Coronakrise

Was wir vom Erdbeben in Lissabon 1755 lernen können

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Farbiges Gemälde vom Erdbeben in Lissabon: die Häuser brennen und das Meer schlägt hohe Wellen, überall rennen Menschen in Panik.
Zwischen 10.000 und 30.000 Menschen sollen bei der Katastrophe in Lissabon umgekommen sein. Viele stürzten danach in eine Sinnkrise. © akg / Science Photo Library
Überlegungen von Philipp Blom |
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Im Jahr 1755 erschütterte ein Jahrhundert-Erdbeben Lissabon – und das aufgeklärte Denken. Wie konnte ein rationaler, guter Gott so etwas zulassen? Auch Covid-19 kratzt an der Vorstellung von unserer Sonderstellung in der Natur, meint der Philosoph Philipp Blom.
Als ein Erdbeben die Stadt Lissabon an Allerheiligen im Jahr 1755 erschütterte, drängten sich Tausende von Gläubigen in den Kirchen von Lissabon, um der Messe beizuwohnen.
Einstürzende Gebäude begruben zahllose Opfer, fünf Meter weite Risse taten sich im Boden auf und die Kerzen, die in den Mietshäusern zu Ehren der Heiligen angezündet waren, fielen zu Boden und setzten sie in Brand, sodass ganze Stadtteile in Flammen aufgingen.
Die Überlebenden flüchteten sich zum Hafen, wo sie kurz darauf von einem Tsunami verschlungen wurden. Zwischen zehntausend und dreißigtausend Menschen sollen bei dieser Katastrophe umgekommen sein.
Im aufgeklärten 18. Jahrhundert war das Erdbeben von Lissabon auch ein Medienereignis. Innerhalb eines Jahres erscheinen mehr als 3.000 Artikel darüber. Mehr aber noch als das Unglück selbst beschäftigte die Autoren eine Frage: Wie konnte ein guter, allwissender, allmächtiger und vor allem vernünftiger Gott ausgerechnet am Allerheiligentag seine eigenen Gläubigen wahllos und grausam zu Tode kommen lassen?

Tiefe Wunde des aufgeklärten Denkens

Die Debatte um das Erdbeben von Lissabon legte ihren Finger in eine tiefe Wunde des aufgeklärten Denkens, nämlich die Unvereinbarkeit eines rationalen, guten Gottes mit einer Welt voller Grausamkeit und sinnlosem Leid.
Der französische Großdenker Voltaire nahm die Debatte zum Anlass, um sich in seinem Roman "Candide" über die philosophische Schönfärberei seiner Kollegen lustig zu machen. Eine seiner Figuren, Doktor Pangloss, ist trotz verschiedener Schicksalsschläge fest davon überzeugt, dass wir in der besten aller Welten leben. Seine Philosophie hat den Zugriff auf die reale Welt völlig verloren.
Wenn aber die Welt nicht tut, was die Erklärung voraussagt - ist dann die Welt falsch, oder die Erklärung?
Covid-19 hat uns in eine vergleichbare Situation gebracht.
In mehr oder weniger bewusster Anlehnung an die Bibel glauben Menschen gerne, dass sie eine Sonderstellung in der Natur einnehmen, dass für Homo Sapiens irgendwie andere Gesetze gelten, als für andere Tiere. Der Mensch als Krone der Schöpfung, liberale Märkte und Demokratien als Apotheose der Geschichte.
Und dann kommt eine primitive RNA-Kette aus einem Markt in China und zeigt, wie verletzlich wir sind. Sie zeigt auch, wie unentrinnbar wir miteinander über Kontinente hinweg verbunden sind, wie ein völlig banales Virus die hochtechnologisierten globalen Märkte und das soziale und kulturelle Leben der mächtigsten Gesellschaften innerhalb von Tagen stilllegen kann.

Verwundbare, menschliche Körper

Die Angst vor der Ansteckung macht auch spürbar, wie verwundbar menschliche Körper sind. Aus dem freien, rationalen, nach außen hin abgeschlossenen und souveränen Individuum der Aufklärung, der den biblischen Herrn der Schöpfung beerbt, wird ein völlig anderes Wesen: ansteckend, anfällig, verstrickt, widersprüchlich, leicht überfordert.
Hier schließt sich der Vergleich mit dem philosophischen Erdbeben des 18. Jahrhunderts. Eine rationale göttliche Ordnung konnte die Natur nicht abbilden - eine rationale menschliche Dominanz kann es auch nicht. Wie auch in der Klimakatastrophe findet sich die Menschheit nicht über natürliche Prozesse erhaben, sondern ihnen ausgeliefert.
Das Coronavirus erinnert uns daran, dass die Vorstellung vom Menschen als Krönung der Schöpfung eine buchstäblich fromme Fiktion ist. Es zeigt: Wir stehen nicht außerhalb der Natur und nicht über ihr, wir sind mittendrin. Wir sind nicht die Krone der Schöpfung, sondern ein Primat, der vom Aussterben bedroht ist. Auch dieser Einsicht könnte ein philosophisches Erdbeben folgen.

Philipp Blom, 1970 in Hamburg geboren, hat Philosophie, Judaistik und moderne Geschichte in Wien und Oxford studiert. Heute lebt er in Wien, wo er auch für den ORF moderiert. Philipp Bloms Bücher verbinden historische Forschung, philosophische Erkundungen und gelegentlich Belletristik. Seine Werke wurden in 16 Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet.

Philipp Blom, aufgenommen im Oktober 2016, auf der 68. Frankfurter Buchmesse, in Frankfurt/Main (Hessen)
© dpa / picture-alliance / Arno Burgi
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