Coronakrise im Erzgebirgskreis

Die Angst vor der dritten Welle

08:23 Minuten
Blick auf einen Ort an der deutsch-tschechischen Grenze. Am Straßenrand ein blaues Schild mit den Sternen der EU und der Aufschrift "Ceská Republika"-
Corona-Hotspot Erzgebirge: Im deutsch-tschechischen Grenzgebiet sind die Infektionszahlen nach wie vor hoch. © imago images / Andre März
Von Sibylle Kölmel · 16.03.2021
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Mit Schrecken erinnern sich Ärzte und Krankenschwestern aus dem Erzgebirge an die zweite Coronawelle. Als sich bei den Ärzten die Totenscheine stapelten und das Pflegepersonal am Ende war. Und das Virus ist schon wieder auf dem Vormarsch.
Noch auf der Autobahn von Leipzig nach Chemnitz zieht sich der Himmel immer weiter zu und es wird diesig. Tief im Erzgebirge, kurz vor Aue, ist der Nebel so dicht, dass kein Blick in die Weite der Landschaft mehr möglich ist. Dann, gut zehn Kilometer von der tschechischen Grenze entfernt, die Kliniken Erlabrunn. An einem Hang – und heute auch im Nebel. Das monumentale Krankenhaus, einst für Bergarbeiter zu DDR-Zeiten erbaut, hat außen ein Banner angebracht: "DANKE an unsere Mitarbeiter". Parken, Schnelltest, Begrüßung. Dajana Prüter arbeitet hier seit 2007 als Krankenschwester und war Covid-Teamleiterin. Die erste Welle, sagt sie, war Neuland und Anspannung und verlief eher moderat:
"Wir sind Tag für Tag an Patienten und unseren Abläufen gewachsen. Wir mussten uns halt einrichten. Die erste Welle war hauptsächlich Angst vor dem, was kommt. Man konnte wirklich am Anfang sagen, zweifelt man Corona an oder zweifelt man Corona nicht an. Es gab auch keinen Toten in der ersten Welle. Die erste Welle war für uns mehr Angst."
Mit der zweiten Welle, die im vergangenen Herbst einsetzte, änderte sich die Lage dramatisch:
"Also ich muss sagen, die zweite Welle hat uns so überrollt, dass dann keiner mehr wirklich in sich reinhören konnte. Es gab jeden Tag neue Widrigkeiten, ein neues Protokoll, ein neues Problem, neue Verlegungen von externen Stationen, die sich angesteckt haben, die Patienten auf Geriatrie oder Orthopädie oder wie auch immer. Wir haben funktioniert. Wir haben einfach funktioniert."
Matthias Baldauf ist Facharzt für Innere Medizin und hat in Erlabrunn viele Corona-Patienten versorgt. Eine Arbeit, die ihm persönlich sehr nahegegangen ist:
"Zeitweise war es einfach so: Intensivstation voll und keine Beatmungsplätze. Klar hat man versucht. Patienten zu verlegen, zu koordinieren. Aber das ist gar nicht so einfach gewesen. Am Ende hat man teilweise schon das Gefühl gehabt, man ist auf sich gestellt und man muss hier zurechtkommen. Und diese Angst: Ich kann jemandem eine Therapie nicht zuführen, die er gern hätte, das hat mich schon sehr belastet."

"Das war so unbeherrschbar"

Schlaganfall, Blinddarm, Herzinfarkt, Knochenbrüche – alles, was akut ist, behandelten die Ärzte weiter. Operationen, die nicht dringend waren, wurden verschoben. Das Krankenhaus Erlabrunn stellte ab November auf eine reine Notfallversorgung um. Dadurch konnten OP-Säle geschlossen und Fachkräfte von dort und aus anderen Bereichen auf die Corona-Stationen verteilt werden. Im Dezember halfen zusätzlich noch Soldaten von der Bundeswehr mit.
Die Arbeit hat einen nicht losgelassen, sagt die Krankenschwester Dajana Prüter. Zu Hause habe sie sich oft erinnert, an die Patienten und die so unterschiedlichen Krankheitsverläufe:
"Diese Covid-Patienten, das war ein Wimpernschlag und denen ging es schlechter. Das war so unbeherrschbar. Hinter jedem Zimmer bot sich ein anderer Verlauf. Es gab Patienten, mit denen hast du mittags noch gescherzt, die dann abends völlig verfallen sind, eine schlechte Sättigung hatten, den nächsten Tag auf Intensiv verlegt werden mussten."

Angehörige durften sich von den Sterbenden verabschieden

Oft kamen Patienten, deren Angehörige auch infiziert und im Krankenhaus waren. Der Arzt Matthias Baldauf erzählt von einem Mann, dem es nach einer Corona-Infektion besser ging – und dessen Mutter dann im Sterben lag:
"Der Patient ist dann nach Hause gegangen, ist vorher nochmal zur Mutti und war sich da aber schon sicher, dass sie das nicht überlebt. Und das sind dann Schicksale, wo man das hautnah miterlebt, dass zu dem einzelnen Patienten noch ganz viel drum herum ist, auch Angehörige, die das beschäftigt."
Oft konnten Angehörige sich verabschieden, sagt Dajana Prüter. Trotz der großen Anspannung.
"Bei dem einen oder anderen Patienten haben wir die Angehörigen zu ihm gelassen. Wir haben gesagt: was soll jetzt hier passieren. Die Ehefrau, die 50 oder 60 Jahre mit ihrem Mann verheiratet ist, oder Enkeltöchter, die ihre Oma die letzten Tage begleitet haben. Das Menschliche haben wir nicht aus dem Blick verloren, das muss ich sagen."

Beim Bestatter häuften sich die Todesfälle

In Annaberg-Buchholz, eine Dreiviertelstunde Autofahrt entfernt, arbeitet Jochen Knauer seit 24 Jahren als Bestatter. In einem Jugendstil-Haus oben auf dem Berg sind seine Büroräume. Auf dem Tisch liegen Prospekte – und ein kleines Fläschchen mit Desinfektionsmittel. Jochen Knauer hat vor Corona schon vieles gesehen. Im letzten Winter, sagt er, habe ihn diese plötzliche Explosion der Sterbefallzahlen dann trotzdem sehr betroffen gemacht:
"Es war zum Teil so: Die einen Angehörigen haben den Raum verlassen, wir sind hier durchgewischt, da standen die Nächsten schon wieder in der Tür mit einer ähnlichen Geschichte. So ging das Tag für Tag, Woche für Woche, ohne dass man sich so intensiv um die einzelnen Angehörigen kümmern konnte, wie man das im Normalfall macht."

Anett Röthig arbeitet als Krankenschwester im Erzgebirgsklinikum in Annaberg-Buchholz. Als Ende des vergangenen Jahres die Infektionszahlen stiegen und sich die Covid-Stationen füllten, herrschte Ausnahmezustand, sagt sie:
Am Zaun vor einem großen Klinikgebäude hängt ein großes Transparent mit der Aufschrift "Danke an unsere Mitarbeiter".
Neben Dankbarkeit hat die Krankenschwester Annett Röthig auch Berührungsängste ihr gegenüber erlebt.© imago images / Andre März
"Wir hatten alle so ein furchtbares Bedürfnis nach frischer Luft nach dem Dienst. Du rennst da wirklich acht, neun Stunden im Vollschutz die ganze Zeit immer mit dieser FFP2-Maske rum und das schlaucht. Du hast ja auch gar nicht den Blick nach draußen – ist heute schönes Wetter, regnet es – und wenn du rauskommst, hast du das Gefühl, du musst dir die Maske runterziehen und erstmal Luft holen."

Auf dem Schreibtisch stapelten sich die Totenscheine

Anett Röthig und ihr Team bekommen für ihre Arbeit viel Anerkennung in den Medien, im eigenen Haus. An Weihnachten bringen auch Nicht-Betroffene Geschenke vorbei, als Dank.
"In dieser akuten Zeit habe ich mich mit einer Freundin getroffen, um spazieren zu gehen. Da rief ihre Mutti an und dann hat sie gesagt: ‚Ja ich bin gerade mit der Anett unterwegs.‘ - 'Waaaas? Bist du verrückt?‘ sagte die Mutti. ‚Du weißt doch genau, wo die arbeitet. Wie kannst du dich mit der treffen?‘ Und da hast du zum einen diese große Anerkennung und auf der anderen Seite aber: bloß nicht zu nahekommen. Da war ich sprachlos."
Im Erzgebirgsklinikum starben im Winter weit über 100 Patienten an oder mit Corona. Eine große Belastung für alle, die beteiligt sind.
"Wir sind es schon gewohnt, als Arzt Todesbescheinigungen auszustellen. Das gehört nun leider einmal auch zu diesem Beruf dazu", sagt der Oberarzt und Leiter der Notaufnahme, Mario Stumpfel.
"Aber wenn sich eben dann die Formulare auf dem Schreibtisch am Morgen stapeln oder nebeneinander liegen und das Pflegepersonal dann entsprechend sehr betroffen ist, dass unter Umständen mehrere Patienten am gleichen Tag verstorben sind, dann ist das schon eine Ausnahmesituation, die dann auch psychisch belastend ist."

Jetzt droht die dritte Welle

Nach all diesen Erfahrungen blickt der Oberarzt Mario Stumpfel mit Sorgen auf die kommenden Wochen. Die dritte Welle rollt an, die Pandemie ist wieder auf dem Vormarsch. Auch im Erzgebirge:
"Wir dürfen nicht vergessen, dass wir auf einem hohen Ausgangsniveau sind, auch hier im Landkreis, was die Infektionszahlen betrifft. Und wenn das in Kombination mit aggressiveren Virusmutationen und auch einer nachlassenden Sorgfalt der Bevölkerung einhergeht, dann kann diese Konstellation drastische Folgen haben, sodass wir schon sehr besorgt sind, was die nächsten Wochen bringen werden."
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