Coronakrise

Die Pandemie und der Verlust des Politischen

04:30 Minuten
Ein Mediziner arbeitet an einem Laptop, daneben liegen Ausdrucke von Statistiken.
Mediziner vor einem Laptop: Ulrike Guérot sieht die Gefahr, dass wir uns durch Corona zu einer Gesellschaft entwickeln, in der es nur noch um das "nackte Leben" geht. © picture alliance / Zoonar / Milos Drndarevic
Beobachtungen von Ulrike Guérot |
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Das Virus hat die Politik infiziert: Diese sieche nur mehr vor sich hin, kritisiert Ulrike Guérot angesichts hitziger Corona-Debatten. Die Regression des Politischen auf die Garantie der Gesundheit hält die Politologin für einen Zivilisationsverlust.
Nach antik-römischem Brauch erwirbt der Vater erst im Augenblick, da er sein Kind nach der Geburt vom Boden aufhebt, souveräne Macht über das Kind. Er gibt dem Kind ein zweites Leben, indem er es anerkennt und darauf verzichtet, es auszusetzen. Das bloße Leben des Kindes wird so einer Instanz unterworfen, die dieses Leben insofern gibt, als sie es auch hätte nehmen können.
Diese Aufnahme ist der Akt des Politischen, insofern sie die Zugehörigkeit des Säuglings zu einer Gemeinschaft bedeutet, ein Dasein, das über das bloße Leben hinausgeht. Diese Schnittstelle zwischen dem bloßen Leben und einer politischen Zugehörigkeit, zwischen menschlichem und bürgerlichem Dasein, zwischen dem privaten "Oikos" und der öffentlichen "Polis" ist der Urgegenstand der politischen Theorie.

Das "nackte Leben" ist präpolitisch

Wo das Haus zum Gegenstand der Politik gemacht wird, ist die Politik übergriffig, denn die Sorge um das einzelne Leben ist keine öffentliche Aufgabe.
Die Gefahr ist, dass wir uns durch Corona zu einer Gesellschaft entwickeln, in der es nur noch um dieses bloße oder "nackte Leben" geht, wie es bei Giorgio Agamben im "Homo Sacer" heißt. Das nackte Leben aber ist präpolitisch. Es zeichnet sich gerade durch die Abwesenheit von Politik aus.
Politisch ist grundsätzlich das Inter-Esse, das Dazwischen-Sein. Ohne Versammlung, ohne Kunst, Tanz, Gesang, ohne Menge und Masse kann es auf Dauer kein politisches Inter-Esse geben. Sondern lediglich die Sorge um sich selbst, die eigene Ansteckung, die Impfdosis oder das Intensivbett.
Nur in einem präpolitischen Leben macht es Sinn, den Anspruch zu formulieren, geschützt werden zu müssen, gar ein Anrecht darauf zu haben, nicht angesteckt zu werden. Salman Rushdies berühmter Satz, "Niemand hat das Recht, nicht beleidigt zu werden", gehört mithin erweitert: "Niemand hat ein Recht, nicht angesteckt zu werden."
Denn für einen souveränen Bürger, der sich durch das Inter-Esse definiert und der nicht auf sein Haus - und mithin seine Gesundheit - beschränkt bleibt, kann es so einen Schutzanspruch, gar ein Anrecht gar nicht geben.

"Ich verzeihe der Politik sehr vieles"

Wir werden einander viel verzeihen müssen. Ich verzeihe der Politik – im Gegensatz zu vielen erregten Stimmen in der Coronakrise - sehr vieles. Ich verzeihe, in einer unübersichtlichen Situation nicht immer den Überblick gehabt zu haben. Unter dem Druck der Öffentlichkeit unplausible Regelungen verabschiedet zu haben.
Ich verzeihe Testwirrwarr und sogar das sogenannte "Impfdebakel", weil ich eh nicht verstehe, wieso ausgerechnet die Politik für die Wirksamkeit von Impfstoffen oder ihre schleppende industrielle Produktion verantwortlich zeichnen sollte. Von all diesen Vorwürfen würde ich unsere Politiker*innen gerne entbinden.
Nicht aber davon, für ein Virus das Politische schlechthin zu verspielen. Die Regression des Politischen auf die Garantie der Gesundheit und die Messung der politischen Verfasstheit einer Gesellschaft in epidemiologischen Richtwerten ist buchstäblich Zivilisationsverlust. Denn es reduziert das bürgerliche Dasein auf das Menschsein, auf die nackte Kreatur. Diese aber ist kein politischer Begriff.

Vorboten einer buchstäblich tierischen Sprache

Zentraler Elemente des bürgerlichen Lebens beraubt, bildet der Mensch ein Begriffspaar mit dem Tier. Und genauso sprechen wir bereits von uns selbst: "Herdenimmunität", "Durchseuchung" oder "Durchimpfung" sind Vorboten einer buchstäblich tierischen Sprache, die mit der Souveränität mündiger Bürger nur noch wenig zu tun hat.
Es ist höchste Zeit, nach einem Jahr Lockdown wieder über die politischen Ziele einer lebendigen Zivilisation in Europa nachzudenken, die über R-Werte, Maskenpflicht und Impfpassdiskussionen zur Wiederbelebung des Tourismus hinausgehen.

Ulrike Guérot ist Leiterin des Departments für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems und Gründerin des European Democracy Labs in Berlin. Zuvor arbeitete sie in europäischen Think Tanks und Universitäten in Paris, Brüssel, London, Washington und Berlin. Im Herbst 2019 wurde sie mit dem Paul-Watzlawick-Ehrenring sowie dem Salzburger Landespreis für Zukunftsforschung ausgezeichnet. 2020 erschien ihre neustes Buch "Nichts wird so bleiben wie es war?" (Molden).

© Imago/ Metodi Popow
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