Coronabedingte Stadtflucht

Himmlische Ruhe statt geisterhafter Stille

07:31 Minuten
Der Plauer See in Mecklenburg in der Dämmerung.
Corona macht's möglich: Viele Städter verwirklichen jetzt ihren Traum vom Leben auf dem Land. © Deutschlandradio / Nadja Mitzkat
Von Nadja Mitzkat · 15.02.2021
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Geschlossene Restaurants, kein Theater, keine Arbeit im Büro: Viele Gründe, in der Stadt zu wohnen, sind im Lockdown hinfällig geworden. Und so zieht es derzeit viele Großstädter aufs Land. Möglichst nah an der Stadt soll es für viele dennoch sein.
"Hier stand der Kran und von früh bis abends war wirklich teilweise ohrenbetäubender Baulärm", sagt Petra Hirschmann. "Wir konnten unseren Balkon nicht nutzen, und da war immer Baudreck. Es war wirklich manchmal unerträglich."
Die 57-Jährige lebt mitten im Stadtzentrum von Landshut, umgeben von vielen Häusern. Seit März wurde ihr Nachbarhaus von Grund auf saniert. Hirschmann ist erst vor drei Jahren mit ihrem Mann aus einem kleinen thüringischen Dorf in die bayerische Stadt Landshut gezogen.
Seit 30 Jahren wachsen die Städte. Vor allem der Sog der Metropolen ist in den letzten Jahren immer stärker geworden. Mittlerweile leben 30 Prozent der Deutschen in Großstädten – und nur noch 15 Prozent in Dörfern mit weniger als 5000 Einwohnern. Die Landflucht stellte Politiker jahrelang vor große Herausforderungen.
"Landshut ist ja eine sehr lebhafte Stadt – gewesen. Wir konnten hier jedes Wochenende irgendwo hingehen. Es war immer was los. Alle Restaurants waren hier immer voll. Es war ganz viel Leben."
Doch wegen Corona stehen die Städte nun still. Draußen ist nichts mehr los und drinnen, in den teuren Wohnungen, wird es eng.
"Das ist schon ein bisschen schwierig gewesen. Man hat keine Rückzugsmöglichkeit. Da war es dann so, dass wir gesagt haben, so wollen wir nicht weiterleben. Stadtwohnungen für immer, das ist nichts für uns."
Petra Hirschmann fühlt sich eingesperrt und will nur noch weg – aufs Land ziehen.

Aus Landflucht wird Stadtflucht

So wie ihr geht es vielen, erzählt Bedrana Kowalke.
Die 45-jährige Immobilienmaklerin wohnt umgeben von Ziegen, Hühnern und Ponys in einem 100-Seelen-Dorf zwischen Brandenburg und Mecklenburg. Kowalkes Kunden träumen vom Bauernhaus mit Backstein, mitten in der Natur. Ein Traum von großer Nachfrage: Seit dem ersten Lockdown hat sich ihr Arbeitspensum vervierfacht.
"Ich glaube, da haben die Leute auch einen kleinen Kollaps zu Hause bekommen. Homeoffice, Homeschooling, Kinder zu Hause, relativ kleine Wohnungen. Da kam dann die Sehnsucht schon auf: Mensch, vielleicht wär es ganz schön, wenn wir ein Häuschen auf dem Land hätten."
Statt 15 erreichen Kowalke nun jeden Tag 60 Anfragen von Interessierten. Ein deutschlandweiter Trend: Das Portal ImmoScout24 stellt seit Mitte März eine stärkere Nachfrage nach Häusern auf dem Land fest.

Auch eine Frage des Geldes

Doch nicht jeder, der oder die umzieht, tut das freiwillig.
"Ich hätte mir nie vorstellen können, auf dem Dorf zu wohnen. Ich nutze die Stadt oder habe die Stadt immer total genutzt und auch geliebt. Ich bin eigentlich, finde ich, ein Stadtmensch", sagt der Musiker Stefan Streck. Der 44-Jährige lebt seit zwölf Jahren in Leipzig. Unter seinem Künstlernamen "The Mirconaut" hat er letztes Jahr sein aktuelles Album veröffentlicht.
Does a full account really matter? Kommt es wirklich auf ein gut gefülltes Konto an? Als Streck diese Zeile schrieb, ahnte er nicht, dass er sich bald selbst diese Frage stellen würde. Eineinhalb Jahre lang investiert er all seine Zeit und auch den Großteil seines Geldes in sein neues Album. Doch dann kommt Corona:
"Da ist innerhalb von zwei Wochen natürlich mein Konstrukt, was ich mir zusammengebaut habe, zusammengebrochen."
Streck wäre eigentlich auf Tour gegangen. Fast 30 Auftritte fielen wegen der Pandemie aus. Auch seinen Nebenjob als Veranstaltungstechniker kann er nicht mehr ausüben.
Ein Paar steht vor vor einem alten Bauernhaus.
Nach zwölf Jahren in Leipzig sind Stefan Streck und seine Frau in das 15 Kilometer entfernte Dorf Kösle gezogen.© Deutschlandradio / Nadja Mitzkat
Die Kulturszene gilt dabei als der größte Verlierer der Coronakrise. Denn während die Gewinne im Tourismus im Jahr 2020 europaweit um 27 Prozent zurückgegangen sind, waren es laut einer französischen Studie in der Kulturszene sogar 31 Prozent. So viel hat kein anderer Wirtschaftszweig verloren.
"Und dann haben wir ziemlich schnell festgestellt, wir können die Miete nicht mehr zahlen", sagt Stefan. "Weil bei mir ja gar kein Geld mehr geflossen ist, null. Wir haben einfach gemerkt, das ist zu teuer. Wir kriegen das nicht hin."
Die Strecks sind nicht die einzigen, die vor den hohen Immobilienpreisen in den Städten flüchten. Eine Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft im Auftrag der Sparda-Banken zeigt: Bereits seit 2014 ziehen mehr Menschen raus ins Umland als andersherum rein in die Innenstädte. Es sind vor allem Menschen zwischen 35 und 50 Jahren, die Städte verlassen. Und der Radius, in dem sie suchen, wird durch den Zuwachs an Homeoffice immer größer, berichtet auch Immobilienmaklerin Kowalke. Ihre Kundinnen und Kunden kommen größtenteils aus dem zwei Autostunden entfernten Berlin:
"Das hat aber auch einfach mit der Preisentwicklung zu tun", erklärt sie. "Alles, was um Berlin herum ist und nur eine Stunde entfernt, ist natürlich sehr, sehr teuer."

Von 96 auf 160 Quadratmeter – für 300 Euro weniger

Der Musiker Streck ist mit seiner Frau nach Kölsa gezogen, einem Zweihundert-Menschen-Dorf nördlich von Leipzig. Statt auf 96 wohnen sie jetzt auf 160 Quadratmetern. Statt drei haben sie nun acht Zimmer. Dafür ist die Miete jetzt fast 300 Euro günstiger.
Der Haken? Als Streck und seine Frau Ende August in das Haus ziehen, ist nur das Schlafzimmer bewohnbar.
"Der Rest war noch, ich will jetzt nicht sagen Ruine, aber… Man konnte duschen und auf Toilette gehen, aber Waschbecken oder Küche? Da war hier nichts."
Während seine Frau arbeitet, setzt Streck nach und nach jedes der acht Zimmer instand. Der gelernte Tischler tapeziert Wände und Decken, reißt alle Fußböden heraus, verlegt neue Elektrik.

"Ein dolles Gefühl von Freiheit"

Und so erlebt der 44-jährige Musiker das, was aus einem Zwang heraus begann, mittlerweile als großes Glück:
"Ich kann hier nachts um zwei Schlagzeug spielen, wenn mir so ist. Ich störe hier niemanden. Das ist ein dolles Gefühl von Freiheit. Das hat man in einer Stadtwohnung nicht."
Aber ganz auf die Stadt verzichten? Das käme für Streck bei aller Natur- und Freiheitsliebe doch nicht in Frage. Gut 20 Minuten braucht Streck, um mit dem Auto nach Leipzig zu kommen. Was wäre, wenn Kösla nicht 15 Kilometer, sondern 40 Kilometer entfernt liegen würde? Dann, sagt er, wäre er nicht rausgezogen. Egal, wie schön das Leben auf dem Land auch sein mag.
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