In dieser Podcast-Folge der Weltzeit hören Sie auch, wie Venezuelas Nachbar Guyana nach Ölfunden mit Hilfe der US-Firma Exxon zu großem Wohlstand kommen will.
Mut zu ungewöhnlichen Maßnahmen
32:45 Minuten
In El Salvador gibt es Strom, Gas, Wasser und Telefon die nächsten Monate umsonst. Wer hamstert, wird bestraft. Das Gesundheitssystem in Venezuela droht in der Krise komplett zusammenzubrechen, aber Kuba hilft. Lateinamerika steht Kopf.
Der weitgehend unbekannte Präsident El Salvadors, Nayib Bukele, macht in der Coronakrise internationale Schlagzeilen. In einer Rede an die Nation hat er diese Woche verkündet:
"Wir legen ab sofort eine Preiskontrolle fest. Reis, Bohnen, Eier, Milch, Huhn – alles was nötig ist – unterliegt ab sofort einer Preisbindung, damit die Menschen in unserem Land versorgt sind. Ich sage allen Unternehmern – guten wie schlechten – wagen Sie es nicht jetzt Preise zu erhöhen, Waren zurückzuhalten und die Krise ausnutzen. Ich versichere Ihnen, wir werden ihre Unternehmen schließen und die Produkte konfiszieren!"
Bukele versprach, all diejenigen, die jetzt Geld in die eigene Tasche wirtschaften, höchstpersönlich ins Gefängis zu verfrachten.
Und er appellierte an die Wohlhabenden in El Salvador:
"Es gibt Menschen, die sind jetzt besorgt, weil sie 10, 15 oder 20 Prozent ihres Vermögens verlieren. Glauben Sie mir, Sie haben so viel Geld, Sie könnten 10 oder 20 Leben leben! Wenn Sie ein Bett brauchen im Krankenhaus, weil Sie zu einer Risikogruppe gehören, wenn Sie nicht mehr atmen können - dann ist es egal, wieviel Geld Sie auf der Bank haben."
Die Ärmsten sind betroffen
Ausgerechnet das kleine, mittelamerikanische Land, das ansonsten nur wegen seiner Jugendbanden und der Migranten Aufmerksamkeit erfährt, hat früh und radikal gehandelt. El Salvador ist komplett abgeriegelt, Präsident Bukele, erst seit 2019 im Amt, verspricht freien Zugang zu Gas, Strom, Wasser und Telefon.
Unser Reporter Burkhard Birke, Experte für Lateinamerika, sieht das positiv: "Alle Volkswirtschaften müssen sich jetzt verschulden, um die Krise abzufangen. Es sind die Ärmsten, die betroffen sind.Ich finde es ist ein sehr mutiger Schritt von Bukele, auch populistisch, aber angemessen, denn die Menschen sind in ihrer Existenz bedroht."
Venezuela ist am wenigsten gerüstet
Das Virus ist inzwischen in allen Ländern Lateinamerikas angekommen und die Zahl der Infizierten steigt - wenn auch langsamer als in Europa. Nicht jedes Land reagiert adäquat, nicht jedes Land ist gleich gut vorbereitet, sagt Burkhard Birke:
"Wenn es ein Land gibt, das am wenigsten gerüstet ist, dann ist es mit Sicherheit Venezuela. Es hat mit den bekannten hausgemachten Problemen zu tun. Das Gesundheitssystem ist schon vor Jahren kollabiert. Schon vor zweieinhalb Jahren, als ich ein Kinderkrankhaus in Caracas besucht habe, gab es keine Seife und kein Desinfektionsmittel mehr, und zwar auf der Ärztetoilette!"
US-Sanktionen belasten das Gesundheitswesen
Unterstützung bekommt Venezuela aus China und aus Kuba. Es sind bereits über 137 Ärzte ins Land gereist, um in der Coronakrise zu helfen. Mehr als ihre Kenntnisse und Erfahrungen können die Kubaner aber auch nicht einbringen. Kuba leidet genauso wie Venezuela unter der Sanktionspolitik der USA.
"Die Medikamentenknappheit und die gesamte Situation im Gesundheitswesen hat sich durch die Sanktionen der USA in den letzten Jahren zusätzlich enorm verschärft."
Die Grenzen zu den Nachbarländern sind inzwischen dicht. Noch bis vor Kurzem konnten sich Venezolaner mit Waren des täglichen Bedarfs in Kolumbien eindecken. Das ist nun vorbei. Auch wie das Gesundheitssystem mit den vielen Venezolanern umgehen wird, die inzwischen fest in Kolumbien leben, ist noch unklar, meint Burkhard Birke.
"Rund zwei Millionen venezolanische Flüchtlinge in Kolumbien haben nur Anspruch auf eine Notversorgung. Was passiert mit denen? Wahrscheinlich werden die kolumbianischen Intensivstationen dann vor die Wahl gestellt, Kolumbianer oder Venezolaner zu behandeln. Ich möchte mir nicht vorstellen, in welche Gewissenskonflikte das Personal dann gerät."
Bolsonaro spricht von einer "kleinen Grippe"
In Argentinien und Chile kommt bald der Winter und man fürchtet, dass die Infektionszahlen dann in die Höhe schnellen. Angst macht auch das unbekümmerte Vorgehen in Brasilien.
"Kolumbien, Peru, Argentinien, Chile haben die Grenzen relativ früh komplett dicht gemacht. Aber was Jair Bolsonaro in Brasilien macht, ist fahrlässig. Er hat gestern noch behauptet, das sei doch alles mit einer kleinen Grippe zu vergleichen. Gott sei Dank haben die Gouverneure teilweise in Eigenregie Schulen und öffentliche Einrichtungen geschlossen."
In ganz Lateinamerika sichert der informelle Sektor das Einkommen der Familien: Straßen- und Marktverkäuferinnen, Imbissanbieter, ambulante Handwerker. Kann man diese Menschen in Quarantäne schicken?
"Das ist das Kernproblem. Viele Menschen müssen täglich Geld verdienen, um zu überleben. Wenn sie zuhause bleiben, haben sie nichts zu essen. Und sie haben auch keinen Anspruch auf Staatshilfe."
Die Oma allein lassen? Ein kulturelles No Go
Die Großfamilie spielt in Lateinamerika im Leben der Menschen eine außerordentlich große Rolle. Man besucht sich täglich, hält ständigen Kontakt und ist füreinander da. Grundsätzlich sind Berührungen im Alltag völlig normal, Umarmungen und Küsse gehören dazu. Eine Kontaktsperre oder gar Quarantäne erfordert ein generelles Umdenken. Burkhard Birke: "Das stellt das Leben der Menschen auf den Kopf."
Und auch die Tatsache, dass kleine Länder wie El Salvador schneller und konsequenter reagieren als große, wie z.B. Brasilien, bringt einiges in Lateinamerika durcheinander. Dazu gehört auch die Rolle Kubas. Kuba hat die höchste Ärztedichte in Lateinamerika - 90.000 für 11 Millionen Einwohner. Schon lange schickt Kuba seine Mediziner und das Fachpersonal ins Ausland. Nun sogar nach Europa. Gerade sind 53 kubanische Ärztinnen und Ärzte und Pflegepersonal in Italien angekommen.
"Italien ist ein Novum, aber Ärzte sind schon lange ein Exportschlager Kubas. Kuba hat auch in der Ebola-Krise geholfen. Das Land hat eine immens hohe Ärztedichte, sehr gut ausgebildetes Personal, auch im Pflegebereich. Es ist ein Zeichen der Solidarität, aber auch Werbung in eigener Sache."