Coronakrise in Russland

Moskau nach neun Wochen Ausgangssperre

22:05 Minuten
Menschen in der Moskauer Metro.
Trotz strenger Beschränkungen hat die Coronapandemie Moskau hart getroffen. © Imago/TASS/Sergei Savostyanov
Von Christina Nagel und Martha Wilczynski |
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Mehr als zwei Monate waren die Menschen in Moskau von Ausgangsbeschränkungen und Isolation betroffen. In dieser Zeit schnellten die Infektionszahlen in die Höhe und Präsident Putin zeigte sich in seiner politischen Führung überraschend blass.
"Wer weiß, wie lange wir das noch machen können?"
Es ist weniger eine Frage, es ist ein Argument für diesen Spaziergang.
Es ist Sonntag, der 29. März – ein schöner, fast schon warmer Frühlingstag. Mit meiner Freundin, einer der letzten, die ich noch treffe, schlendere ich über den Gartenring – und analysiere die Veränderungen. Weniger Menschen, keine Touristen. Zum Wochenende mussten Cafés und Restaurants schließen, einige Parks und Grünstreifen sind abgesperrt.

Und dann passiert es – Ausgangssperre

Wir laufen durch ein Moskau, dass wir so nicht kennen. Leiser, leerer. Die Stimmung: irgendwie seltsam. Als würden alle darauf warten, dass etwas passiert, es aber gleichzeitig nicht wahrhaben wollen.
Als ich am Abend nach Hause komme, ist es passiert. Eilmeldung:
"Ab Montag strikte Ausgangsbeschränkungen für alle Moskauer" und "Alle Moskauer sind zur Selbstisolation verpflichtet"
Die Eilmeldungen platzen jäh in meinen gerade erst eingeläuteten Feierabend. Das Gemüse bleibt halb geschnitten liegen. Das Nudelwasser kann ich auch wieder ausstellen. Schnell rüber über den Hof – das Studio wieder anwerfen.
Die Meldung zur Lage in Moskau, die ich eben erst geschrieben hatte, ist überholt. Jetzt geht es darum, zu erklären, was es mit der "Selbstisolation" auf sich hat.
Dabei sind die offiziellen Infektionszahlen relativ gering. Russlandweit gibt es zu diesem Zeitpunkt gerade einmal gut 1500 bestätigte Corona-Fälle. Aber die Angst, dass sich das Virus weiter ausbreiten und das russische Gesundheitssystem – so wie in Italien – komplett überfordern könnte, wird seit Mitte März mit jedem Tag größer – vor allem in der Millionenmetropole Moskau. Und so ist es auch der Moskauer Oberbürgermeister, Sergej Sobjanin, der immer wieder mahnt:
"Wir sind erst am Anfang der Kurve. Wir können nur hoffen, dass sie nicht so schlimm wird wie in anderen Ländern. Aber dass es diesen Peak geben wird, davon gehe ich aus. Wir dürfen nicht glauben, dass all das schon irgendwie vorbeigehen wird. Das dürfen wir nicht."
In Rekordzeit werden in Moskau neue Kliniken hochgezogen. Jede Sekunde zähle, betont die Stadtverwaltung. Städtische, aber auch private Kliniken werden umgewidmet. Und auf die Aufnahme von Coronapatienten vorbereitet. Die stellvertretende Bürgermeisterin Anastasija Rakowa gibt Mitte April offen zu: "Das gesamte Moskauer Gesundheitssystem ist in Alarmbereitschaft. Es arbeitet am Anschlag."

"Ich flehe euch an: Bleibt zu Hause!"

Das medizinische Personal – Schwestern Pfleger, Ärzte – ist längst im Dauereinsatz. Es fehlt an vielem. In den sozialen Netzwerken kursieren verzweifelte Hilferufe, die im Mai, auf dem Höhepunkt der Krise, immer dramatischer werden. Schauspieler aus Sankt Petersburg haben sie gesammelt und tragen sie vor – öffentlich.
"Leute! Ich flehe Euch an, das ist ein Schrei aus tiefster Seele! Bleibt bitte zu Hause! Die zweite Welle werden wir physisch nicht überstehen. Es wird niemanden geben, der in der zweiten Welle behandeln kann, weil wir alle am Ende sind. Gott bewahre!"
Baustelle eines temporären Krankenhauses im Expocenter.
In Windeseile wurden temporäre Krankenhäuser für Coronapatienten gebaut, wie etwa hier im Moskauer Expocenter.© Picture Alliance / dpa / Sputnik / Evgeny Odinokov
Eine Liste mit mittlerweile mehr als 300 Namen von Ärzten und Schwestern, die sich infizierten und starben, macht die Runde. Schickale, die auch mich erschüttern. Umso mehr, wenn sie ein konkretes Gesicht, eine Geschichte bekommen. Wie bei dem tschetschenischen Arzt Ramsan, den unsere Fernsehkollegen seit vielen Jahren auch persönlich kennen. Und der nur 37 Jahre alt wurde.
Auch die Rettungsdienste trifft es hart. Videos zeigen, wie vor einem Krankenhaus in einem Moskauer Außerbezirk Krankenwagen in einer kilometerlangen Schlange darauf warten, Patienten mit Coronasymptomen abzuliefern.
Auch das Staatsfernsehen berichtet – man habe gedacht, es sei ein Fake, aber nein:
"Die Bilder sind echt. Unsere Reporter haben mit den Ärzten gesprochen – sie haben es bestätigt."
Zu geringe Kapazitäten, fehlende Schutzkleidung. Immer mehr Notärzte stecken sich an. Den Rettungsdiensten fehlt es zunehmend an Personal.

Putin verordnet "arbeitsfreie Zeit"

Höfe und Bürgersteige werden nun regelmäßig desinfiziert. Auf den Straßen sind nur noch wenige unterwegs. Keine Staus, keine Hupkonzerte. Der Rote Platz, der Alte Arbat, wo sich sonst Touristen drängen, gespenstisch leer. Die Parks verwaist.
Die Infektionszahlen in der Hauptstadt aber steigen weiter. Trotz der Selbstisolation. Und auch trotz der von Präsident Putin Ende März verordneten "arbeitsfreien Zeit", die vorsieht, dass alle, die nicht in systemrelevanten Berufen arbeiten, zu Hause bleiben müssen.
Sergej Sobjanin mit Atemschutzmaske besucht eine Baustelle in Moskau.
Der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin hat das Tragen von Masken und Handschuhen in Öffentlichen Verkehrsmitteln seit dem 12. Mai 2020 durchgesetzt.© Picture Alliance / TASS / dpa / Gavriil Grigorov
Moskaus Oberbürgermeister Sergej Sobjanin, der für seine zurückhaltende Art bekannt ist, geht überraschend in die Offensive. Er kritisiert die wenigen, noch dazu mangelhaften Tests. Spricht von einer hohen Dunkelziffer. Und warnt vor den Konsequenzen, die die Unvernunft einiger Moskauer nach sich ziehen werde.
"Wir haben gesehen, dass ungefähr 20 Prozent der Bürger auf die Bitte, zu Hause zu bleiben, sehr gleichgültig reagiert haben."
Es ist schon fast eine Kettenreaktion: Je schöner das Wetter, umso mehr Menschen sind auf der Straße – umso häufiger drehen Polizeiwagen ihre Runden:
"Achtung! Die Gefahr der Verbreitung des Coronavirus steigt. Gehen Sie nicht ohne triftigen Grund nach draußen. Nur die Einhaltung der maximalen Selbstisolierung kann ihre Sicherheit garantieren."

Glück in der Datscha

Glücklich scheinen nun diejenigen, die eine eigene Datscha besitzen. Ein Häuschen im Grünen außerhalb der Stadt. Ekaterina ist direkt zu Beginn des Lockdowns mit ihrem Sohn und ihrem Neffen rausgefahren – das ist nicht nur erlaubt. Es wird von der Stadt sogar ausdrücklich empfohlen.
Sie schickt uns ein Video von den beiden Jungen, die im Garten herumhüpfen – über mit Kreide aufgemalte Kästchen und Linien.
"Das ist ein Hindernisparcours – nicht nur für Kinder, sondern auch für das Coronavirus. Er ist sehr schwer zu bewältigen. Die Kinder schaffen das – aber das Coronavirus kommt hier ganz sicher nicht durch."
Eine Datscha mit Garten im Dorf Kushki nahe Moskau.
Wer kann, verbringt während der Coronakrise die Zeit außerhalb der Großstadt auf seiner Datscha.© Picture Alliance / dpa / Sputnik / Vladimir Pesnya
Mit sorgloser Landidylle habe diese Flucht ins Grüne wenig zu tun, erklärt Ekaterina. Auch hier habe sie ihre Kontakte stark eingeschränkt – keine Grillfeste, keine Besuche bei den Nachbarn. Zwar sei es schön, in der Natur und nicht eingeklemmt zwischen seinen vier Wänden zu sein…
"...aber dafür kann die Familie nicht zusammen sein. Weil einige von uns gezwungen sind, in der Stadt zu bleiben. Sie müssen arbeiten und das Internet hier ist nicht sehr gut."
Und das Internet ist in diesen Tagen wichtiger denn je. Ob für Konferenzschalten mit dem Arbeitgeber oder Freunden, für Bestellungen bei Lieferservices oder das Abrufen von Filmen und Fitnessprogrammen.
Und natürlich für das Beantragen von QR-Codes. Mitte April führt die Stadt Moskau elektronische Passierscheine ein. Wer mit Bus, Bahn, Auto oder Taxi irgendwo hin will, braucht eine Genehmigung der Stadt. Der erste Tag, an dem dies auch kontrolliert wird, wird zur Katastrophe. Der Rückstau auf den Einfallstraßen nach Moskau gewaltig. Die Autofahrer schimpfen: "Keiner kommt da schnell durch… ein verdammt langer Stau. Alle wollen nach Moskau!!"
Noch schlimmer: die Situation in der Moskauer Metro. Vor den Kontrollen bilden sich lange Schlangen. Dicht an dicht stehen die Leute da. Die Stimmung, das zeigen zahlreiche Handyvideos, ist angespannt.
"Hier steht ein Polizist mit einem Gerät, mit dem er die Genehmigungen ausliest. In der Schlange stehen jetzt 100/150 Leute!"
Viele, die hier standen, berichten später davon, positiv auf das Virus getestet worden zu sein.

Masken, Handschuhe, Kunststoffvisier

In Moskau gibt es lange keine Maskenpflicht. Trotzdem sehe ich auf der Straße nur noch wenige und in meinem Supermarkt kaum noch jemanden ohne. Einige Kunden erscheinen sogar in einer Art skurriler Vollmontur – mit Schutzbrille, Handschuhen. Aber auch die Verkäuferinnen rüsten immer weiter auf. Irgendwann tragen sie zusätzlich zu ihrem Mund-Nasen-Schutz auch noch ein Kunstoffvisier vor dem Gesicht.
Auch ich bin dazu übergegangen, beim Einkaufen freiwillig eine Maske zu tragen. Im Supermarkt auf der anderen Straßenseite bekomme ich an der Kasse dafür etwas sonst eher Seltenes geschenkt: einen freundlichen Blick, ein Danke – und einen Rabatt.
Ein Verkäufer in Moskau mit Handschuhen und Kunststoff-Visier aus Plastik.
Seit Ende Mai gibt es die ersten Lockerungen, Geschäfte und Restaurants dürfen wieder öffnen - doch die Moskauer sind vorsichtig geworden.© Picture Alliance / AA / Sefa Karacan
Viele Moskauer sind vorsichtig geworden. Fast jeder kennt jemanden, der erkrankt ist. Wenn ein Rettungswagen vor dem Wohnblock steht, sind alle alarmiert. Schnell werden im Internet Seiten kontaktiert, die darüber Auskunft geben, wo Coronafälle registriert sind.
Auch vor der Regierung macht Covid-19 keinen Halt. Als einen der ersten trifft es ausgerechnet Putins obersten Krisenmanager: Premierminister Michail Mischustin.
"Sehr geehrter Wladimir Wladimirowitsch, gerade habe ich erfahren, dass mein Coronatest positiv ausgefallen ist. Ich werde mich deshalb in Quarantäne begeben und den ärztlichen Empfehlungen folgen. "
Und Putin antwortet:
"Verehrter Michail Wladimirowitsch, das, was Ihnen jetzt passiert, kann jedem passieren." Er hoffe, der Premier bleibe trotzdem in guter Arbeitsform.

Putin wirkt farblos und delegiert

Präsident Putin wirkt in dieser Zeit fahrig und zunehmend farblos. Präsent ist er dennoch. Die regelmäßigen Videokrisenkonferenzen des Präsidenten werden in ermüdender Länge live im Staatsfernsehen übertragen. Doch auch dabei fällt auf: Er selbst handelt wenig und delegiert erstaunlich viel.
"In dem Zusammenhang werden, gemäß meines Erlasses, den Leitern der Regionen zusätzliche Kompetenzen verliehen. Sie müssen nun für ihre Gebiete optimale Vorsorgemaßnahmen treffen."
Und so dürfen die Gouverneure und Oberbürgermeister zusehen, wie sie Bürger durch die Krise bekommen. Und die vielen kleinen und mittelständischen Betriebe.
Schon die von oben verordneten "arbeitsfreien Wochen" haben viele von ihnen an den Rand des Ruins getrieben. In ihrer Verzweiflung hat sich die Unternehmerin Anastasija Tatulowa, die bis zur Coronakrise erfolgreich eine Restaurantkette führte, persönlich an Präsident Putin gewandt. Von 2000 Angestellten hat sie nur noch 120 halten können – in der hauseigenen Bäckerei
"Und dann kommen die Erklärungen der Regierung: Ihr dürft keinen entlassen, ihr müsst allen Lohn zahlen. Aber wenn kein Geld da ist? Wie soll ich dann zahlen?! Ich habe keinen Maserati, kein Haus in Monaco, keine Jacht. Alles, was ich in den vergangenen Jahren verdient habe, das habe ich in mein Unternehmen gesteckt."
Die Regierung hat Kredite angeboten. Aber auch die müssen irgendwann zurückgezahlt werden. Was sie tun solle, fragt die Unternehmerin leise. Eine Niere verkaufen?

Finanzhilfen kommen nicht an

Die von der Regierung versprochenen Finanzhilfen kämen gerade einmal bei zehn Prozent der Unternehmen an, heißt es im Bericht des Wirtschaftsombudsmanns Boris Titov an den Präsidenten. Und das obwohl mehr als die Hälfte von ihnen angibt, akut in der Krise zu stecken.
Was das heißt, sehe ich jedes Mal, wenn ich zum Supermarkt gehe. Zu dem, der etwas weiter weg ist. Jeder Extraschritt zählt, ein kleines Freudenfest in trauriger Kulisse. Erst vor Kurzem hatten in der Nachbarschaft ein paar neue Läden aufgemacht – eine Pizzeria, ein Café, ein Blumenladen. Jetzt herrscht hinter den Schaufenstern gähnende Leere. Hochgestellte Stühle sind da noch ein gutes Zeichen. Hier und da klebt nämlich schon das "Zu vermieten"-Schild an der Scheibe.
Mitte Mai gibt es so gut wie jeden Tag einen neuen, traurigen Rekord. 5000, 6000 Neuinfektionen – allein in Moskau. Der Druck auf die Stadtverwaltung steigt: Einerseits gibt es mehr schwer Erkrankte denn je, was für strikte Quarantäneregeln spricht, andererseits drängt die Wirtschaft auf Lockerungen.
Zwei Personen mit Schutzmaske stehen in einem Park in Moskau und unterhalten sich.
Seit 1. Juni dürfen die Menschen unter Auflagen wieder die Parks in Moskau besuchen.© imago images/TAR-TASS/Artyom Geodakyan
Als Ende Mai die Zahl der Neuinfektionen endlich langsam zurückgeht, gibt Bürgermeister Sobjanin grünes Licht: Auf Baustellen und in Großbetrieben darf die Arbeit wieder aufgenommen werden.
"In der vergangenen Woche hat sich dadurch die Zahl der Personen, die den öffentlichen Nahverkehr nutzen, um fast eine Million erhöht. Können Sie sich das Ausmaß vorstellen? Das war keine einfache, sondern eine kardinale Entscheidung."
Dann dürfen Bürgerbüros öffnen. Einzelne Krankenhäuser dürfen wieder in den Regelbetrieb gehen. Schönheitssalons und Fitnesscenter bleiben zu. Ebenso Cafés, Restaurants und Bars. Aber:
"Ab Montag, den 1. Juni, ist das vielleicht Begehrteste erlaubt – spazieren gehen in unseren Parks, Grünanlagen, auf den Straßen. Aber natürlich sind auch hier einige Einschränkungen erforderlich."

Das größte Glück – Spazierengehen nach Plan

Die Moskauer Bevölkerung wird in sechs Gruppen eingeteilt. Über einen Plan ist geregelt, wer an welchen Tagen zwischen 9 und 21 Uhr spazieren gehen darf, damit nicht alle auf einmal nach draußen strömen.
Mein Wohnhaus ist Gruppe 3 – das heißt, wir dürfen in der ersten Woche am Dienstag, Donnerstag und Samstag raus, in der Woche darauf am Mittwoch, Freitag und Sonntag. Aber nur mit Maske. Nach neun Wochen zu Hause fühlt sich diese Ankündigung trotz alledem an, wie Weihnachten und Geburtstag in einem.
Alle hier eint die Hoffnung, dass dies der Anfang vom Ende der Beschränkungen ist. Dass die Zeiten, in denen der Gang zum Müllcontainer das Highlight des Tages ist, bald vorbei sein werden. Dass die Stadt wieder zu dem wird, was sie war: eine laute, lebensfrohe und etwas verrückte Metropole!
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