Der Kiez kämpft ums Überleben
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Auf St. Pauli geht es in der Coronakrise um mehr als "Ausgehkultur". Es geht um ein Lebensgefühl, das oft totgesagt wurde, aber immer noch lebt. In dem Kiez demonstrierte unter anderem Dragqueen Olivia Jones − dem Gewerbe fehlt die Lobby.
Nicht nur in Deutschland, fast in der ganzen Welt sind Freizeitaktivitäten, die vergnügungssteuerpflichtig sind, derzeit abgesagt. An kaum einem Ort zeigt sich das so deutlich wie in Hamburg St. Pauli, auf dem "Kiez" rund um die Reeperbahn. Hier kann man sich sonst 24 Stunden am Tag betrinken, Tanzen und andere Dinge tun, für die die "sündige Meile" weltbekannt ist.
Derzeit ist es hier aber so still wie in Pinneberg, der kleinen Nachbarstadt, auf die Hamburger sonst etwas verächtlich herabschauen. Manche auf St. Pauli befürchten, dass das Leben auch nicht mehr so richtig zurückkehren wird, wenn die Lokale weiter geschlossen bleiben und der Staat nicht deutlich nachhilft.
200 Lokalbetreiber aus Hamburg und darüber hinaus haben sich zu einem Aktionsbündnis zusammengeschlossen. Auf dem Beatles-Platz zwischen Reeperbahn und Großer Freiheit kamen sie zusammen, um zu demonstrieren.
Demonstration soll ein Zeichen setzen
Es herrscht Gedränge rund um den Beatles-Platz, Abstand höchstens 50 Zentimeter. Auf dem Platz selbst haben sich 25 Betreiberinnen und Betreiber von Lokalen, Stripclubs, Diskotheken versammelt. Sie halten große Todesanzeigen ihrer Läden hoch, einige der großen Namen von St. Pauli sind darauf zu lesen: Silbersack, Große Freiheit 36, Elbschlosskeller, um nur einige zu nennen.
Angeführt wird diese Mahnwache von Olivia Jones, der gefühlt zwei Meter fünfzig großen Dragqueen mit den hochtoupierten Haaren und dem grellbunten Make-up. Sie sagt in ihrer Ansprache: "Wir haben uns hier versammelt, um ein Zeichen zu setzen."
Vor Olivia Jones, in der Mitte des runden Platzes, der einen Schallplattenteller darstellen soll, liegt eine Discokugel in tausend Scherben. Dann legen auch noch die beiden Pfarrer der Kiez-Gemeinden, Sieghard Wilm von der evangelischen St.-Pauli-Kirche und Karl Schultz von der katholischen Kirche St. Joseph, einen großen Kranz mit weißen Rosen nieder. "Deswegen stehen wir hier im stillen Gedenken an unsere Bars und Kneipen, hier im Herzen von St. Pauli." Es ertönt Applaus.
Der Kiez trägt Trauer
Der Kiez trägt an diesem Abend Trauer und betrauert sich selbst. Die berühmte Vielfalt von St. Pauli, die aus großen Diskotheken, aber auch aus vielen kleinen Clubs, Kneipen, Stripbars, Imbissen besteht, sie fällt in Coronazeiten durch jedes Raster, wie OIivia Jones beklagt:
"Das Problem ist, dass wir keine Lobby haben, weil wir von der Politik vergessen werden. Es geht im Moment vor allem um Restaurants und Hotels. Aber Clubs, Bars und Kneipen werden überhaupt nicht thematisiert. Deshalb müssen wir auf uns aufmerksam machen, weil wir überhaupt keine Lobby haben."
Auch wenn das längst zum Klischee geronnen ist: Auf St. Pauli geht es um mehr als um die sogenannte Ausgehkultur. Es geht um ein Lebensgefühl, das schon oft totgesagt wurde, aber immer noch lebt. Und dass es möglich macht, dass hier der Obdachlose neben dem Manager am Tresen sitzt und beide sich wohlfühlen.
Auch die Pfarrer unterstützen
Das beschwört auch Pfarrer Schultz, der sich zu einem gewagten Vergleich mit seiner Kirche hinreißen lässt: "Wir sind in dieser Straße, der Großen Freiheit, der älteste Club", sagt er. "Was hier stattfindet, ist nicht nur eine permanente Abfeierei, sondern das ist auch eine Haltung. Ich spüre das gerade als katholischer Geistlicher. Dass wir uns hier mit Respekt, mit Toleranz begegnen, dass wir acht aufeinander geben. Ich will das nicht glorifizieren, es gibt hier auch viel Schatten."
Viele Größen des Kiezlebens sind an diesem Abend gekommen, auch Susi Ritsch, die seit mehr als 40 Jahren den Stripclub "Susi’s Show Bar" betreibt: "St. Pauli wird sich verändern", fürchtet er. "Und es wird ein großes Sterben geben."
Einer, der den Kiez so gut kennt wie kaum jemand sonst, ist Günter Zint. Der Fotograf hat in den 60er-Jahren bei dem 1981 eingestellten Männermagazin "St. Pauli Nachrichten" gearbeitet. Er hat sich hier mit den Beatles angefreundet, die großen Namen des Showgeschäfts und der Halbwelt fotografiert, und betreibt heute das St.-Pauli-Museum.
Hoffen auf einen Herbst ohne Corona
Er sieht das Ganze etwas gelassener: "Momentan haben wir tatsächlich auch Ausnahmezustand", sagt er. "Das habe ich noch nie erlebt und hätte auch nie gedacht, dass sowas hier mal stattfindet." Aber das diene auch der Entschleunigung. "Der Tanz ums Goldene Kalb geht etwas langsamer." Er sei sich sicher, dass sich die Leute im Herbst kaum noch dran erinnern würden. Deshalb wolle er in seinem Museum im Herbst eine Ausstellung organisieren, die sich dem Rückblick auf die Coronazeit widmen solle.
Kein Zweifel, es ist Ausnahmezustand. Es passieren Dinge, die man so noch nicht erlebt hat auf dem Kiez. Wie ein katholischer Pfarrer, der öffentlich ein Gebet für den Erhalt des Sündenpfuhls spricht:
"Herr, unser Gott, Schöpfer der Welt. Deine Schöpfung ist bunt, nicht schwarz-weiß. Vielfältig, wie der Kiez. Jedes Theater, jeder Club, jede Kneipe, jede Disco haben ihr Recht, ihre Berechtigung. Erwecke den Kiez aus seinem erzwungenen Dornröschenschlaf. Hauche uns wieder Leben und Freude, Lebensfreude ein, die hörbar, die sichtbar, die erlebbar ist. Schenke uns Leben. Leben in Fülle. Amen."