Auf dünnem Eis
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Offiziell ist es kein Lockdown. Doch Bürgerinnen und Bürger müssen sich coronabedingt ab Anfang November auf deutliche Beschränkungen ihrer Freiheitsrechte einstellen. Der Verfassungsrechtler Volker Boehme-Neßler hält das für bedenklich.
Mit deutlichen Einschränkungen des öffentlichen Lebens will die Bundesregierung die rasant steigenden Corona-Infektionszahlen unter Kontrolle bringen. Die Bürger sollen im November ihre privaten Kontakte auf ein "absolut nötiges Minimum" reduzieren.
Bund und Länder beschlossen nun in Berlin ein Paket mit Maßnahmen, die denen im Frühjahr ähneln. Gastronomie, Kultur- und Freizeiteinrichtungen müssen schließen.
Es sei "ein schwerer Tag", weil alle wüssten, "was wir den Menschen zumuten", sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die neuen Regelungen gelten schon ab dem 2. November, zunächst vier Wochen. Schulen und Kindertagesstätten sowie der Einzelhandel sollen geöffnet bleiben.
Die Frage der Verhältnismäßigkeit
Ist eine Schließung von Theatern und Restaurants, ein Verbot von kleinen Privatfeiern mit bestehendem Recht überhaupt vereinbar? Die Regierung bewegt sich nach Ansicht des Rechtswissenschaftlers Volker Boehme-Neßler damit auf dünnem Eis.
Denn immer wieder gehe es bei der Einschränkung von Freiheitsrechten auch um die Frage der Verhältnismäßigkeit, sagt er. So könnten etwa Theater oder Restaurants mit konsequent praktizierten Hygienekonzepten zu Recht darauf pochen, dass ihnen ein hohes Ansteckungsrisiko erst einmal nachgewiesen werden muss.
Auf dem Weg zur Klagewelle
"Ich rechne mit einer Klagewelle", sagt Boehme-Neßler. Und der Rechtsweg habe durchaus Aussicht auf Erfolg. Wenn ein Theater klage, gelte das Urteil zwar nur für dieses eine Haus. Doch sei davon auszugehen, dass dann viele andere folgten.
Der Maßstab für alle geplanten Einschränkungen sei die Verfassung. Die Rechte, die jedem einzelnen Bürger zustehen – etwa sich frei zu bewegen und die Freiheit der eigenen Wohnung - dürften nur in absoluten Not- und Ausnahmefällen eingeschränkt werden, betont der Verfassungsrechtler. Dass Politiker wie etwa der Gesundheitsexperte der SPD, Karl Lauterbach, sich aktuell auf eine Gesundheitsnotlage beriefen, sei nicht so einfach hinnehmbar, meint Boehme-Neßler:
Keine nationale Gesundheitsnotlage in der Verfassung
"Es gibt nirgendwo in der Verfassung den Begriff der nationalen Gesundheitsnotlage. Es gibt den Notstand, der ausgerufen werden kann. Der gilt aber nur im Kriegsfall und der gilt im absoluten Katastrophenfall im Inneren. Der ist übrigens in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie ausgerufen worden."
Wenn es tatsächlich einen Notstand gebe, könnten bestimmte Grundrechte vielleicht außer Kraft gesetzt werden, erläutert der Rechtswissenschaftler. "Doch den haben wir nicht. Die Verfassung kennt den Notstand aus gesundheitlichen Gründen, aus Pandemiegründen nicht." Man müsse demzufolge bei den normalen Regeln bleiben.
In der aktuellen Situation müsse genau geprüft werden, wie weit die Regierung die Bewegungsfreiheit der Bürger einschränken dürfe - oder ob sie mit den geplanten Maßnahmen bereits "mit Kanonen auf Spatzen schießt". Dies sei dann verfassungswidrig.
(mkn)