Coronakrise und Klimawandel

Es ist Zeit für mehr Gemeinsinn

08:26 Minuten
Illustration von fünf Personen, die auf einem Tandem fahren.
Gerade in Krisenzeiten sei Gemeinsinn mehr denn je gefragt und zugleich mehr denn je bedroht, erklärt Friedenspreis-Trägerin Aleida Assmann. © Imago / fStop Images / Malte Mueller
Aleida Assmann im Gespräch mit Liane von Billerbeck |
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Die Friedenspreis-Trägerin Aleida Assmann macht sich für mehr Gemeinsinn stark. Dieser müsse als ein sozialer Sinn par excellence wiederentdeckt werden. Nur so sei es möglich, globale Probleme auch zu lösen.
Liane von Billerbeck: Was ist der Gemeinsinn und geht er uns verloren, je länger die Pandemie und die Isolation für viele dauert? Die Literaturwissenschaftlerin und Anglistin Aleida Assmann war bis 2014 Professorin an der Universität Konstanz. Zusammen mit ihrem Mann Jan Assmann hat sie die Debatten um Erinnern und Vergessen geprägt, beide haben 2018 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten.
Beide haben jetzt eine Gastdozentur am Jakob-Fugger-Zentrum der Universität Augsburg, halten dort Vorträge. Aleida Assmann spricht in diesem Kontext über Gemeinsinn. Das ist ein Wort, das ein bisschen ältlich klingt, nach staatlich verordnet. Warum sagen wir nicht Solidarität oder Zusammenhalt, sondern Gemeinsinn?

Ein Begriff, der Ballast mit sich trägt

Assmann: Sie haben völlig Recht, ein Begriff, wenn man ihn wieder aufgreift, muss man erst mal an die Luft halten und durchsichtig machen und ihn auch vielleicht von einigem Ballast befreien, den er mit sich führt. Auf alle Fälle wollen wir ihn von dem Ballast der Volksgemeinschaft befreien. Es gab eine von oben verordnete Form des Gemeinsinns, die vor allem Ein- und Unterordnung bedeutete und eine sehr exklusive und bedrohliche Komponente hatte. Genau das geht natürlich nicht.
Wir knüpfen an eine ganz andere Tradition an. Die gibt es auch. Das ist eher eine des globalen Südens. In Afrika gibt es zum Beispiel die Grundeinstellung, dass der Mensch nur Mensch durch den Menschen wird. Im alten Ägypten gibt es eine sehr schöne Zuspitzung dieses Gedankens, die haben ein Konzept der Mitmenschlichkeit entwickelt, da geht es um die Zähmung des Menschen zum Mitmenschen. Daran möchten wir anknüpfen und den Gemeinsinn wiederentdecken als einen sozialen Sinn par excellence.
von Billerbeck: Gerade in Krisenzeiten ist Gemeinsinn mehr denn je gefragt. Man könnte aber auch sagen, er ist in Krisenzeiten auch mehr denn je bedroht.
Assmann: Genau, er ist nicht nur durch die Krise bedroht, ich würde sagen, er ist überhaupt durch die westliche Kultur bedroht. Diese Kultur hat Gegenbegriffe entwickelt, die auch sehr wichtig sind und ihre Bedeutung haben, aber in der Ausschließlichkeit zur Verkümmerung des Gemeinsinns geführt haben. Damit meine ich solche Werte wie Wettbewerb, Konkurrenz, Autonomie, Singularität des Individuums.
All das trennt den Menschen letztlich von seinen Mitmenschen. Das ist eine kulturelle Schiene, die wir hinter uns haben und die wir auch in einem gewissen Sinne weiterfahren werden. Aber wir können sie nicht unkorrigiert, ungezähmt weiterfahren, da gibt es Korrekturbedarf.
Deswegen bringen wir den Gemeinsinn wieder in die Debatte, der auch eine anthropologische Grundlage hat: Empathie. Jeder Mensch hat die Fähigkeit dazu. Aber die Kulturen müssen auch Milieus entwickeln, in denen sich dieser Gemeinsinn auch weiterentwickeln kann.
von Billerbeck: Aber wenn es um individuelle Ansprüche, Forderungen und Rechte geht, stellt die oft jeder für sich - ich möchte zuerst geimpft werden, ich möchte wieder reisen. Funktioniert Corona hier auch als Brennglas für das, was Gemeinsinn bedroht?

Offene Grenzen sind die DNA der EU

Assmann: Ja, unbedingt, und nicht nur für dieses Ich im Singular, sondern auch das Wir im Plural, das kann genauso exklusiv und kompetitiv werden. Da haben wir die Beispiele vor Augen, auch in der EU, wie zuerst die Grenzen wieder geschlossen wurden und jede Nation vorpreschen wollte. Großbritannien ist ein gutes Beispiel.
Aber wir haben auch gesehen, wie dann das Wiederöffnen der Grenzen in der EU von beiden Seiten unglaublich gefeiert wurde. Man stellte fest: Das ist die DNA der EU, das geht nicht anders als mit offenen Grenzen, mit Schengen. Auch der Stabilitäts- und der Rechtsstaatsmechanismus, das sind neue Dinge, die entwickelt wurden, die die Solidarität der EU eher gestärkt, als sie zerstört haben.
von Billerbeck: Es gibt auch neue Player, was den Gemeinsinn betrifft. Das Internet trägt zur Entfesselung von Hass, Hetze und Gewalt bei. Nun könnte man aber sagen, es sind Menschen, nicht das Internet, die diese Inhalte verbreiten. Das würden sie etwas langsamer, aber auch ohne Internet mithilfe anderer Medien tun.
Assmann: Der Begriff des Zusammenhalts ist inzwischen an die oberste Stelle der politischen Rhetorik gerückt worden. Zusammenhalt ist ein interessanter Gegen- oder Nebenbegriff zum Gemeinsinn, der mehr auf den Widerstand gegen etwas abhebt. Der kann auch durchaus zur Spaltung beitragen, weil jede Gruppe in sich zusammenhält. Das können auch solche Echokammern sein, wie sie das Internet befördert.
Da kommen wir vielleicht mit dem Begriff Gemeinsinn dahin, uns auf das zu fokussieren, was wir gemeinsam haben, und nicht auf das, was uns trennt. Dass uns vieles trennt, ist selbstverständlich, aber die Anstrengung ist umso wichtiger, sich auf das Gemeinsame zu beziehen.
Da möchte ich an die Geschichte des Kalten Krieges erinnern: Der taute mit dem Begriff der gemeinsamen Sicherheit auf. Plötzlich konnte man zwischen den Ostblockstaaten und dem Westen ein neues Konzept entwickeln, die Mauer bekam Löcher. Etwas dieser Art haben wir heute wieder nötig.
Die Coronakrise ist, wenn man so will, überhaupt nur die Generalprobe für einen weiteren globalen Ernstfall, nämlich die Klimakrise. Auch hier geht es darum: Wir müssen uns ein neues Konzept suchen - vielleicht das der gemeinsamen Verantwortung - und uns daran erinnern, dass wir das nur bewältigen können, wenn wir das gemeinsam tun.
von Billerbeck: Diese Probleme können wir nur global lösen.

Karl Jaspers: "Wahr ist, was uns verbindet"

Assmann: Ganz genau. In diesem Sinne möchte ich auch noch mal an den Satz von Karl Jaspers erinnern, der gesagt hat, "Wahr ist, was uns verbindet". Also eben nicht, was uns trennt. Das ist nicht die ganze Wahrheit. Wir müssen über diese Grenzen hinweg denken können, damit wir die Menschheit als Überlebensgemeinschaft überhaupt denken, uns vorstellen und dann auch leben können.
von Billerbeck: Trotzdem erleben wir auch, dass der Begriff Gemeinsinn gekapert wird. Denken wir an Parteien wie die AfD, die diesen Begriff für "Wir sind ein Volk" nutzt. Was sagen Sie denen, wie ist da das Verhältnis zum Begriff?
Assmann: Interessant ist, dass die AfD mit dem Begriff des Zusammenhalts arbeitet, nie mit dem des Gemeinsinns. Denn Gemeinsinn heißt, das Wohl der Allgemeinheit im Blick zu behalten, eben auch das Wohl der Nation. Schon das Wohl der Nation ist da nicht mehr dabei, weil gar nicht mehr alle eingeschlossen sind, sondern nur noch die Eigengruppe. Es geht aber genau darum, über diese engen Grenzen der Eigengruppe hinweg zu denken. Genau das wäre das gegenteilige Prinzip.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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