Hasnain Kazim, 1974 als Sohn indisch-pakistanischer Einwanderer in Oldenburg geboren, lebt als freier Autor in Wien. Er schreibt für unterschiedliche Medien. Von 2004 bis 2019 arbeitete er für "Spiegel online" und den "Spiegel", die meiste Zeit davon als Auslandskorrespondent. Im Februar erschien sein Buch: "Auf sie mit Gebrüll!: ... und mit guten Argumenten. Wie man Pöblern und Populisten Paroli bietet".
Social Distancing, eine Reiche-Leute-Idee
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Wo viele Menschen sich wenig Raum teilen, ist Abstandhalten ein Luxus. Und den können sich die vielen Armen, etwa in Pakistan, schlicht nicht leisten. Für sie ist Social Distancing eine absurde Forderung, sagt der Journalist und Autor Hasnain Kazim.
Na klar, denkt man, wenn man hört, man solle Abstand halten zu seinen Mitmenschen. "Social distancing", dieser Begriff setzte sich rasch durch, obwohl er falsch ist, es geht ja um physische, also körperliche Distanz. Sozial sind wir, das ist mein Eindruck, in den vergangenen Wochen eher zusammengerückt. Gut so.
Ich rufe einen Freund in der pakistanischen Hauptstadt Islamabad an. Er betreibt ein kleines Restaurant und kocht dort selbst. Es gehe ihm gut, sagt er. Aber dieses "social distancing", das sei ja wohl wieder so eine typische Reiche-Leute-Idee, schimpft er. Wie, bitteschön, solle sich ein Mensch, der mit zehn oder zwanzig anderen Menschen aus drei, manchmal sogar vier Generationen unter einem Dach lebe, von anderen distanzieren? Wo mehrere sich ein und denselben Raum zum Schlafen, Kochen, Essen und Wohnen teilten? Ein anderer Freund, den ich ebenfalls anrufe, findet, Einkaufen mit Abstand sei ja wohl gar nicht möglich. "Du weißt doch, wie bei uns die Märkte aussehen!", sagt er. Dicht an dicht stehen die Stände, an denen sich Menschenmengen vorbeiwälzen und noch im Vorbeigehen feilschen. "Social distancing", sagt er, "ist das Gegenteil unserer Kultur!"
Nur die Nähe zu anderen sichert den Armen das Überleben
Ich denke über die Worte dieser Freunde nach. In Pakistan leben inzwischen schätzungsweise mehr als 200 Millionen Menschen, ein Großteil davon drängt sich in den Städten. In Indien sind es 1,3 Milliarden, in Bangladesch 160 Millionen Menschen. Und in all diesen Ländern leben viele von umgerechnet weniger als zwei Dollar pro Tag. Geld, das sie durch den Verkauf von Waren oder durch Dienstleistungen wie Schuheputzen verdienen. In diesen Tagen verdienen sie nichts. Kein staatliches Sozialsystem fängt sie auf. Nicht einmal ein Leben von der Hand in den Mund funktioniert, Ersparnisse haben diese Menschen nicht, wie auch? Einzig die Nähe zu anderen Menschen kann jetzt ihr Überleben sichern: Betteln oder das Unterkommen bei Verwandten.
Und wo soll das Geld für Seife herkommen oder gar für Desinfektionsmittel, Produkte, die in Südasien fast genauso teuer sind wie in Europa? Wie soll man sich überhaupt regelmäßig die Hände waschen, wenn Millionen von Menschen nicht einmal Zugang zu fließend Wasser haben? Und Ausgangssperren bedeuten, dass man ein Zuhause hat, in dem man bleiben kann und in dem man Platz hat. Wie soll das funktionieren in Ländern, in denen die Großfamilie das gesellschaftliche Ideal darstellt? In denen also die Erwachsenen für die Kinder sorgen und die Jungen für die Alten? Wo es kaum Kindergärten und Altenheime gibt? In Quarantäne gehen zu können, bedeutet für sie Luxus.
Kein Wunder, dass viele Menschen auf die Forderung nach "social distancing" durchaus fatalistisch reagieren. In Indien springen gläubige Hindus in "Fässer voller heiligem Kuhdung", Hindu-Nationalisten feiern Partys, "bei denen Kuh-Urin getrunken wurde", wie die indische Autorin Arundhati Roy schreibt. All das, glauben sie, schütze sie vor Erkrankung. In Pakistan erzählen mir strenggläubige Muslime, sie würden sich durch keine Ausgangsbeschränkung vom Besuch ihrer Moschee abhalten lassen. "Das Virus kann uns nicht infizieren, da Allah uns beschützt!", erzählt einer.
Hygiene ist auch eine Frage des Geldbeutels
Physische Distanz, das ist nachvollziehbar, ist schwierig in Gesellschaften, in denen das Miteinander von Nähe geprägt ist. Andererseits: In Südasien gehen Menschen unterschiedlicher Religionen und unterschiedlicher Kasten schon seit Jahrhunderten auf Distanz zueinander. Neu ist das Phänomen des "social distancing" dort also nicht, es hat eine traurige Geschichte. Aber wo viele Menschen sich wenig Raum teilen, ist genereller Abstand ein Luxus. Ebenso ist Hygiene sehr wohl auch eine Frage des Geldes. Die Forderungen und Maßnahmen in der Corona-Krise erscheinen vielen Menschen deshalb wie Luxusideen. Gut möglich, dass die Krise in diesen Ländern deshalb noch ungeahnte Ausmaße annimmt. Zumal die Gesundheitssysteme dort schlecht und unsozial sind.
Religion und Spiritualität mögen in Krisenzeiten Halt geben. Gefährlich werden sie aber, wenn sich die Überzeugung durchsetzt, nur der richtige Glaube schütze vor einem Virus, wie es manche predigen. Und wenn religiöse Extremisten den Unmut der Menschen dafür nutzen, Feindbilder zu zeichnen: Es seien "die Reichen", "die Westler", "die Geschäftsleute", "die Touristen", die mit ihrer Reiserei das Virus verbreitet hätten, sagen sie. Und nun müssten die Armen es ausbaden und würden massenweise sterben. Solche Aussagen hört man derzeit von Extremisten unterschiedlichen Glaubens in ganz Südasien. Darin steckt ein wahrer Kern, denn tatsächlich trägt das Reisen dazu bei, die Krankheit zu verbreiten. Aber in Wahrheit ist das natürlich stark verkürzt: Ein Virus breitet sich auch so aus – und macht keine Unterschiede.
Allzu gern greifen die Menschen diese Erzählung von der Krankheit der Reichen auf Kosten der Armen auf, bei der die Reichen nun auch noch Maßnahmen treffen, die sich die Armen nicht leisten können. Eine soziale Distanz wächst lokal und global: die zwischen Arm und Reich.