Drakonische Strafen und Hunger in den Armenvierteln
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"Schießt sie tot!" – Mit diesen Worten hat Diktator Duterte klargemacht, dass er den Lockdown gnadenlos durchsetzen will. Wegen der Ausgangssperre hungern in den Armenvierteln immer mehr Menschen. Versprochene Soforthilfe kommt nicht überall an.
In Tondo, einem Armenviertel der philippinischen Hauptstadt Manila, war ich zuletzt 2016. Geduckte Hütten aus Bambus und rostigem Wellblech habe ich gesehen; Gewirr von Stromkabeln und Wäscheleinen; Hunde und Kinder, die in verrottendem Müll spielten. Jetzt erreiche ich am Telefon Dadecita Libao, eine Mutter von drei Kindern. Niemand arbeitet in Tondo, erzählt sie mir, fast alle haben kein Geld.
"Bei uns in der Siedlung hungern schon einige. Demnächst aber bekomme jede Familie 5000 Pesos, 90 Euro, hat der Barangay Captain gesagt, unser Bürgermeister. 'Passt aufeinander auf', sage ich meinen Nachbarn, 'und betet jeden Tag. Dann müssen wir bald keine Angst mehr haben.'"
Vorläufig haben Filipinos und Filipinas gute Gründe für ihre Angst – nicht nur wegen des Virus, das inzwischen 7000 von ihnen infiziert hat.
Tausende Festnahmen und Folter von "Lockdown-Sündern"
"Schießt sie tot!", ruft der Präsident der Philippinen seinen Sicherheitskräften zu. Lockdown-Sünder sollen sterben – wie Drogendealer, die Rodrigo Duterte zu Tausenden umbringen lässt. Auf Menschen, die den Lockdown verletzen, schieße die Polizei bis heute nicht. Zigtausende jedoch seien schon verhaftet worden, berichtet aus seinem Homeoffice in Quezon City Mario Maderazo, Leiter der Bürgerrechtsorganisation IDEALS.
"Da wurden Menschen willkürlich festgenommen und in Hundekäfige gesperrt. Andere mussten stundenlang in der prallen Sonne stehen. Zwei festgenommene Frauen wurden von Polizisten vergewaltigt. All das geschieht normalen Bürgern. Der Senator Koko Pimentel aber lief überall herum, obwohl er wusste, dass er coronapositiv war. Und bis heute ermittelt kein Staatsanwalt gegen ihn."
Weil Filipinos martialische Gesten mögen, ist Präsident Duterte trotzdem beliebt wie eh und je. Derweil haben vier von fünf Erwerbstätigen in Manila ihr Einkommen verloren. Die von Duterte versprochene Soforthilfe von hundert bis 150 Euro pro bedürftiger Familie ist längst nicht überall angekommen. Und immer mehr Bewohner der Elendsviertel hungerten, erklärt mir am Telefon Professor Randy Tuano, Wirtschaftswissenschaftler an der Ateneo-Universität Manilas. Hunger greife auch deshalb um sich, weil der Lockdown den Nahrungsmittelfluss in die Städte behindert, sagt Tuano.
Lebensmittel kommen oft nicht mehr an
"Viele Lokalverwaltungen haben Straßensperren errichtet, um zu kontrollieren, wer die Region verlässt und wer hereinkommt. Wegen dieser Sperren schaffen es nun viele Nahrungsmittellieferungen nicht mehr in die Städte. Und wir hören von Bauern, die ihre Produkte verschleudern oder sogar verschenken, weil sie sie nicht mehr verkaufen können."
Hinzu kommen coronabedingte Schwierigkeiten beim Reisimport. "Die Philippinen sind ein Nettoimporteur von Reis, unserem wichtigsten Grundnahrungsmittel. Jetzt aber hat Vietnam, unser Hauptlieferant, den Reisexport eingestellt. Diese Nachricht hat große Besorgnis ausgelöst bei unserer Regierung."
Verwandte können kein Geld mehr aus dem Ausland schicken
Für noch mehr Beunruhigung sorgt eine weitere von der Pandemie verursachte Katastrophe: Drei Millionen philippinische Seeleute, Pflegekräfte und Haushaltshilfen arbeiten in Europa und den USA, in arabischen Ländern und Australien. Sie haben ihren Familien 2019 30 Milliarden Euro überwiesen. Hunderttausende dieser Arbeitskräfte würden jetzt entlassen und heimgeschickt, berichtet Mario Maderazo.
"Die Konsumausgaben im Lande werden vor allem mit diesem Geld bestritten. Das heißt: Wenn jetzt weniger Geld aus dem Ausland kommt, ist schon deshalb eine Rezession unvermeidlich. Und viele Leute, die bis vor Kurzem in Übersee gearbeitet haben, werden ihre Häuser nicht abbezahlen können. Sie können ihre Kinder auch nicht mehr auf gute Schulen schicken. Außerdem wird natürlich die Arbeitslosigkeit zunehmen."
Ein Lichtblick: relativ niedrige Staatsschulden
Arbeitslosen- und Bedürftigenhilfe, Überbrückungshilfe für Millionen Händler und Handwerker, teure Reiseinkäufe auf dem Weltmarkt. All das werde extrem teuer für die Regierung Duterte, meint Wirtschaftswissenschaftler Tuano. Doch es gibt Lichtblicke: Die Weltbank hat den Philippinen zwei Milliarden Dollar Nothilfe versprochen. Und: Das Reich der fast 8000 Inseln zählt zu jenen 77 ärmsten Ländern der Welt, für die die G20, die 20 reichsten Industrienationen, soeben den Schuldendienst ausgesetzt haben – vorläufig bis Ende des Jahres.
"Erfreulicherweise sind die Staatsschulden der Philippinen eher niedrig im Verhältnis zu unserem Sozialprodukt. Das heißt: Unsere Regierung könnte mehr Schulden machen. Sie könnte mehr Geld ausgeben, um nicht nur bedürftige Bürger zu unterstützen, sondern auch von der Krise betroffene kleine und mittlere Unternehmen."
Mit Bangen, sagt Professor Tuano, sehe er jetzt der unausweichlichen Lockerung des Lockdown entgegen. Wird es den Philippinen auch dann noch gelingen, einen dramatischen Anstieg der Coronainfektionen zu vermeiden?