir reden miteinander. Wir können nachfragen. Das ist doch eigentlich das Entscheidende. Dann fehlt nachher das gemeinsame Bier, klar, aber für die Willensbildung ist das ja nicht so vordringlich.
Deutschlandfunk Kultur: Na, na, na!
Schmidt: Es kommt auf den Beschlussgegenstand an, nicht wahr? Der geht viel leichter durch. Also, da sehe ich eigentlich eine Chance, dass man das, auch dann die Willensbildung, schlicht auf eine breitere Basis stellt. Und wie man das dann macht, ob man die Leute sich telefonisch zuschalten lässt oder tatsächlich durch Audio-Konferenzen, Video-Konferenzen, wie auch immer, das ist dann eine zweite Sache. Aber die Chance sollten die Vereine jetzt wirklich nutzen, die das Covid-Maßnahmengesetz unabhängig von der Satzungsregelung vorsieht, dass eben Mitgliederversammlungen in vielfältiger Weise anders durchgeführt werden können als durch Präsenzveranstaltungen.
Was bleibt vom Corona-Recht?
Deutschlandfunk Kultur: Also, irgendwie hat man den Eindruck, dass auf der einen Seite man froh ist, wenn bestimmte gesetzliche Regelungen auch wieder zurückgedreht werden, also, natürlich die ganzen Lockerungsübungen, die dann wieder stattfinden werden. Auf der anderen Seite ist es aber auch interessant, dass im Recht vielleicht auch etwas bleiben könnte.
Also, ich hatte am Anfang der Pandemie eine kleine juristische Angelegenheit. Ich musste etwas beurkunden. Und der Notar ist in einer anderen Stadt. Jetzt konnte ich das nicht dort beurkunden, weil ich nicht hinreisen durfte. Und er konnte aber es nicht anders beurkunden, als zu sagen: "Ich schicke dir den ganzen Schriftsatz. Such dir einen in Berlin und mache es da."
Mittlerweile habe ich wieder was zu beurkunden. Und jetzt geht es plötzlich, weil die Notare dort sich gegenseitig (in Vertretung von mir) beurkunden und ich muss nur noch unterschreiben. Also, das ist total interessant. Das wäre natürlich auch insgesamt eine Erleichterung.
Haben Sie denn den Eindruck, dass vieles von dem, was jetzt etabliert wird, also, wir haben übers Home Officing gesprochen, übers Mietrecht, dass da bestimmte Sachen auch im Rechtssystem langfristig erhalten bleiben?
Schmidt: Das kann ich mir vorstellen. Ich würde es mir in Teilen wünschen. Also, einmal diese Öffnung im Verbandsrecht insgesamt, diese Öffnung hin zu den virtuellen Veranstaltungen, die einfach auch ein höheres Maß an demokratischer Legitimation nach sich ziehen. Sie haben zu Recht gesagt, die Mitgliederversammlung ist das "Parlament" – in Anführungszeichen – der Verbände. Und was machen Sie, wenn Sie in einem Parlament eine Präsenz von zehn Prozent haben? Das wirkt ja doch nicht sehr überzeugend. Also, das wünschen und das kann ich mir vorstellen.
Im Aktienrecht haben wir das ja ohnedies schon geregelt durch europarechtliche Vorgaben, aber in den anderen Verbänden würde ich es mir wünschen und könnte es mir vorstellen, dass es kommt.
Beim Home-Office glaube ich ganz bestimmt, dass dadurch eine Lanze gebrochen wird für diese viele Menschen entlastenden Regelungen. Also, Sie haben eine Verkehrsentlastung. Sie müssen morgens nicht eine Stunde reinfahren und eine Stunde rausfahren. Das ist unter Umständen tote Zeit. Das kann man besser gestalten. Das soll jetzt nicht heißen, dass wir nur noch von Zuhause aus arbeiten und diesen sozialen Kontakt gar nicht mehr haben. Die Unternehmen brauchen das. Aber die Unternehmen – und jetzt kann ich auch aus der Sicht des Anwaltsunternehmers mal reden, wir sehen das in der Praxis. Wir haben nicht Stillstand der Rechtspflege, obwohl wir uns jetzt nicht mehr täglich sehen, sondern das läuft. Und das läuft halt durch die technischen Möglichkeiten gar nicht schlecht.
Also, Home-Office, glaube ich, wird bleiben – mit allen Fragen, die sich darum stellen. Die virtuellen Verbände werden bleiben. Bei diesen konkreten Notlagenregelungen, also, über Stundung, Moratorien, Aussetzung der Kündigungsmöglichkeit, das wird und das kann auch nicht bleiben.